Tag 960: Ohne Aufklärung keine demokratischen Entscheidungen

Techniken der Wissenschaftsleugnung (PLURV), Quelle: Skeptical Science

“Die Entscheidung für den Umgang mit Covid trifft niemand einzeln, sondern die Gesellschaft demokratisch. Ob es uns passt oder nicht. In diesem Kontext wirken viele Massnahmen nur noch wenig, man hat sich für die regelmässige Durchseuchung entschieden.”

Molekularbiologe Ulrich Elling, 31.10.22 (Twitter)

Österreich ist im Pressefreiheitsindex 2022 um 14 Plätze abgestürzt und liegt nun auf Platz 31. Seit Pandemiebeginn habe ich durch unzählige Faktenchecks und meine Zitatsammlung ausreichend dokumentiert, dass in Österreich wesentliche Informationen zu Übertragungsrisiko, Erkrankungsrisiko, Zugehörigkeit zur Risikogruppe, LongCOVID und Impfwirksamkeit unzureichend oder falsch an die Bevölkerung kommuniziert wurden. Wie erklärt sich sonst, dass bei Behörden, in Hotels, in der Kirche und sonstigen öffentlichen Gebäuden meist ein obligatorischer Desinfektionsspender steht, aber keine Empfehlung oder Pflicht zum Maske tragen? In steirischen Verkehrsbetrieben wird durchgesagt, sich ausreichend die Hände zu desinfizieren, weil das Virus über “Tröpfchen” übertragen werde.

Seit Welle zwei höre ich die Frage, warum man nicht einfach mehr Spitalspersonal ausgebildet hat, wenn es so viele Engpässe gibt? Das hat natürlich mit den Arbeitsbedingungen zu tun, mit fehlender Worklife-Balance, Gehältern, aber auch neoliberalen Management, wo es um Wirtschaftlichkeit und Prozessoptimierung geht, und übersehen wird, wie wichtig das persönliche Gespräch zwischen Arzt, Pflegekraft und Patient für den Genesungsverlauf ist. Zudem herrscht die irrige Annahme, dass man die Infektionswellen mit größeren Kapazitäten besser bewältigt hätte. Ich nenne dann als Beispiel oft das Gesundheits- und Tourismusministerium, die im Sommer 2021 der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) den Auftrag gaben, zu modellieren, wie viele Infektionen man zulassen könne, bis die Intensivstationen kollabieren. Selbst wenn man aus Osteuropa oder Asien quasi über Nacht hunderte Pflegekräfte eingeschifft hätte, um die Kapazitäten zu erweitern, hätte man höchstens eine noch höhere Welle toleriert, damit die Wirtschaft ungestört brummen kann, und hätte dann genauso in den Lockdown gehen müssen.

In Summe fehlt es in Österreich an Medienkompetenz, wissenschaftlichem Verständnis (v.a. Statistik, relative und absolute Zahlen) und Fehlerkultur, (selbst)kritischem Hinterfragen von gemachten Aussagen und Einschätzungen. Wer auf Basis von Desinformation Entscheidungen trifft, die das Gemeinwohl ignorieren, der handelt nicht demokratisch.

In der schweizerischen Bundesverfassung steht in der Präambel “Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen”. Gesundheitsminister Rauch und das Kabinett Kogler haben wiederholt die Schweiz als Vorbild für die österreichische Pandemiepolitik herangezogen.

Der Leitsatz in der Präambel wird in der Schweiz mit Füßen getreten, wie Michael Wiesmann hier ausführt. In Österreich gibt Rauch nicht einmal vor, sich an diesen zu halten, sondern legitimiert die menschenverachtende Geisteshaltung der Maßnahmengegner, Maskenverweigerer und Verschwörungsideologen:

“Trotzdem kann ich die Maßnahmenplanung nicht ausschließlich daran ausrichten, was für die am meisten gefährdete Gruppe gerade notwendig ist” (Minister Rauch im Standard-Interview, 10.03.22)

Was der Bevölkerung bis heute verschwiegen wird:

1. Wie stark sind Kinder wirklich betroffen?

Die aktuellen Übersterblichkeitsdaten zeigen, dass alle Altersgruppen von Übersterblichkeit betroffen sind – auch Kinder und Jugendliche, die nach Meinung der PolitikerInnen, vieler Wissenschaftler und vor allem Kinderärzten das “kleinste Risiko” aufweisen.

Übersterblichkeit bei Kindern und Jugendlichen von 0-14 Jahren, Quelle: Euromomo, letzter Stand Woche 43, 2022

Im ersten Pandemiejahr mit Lockdowns, Distance Learning und Maske tragen auch im Unterricht sind weniger Kinder gestorben als in den Vorjahren. Auch Influenza und RSV wurden auf ein Minimum reduziert. Im Sommer 2021 wurden die Maßnahmen weitgehend aufgehoben. Im vergangenen Winter wurden Schulen nicht mehr geschlossen und die Übersterblichkeit war vor allem in der DELTA-Welle hoch. Seit Übernahme der OMICRON-Varianten und Wegfall fast aller Maßnahmen ist die Übersterblichkeit anhaltend hoch. Wenn die Immun-Debt-Hypothese ein Körnchen Wahrheit hätte, müssten dann die Kinder nicht bereits im Winter 2021/2022 weitgehend durchimmunisiert worden sein, sodass es heuer nicht mehr Infektionen als in früheren Wintern geben würde? Das Gegenteil ist der Fall. Jedes Elternteil sieht das derzeit mit eigenen Augen. Viele Kinder hatten schon mehrfache Covid19-Infektionen und sind daher immungeschwächt, nicht immungestärkt. Covid19 kann Autoimmunerkrankungen wie Asthma, Zöliakie, Diabetes 1 sowie schwere Hepatitis auslösen. Covid19 verschlechtert bestehende Grunderkrankungen, das betrifft natürlich auch chronisch kranke Kinder. Wir können nur vermuten, dass eine vorhergehende Covidinfektion nichts gutes bedeutet, wenn man sich danach mit Influenza infiziert – Co-Infektionen erhöhen jedenfalls das Risiko für schwere Verläufe (Swets et al. 2022).

Wer überdies glaubt, LongCOVID beträfe nur Einzelfälle, dem lege ich nahe, dem Twitteraccount @longcovidkids zu folgen. Der Eindruck täuscht.

2. Wie überlastet ist das Gesundheitssystem wirklich?

“Ich bin in Brasilien aufgewachsen und kenne die chaotischen Szenen in den Spitälern in São Paulo. Dass solche Zustände auch in Zürich möglich sind, ist sehr enttäuschend. Man merkt dem Personal an, dass es stark überlastet ist, und das tut einem leid.»

Wieder am Beispiel Kinderambulanzen – es sieht katastrophal aus.

Derartige Berichte habe ich aus zahlreichen Staaten gelesen, die auf Durchseuchung gesetzt haben, egal ob Kanada, Frankreich, Deutschland, Schweiz, Österreich oder England.

Für Erwachsene sieht es nicht besser aus: Wie oben geschrieben: Personalmangel, Bettensperren, Stationsperren, LongCOVID/Burnout, Dauerstress durch anhaltende Infektionswellen, ständig verschobene geplante OPs. Lange Wartezeiten auf Facharzttermine für LongCOVID-Betroffene. Mein Eindruck und meine Erfahrung ist, dass viele gesunde Erwachsene das Ausmaß der gesundheitlichen Mangelversorgung nicht glauben oder begreifen können, bis sie es nicht selbst am eigenen Leib erlebt haben. Wie sollte es auch anders sein – es wird ja nicht ausreichend deutlich darüber berichtet.

3. Wer zählt eigentlich zur vulnerablen Gruppe?

Mit Übergewicht und häufig damit einhergehenden Grunderkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes und Herzkreislauf-Erkrankungen zählt man bereits zur Risikogruppe. Sind alle anderen daher unverwundbar? Nein. Unterschätzt wird bereits die Gruppe der immungeschwächten Patienten, wo neben dem Lebensalter auch vorhergehende Krebserkrankung, Organtransplantion oder Autoimmunerkrankung und lebenslange Medikamenteneinnahme eine Rolle spielen. Mit dem Aufkommen der neuen Varianten wirken die bisher zuverlässigen therapeutischen Antikörper wahrscheinlich nicht mehr.

Wenn das Attribut vulnerabel fällt, dann meist in Zusammenhang mit “schwerem Verlauf” und “Überlastung der Intensivstationen”. Viele hochbetagte Menschen kommen aber gar nicht auf die Intensivstation, sondern sterben auf den Normalstationen. Darüberhinaus leben viele vulnerable Menschen eben nicht im Pflege- und Altenheim, sondern haben normale Berufe wie andere auch, sind Elternteil und nahmen vor der Pandemie selbstverständlich am Leben teil. Sie ließen sich regelmäßig impfen und mussten im Winter wegen der Influenzawelle mehr aufpassen als andere, aber hatten das restliche Jahr ein weitgehend normales Leben. Mit dauerhaft hohen Infektionszahlen und allgegenwärtigem Risiko ist das Leben von vulnerablen Menschen, die mitten im Leben stehen und denen man ihre Erkrankung nicht immer ansieht, aber weit weg von normal.

Nach Klein et al. (2022) sind niedrige Cortisolwerte der stärkste Hinweisgeber für LongCOVID-Risiko und -Schwere. Cortisol wird in der Nebennierenrinde gebildet. Eine Unterfunktion macht sich durch niedrigen Blutzuckerspiegel, Natriummangel, Übelkeit, Fatique, Frösteln/Frieren, Muskel-, Gelenk- und Knochenschmerzen bemerkbar. Auch häufiger Harndrang in der Nacht ist typisch. Ursachen sind u.a. Störungen/Erkrankungen der Hypophyse (Hirnanhangsdrüse), Bluthochdruck- und Herzschwächemedikamente, Schädigungen der Niere nach Dauertherapie mit Schmerzmitteln, bei immunsupprimierten Patienten etwa nach einer Krebsbehandlung oder Organtransplantation, sowie Erkrankungen der Niere selbst.

Wie man sieht, gibt es eine Menge möglicher Risikofaktoren für LongCOVID – ob man selbst anfällig ist, weiß man oft erst nach der Infektion. Will man sich dieses Russisch Roulette nicht lieber ersparen? Insbesondere wenn man sieht, wie die Betroffenen dann durch alle sozialen Netze fallen und ihr körperliches Leiden als psychosomatisch abgeschasselt wird? Für mich ist das der Hauptgrund, eine Infektion weiterhin zu vermeiden. Wenn wir genügend Anlaufstellen, wirksame Medikamente und Therapien hätten oder mit großer Gewissheit von einer vollständigen Genesung ausgehen könnten, würde ich wohl etwas mehr Risiko eingehen, aber nach aktuellem Stand verzichte ich gerne auf den Selbstversuch.

4. Was bedeutet ein endemischer Zustand mit derartigen hohen Infektionszahlen auf lange Sicht?

China fährt immer noch das Modell ZeroCovid und sagt: “In zehn Jahren wird LongCOVID den Westen in die Knie zwingen, weil der Großteil seiner Arbeitskräfte dadurch dezimiert wird.”

Was ist unsere Antwort darauf? Schlichte Gehirne sagen, wir können nicht ewig Lockdown machen. Schlaue Gehirne sagen, wir brauchen bessere Impfstoffe, die die Infektion verhindern, z.B. nasale Impfstoffe (Mao et al., 27.10.22). Bis zu deren Entwicklung brauchen wir effektive Maßnahmen wie FFP2-Masken und saubere Luft. Sind die Infektionswellen erst einmal unter Kontrolle, kann man die Masken in Niedriginzidenz-Zeiten weglassen, aber die saubere Luft kommt uns langfristig zu gute.

Das könnte ich jetzt noch unendlich weiterführen, möchte aber aus Zeitgründen noch auf das aktuelle Interview im STANDARD mit Molekularbiologe Ulrich Elling eingehen:

*

Elling: Wir haben jetzt eine Phase des Verschnaufens. Die neuen Wellen wärmen sich gerade auf. Sie brauchen noch ein paar Wochen, aber dann wird es weit aufwärtsgehen mit den Infektionszahlen. Wir erwarten Virusvarianten, die nach jetziger Datenlage den Immunschutz noch deutlich besser umgehen. Schwerere Krankheitsverläufe werden zum Glück wohl nicht erwartet.

Als Leser bleibe ich jetzt verwirrt zurück. Wie passt das zusammen? Und wenn man sieht, dass bei den neuen Varianten sowohl der vorbeugende Antikörpercocktail Evusheld als auch die therapeutischen Antikörper nicht mehr in der Lage sind, das Virus zu neutralisieren, was heißt das für immunsupprimierte Menschen?

Elling: Wir wissen aus einer Studie von Komplexitätsforscher Peter Klimek und seinem Team, dass das Wetter einen enormen Einfluss auf die Inzidenz hat. Draußen ein Grad weniger bedeutet eine Steigerung der Reproduktionszahl R, die besagt, wie viele Menschen eine infizierte Person im Mittel ansteckt, um zwei Prozent. Immer, wenn die Schulen aufmachen, gibt es ein sprunghaftes Ansteigen der Kontakte. Die Kinder sind in der Schule, die Eltern in der Arbeit. Darum gibt es im September gern eine Welle. Heuer hatten wir einen eher regnerischen September, und danach war es wieder trocken und sonnig. Das ist ein Grund dafür, warum wir jetzt eine Pause haben. Der zweite Grund ist: BA.5 ist im Grunde genommen “fertig”. Wir können davon ausgehen, dass wir die BA.5-Fälle um bis das Dreifache unterschätzt haben – aufgrund der wenigen Tests wurden viele Infektionen nie registriert. So ist mit über zwei Millionen BA.5-Infektionen eine Durchseuchung in der Bevölkerung erreicht. Zwischen dem Öffnen der Schulen Anfang September und dem echten Beginn der Herbst-Winter-Welle ging sich also im Oktober eine Pause aus.

Warum man sich gerade jetzt wiederholt auf die Studie von Lebedur et al. bezieht, ist interessant, denn sie wurde im April 2022 veröffentlicht mit Bezugsraum Juli 2020 bis Mai 2021, also zur Zeit des Wildtyps, ALPHA und DELTA. Die Infektionswellen von BA.1, BA.2 und BA.5 sind darin also nicht erfasst. Die BA.1-Welle erreichte in Südafrika im Sommer ihren Höhepunkt, die BA.5-Welle wurde bei uns im Sommer 2022 durch die Ferien unterbrochen und hat sich mit Schulbeginn fortgesetzt. Auch im ersten und zweiten Pandemiesommer begannen die Wiederanstiege wenige Wochen nach dem Wegfall der Maßnahmen noch im Frühsommer.

Am 21. Juni 2022 klang Elling noch anders:

„Sowohl die Gesellschaft als auch die Politik hängt dem Irrglauben an, dass es sich bei der Corona-Pandemie um eine saisonal auftretende Krankheit handelt. Der Genetiker nannte es eine geradezu absurde Strategie, sich mit einer
potenziell tödlichen Krankheit zu infizieren und so einen Immunschutz gegen diese potenziell tödliche Krankheit aufzubauen.
„Es herauszufordern bringt nichts.“ Im Gegenteil, Ziel müsse es sein, die Zahl der Infektionen bei jeder Welle möglichst gering zu halten – „und Vulnerable bitte gar nicht“. Was die Politik hingegen macht, sei, darauf zu hoffen, dass eine
Durchseuchung im Sommer die Welle im Herbst kleiner macht. „Das geht aber nur auf, wenn die Virusvariante im Herbst der im Sommer sehr ähnlich wäre“, gab Elling zu bedenken. Und dass das so ist, sei nicht gesagt.”

Nun haben wir den Fall ähnlich wie im Vorjahr, dass wir zwar mit der gleichen Variante in den Herbst gestartet sind, wie wir in die Ferien hineingingen, aber eben neue Varianten bereits am Horizont ersichtlich sind, die BA.5 im Hintergrund bereits verdrängen und ab November übernehmen werden. Man könnte es auch umdrehen: Wenn wir weiterhin stringente Maßnahmen hätten, wäre die Herbstwelle noch kleiner ausgefallen und die Ausbreitung der neuen Varianten würde sich verlangsamen. Gleichzeitig hätte man mit einer ernsthaften Boosterkampagne auch bei den U15 (die Impfung ab 6 Monate ist jetzt auch zugelassen) die Übertragungsraten vor allem in den Kindergärten und Schulen noch weiter verhindern können – unabhängig vom Wetter.

Elling: Es war klar, dass sich die BA.5-Welle in den Krankenhäusern “ausgeht”, also zu keiner systemkritischen Überlastung führen würde. Die Politik hat gehofft, dass die Spitze der Welle die Krankenhäuser nicht überlastet – und sie hofft weiters, dass die BA.5-Welle eine gewisse Immunität für die neue Welle bringt.

Gegenfrage: Ab wann herrscht in den Krankenhäusern eine Überlastung? Die Politik richtet es sich schon zurecht, wie es aus braucht. Bei Covid wird nur auf Intensivstationen geschaut – betrifft es dann die Normalstationen, schaut man aufs Personal. Auf der anderen Seite wird man nicht müde zu betonen, dass es auch anderes außer Covid geben würde, aber wenn die Regelversorgung nicht mehr rund läuft, dann ist man wieder auf Covid fixiert. Statt das Narrativ der nicht stattgefundenen Überlastung zu stützen, sollte auch auch Herr Elling einmal mit Pflegekräften, Ärzten in und außerhalb des Spitals reden. Denn die niedergelassenen Ärzte müssten derzeit die im Spital abgewiesenen Patienten “auffangen”.

Mit zwei Millionen Infizierten, aber weit weniger Personen, die sich mit dem aktuellen Impfstoff geboostert haben, hofft man auf einen dämpfenden Effekt im Winter. Wie vorher besprochen, die aktuellen Labordaten legen aber leider nahe, dass der Schutz vor Ansteckung mit den neuen Varianten weit weniger effizient ist als erwartet. Darum bleibt die Maskenpflicht quasi noch im Köcher. Das Ministerium hebt sich die Maske als “Trumpf” auf. Wenn es drauf ankommt und die nächste Welle droht, noch höher zu steigen und die Krankenhäuser zu sehr zu belasten, wird man sie vermutlich ziehen. Ich halte es aber für problematisch, dass niemand aus der Regierung erklärt, was das Kalkül für diese Entscheidungen ist. Die Leute fühlen sich im Regen stehengelassen.

Gut, dass er es anspricht, ich halte es aber noch viel für problematischer, dass man die Gesundheitsversorgung ununterbrochen aufs Spiel setzt und sich an den falschen Messgrößen orientiert, wie übrigens von Infektiologe Greil schon in der DELTA-Welle mehrfach moniert wurde.

Nächster Absatz, ohje:

Elling: Zur Maskendebatte muss man wissen, dass ein Drittel der Ansteckungen im Haushalt passiert und ein weiteres Drittel in der Schule und im Beruf. In diesen Bereichen kann man Ansteckungen realistischerweise kaum verhindern. Das dritte Drittel ist der einzige Bereich, den man effektiv beeinflussen könnte, und das ist alles, was mit Freizeit zu tun hat.

Geh bitte, das Virus gelangt nicht über den Abfluss in den Haushalt. Natürlich kann man Ansteckungen in Schule und Beruf verhindern, mit Homeoffice, und damit nebenbei auch unnötige Autofahrten während der Energiekrise vermeiden, und mit effektiver Frischluftzufuhr in Klassenräumen. Masken schützen natürlich auch Lehrpersonal und Kinder. Das ist tausendfach bewiesen.

Ein Lockdown würde die Reproduktionszahl R um ein Drittel senken, aber der steht nicht mehr zur Debatte, er wäre unverhältnismäßig. Masken als einzige Maßnahmen und nur in gewissen Settings haben also einen minimalen Einfluss auf den R-Faktor. Außerdem tragen viele eh schon Maske, einige würden es sowieso nicht tun. Das bedeutet: Mit konsequentem Masketragen – wie auch immer man das durchsetzt – kann man nur die Spitze der Inzidenzkurve etwas abtragen.

Wenn man vorne herein sagt, es bringt nichts, oder “die Leute halten sich eh nicht dran”, was ich seit dem Sommer 2020 vor allem von Erwachsenen höre, die die Maske als irrationale Bedrohung ihrer Bequemlichkeitstoleranz sehen, dann ist das eine self-fulfilling prophecy. Praktischerweise wurde das Austrian Corona Panel Project abgedreht, mit dem durch Umfragen in der Bevölkerung sehen konnte, dass kurz vor der völligen Maskenabschaffung die Mehrheit noch für Maskenpflicht war. Ebenso hätte eine allgemeine Impfpflicht die Möglichkeit gegeben, ohne Gesichtsverlust impfen zu gehen, wenn man sich sonst in einem mehrheitlich impfgegnerischen Milieu bewegt.

Das ist relevant, wenn eine Überlastung der Spitäler droht und auch wenn es in der kritischen Infrastruktur eng wird. Deshalb sind Masken am Arbeitsplatz auch sinnvoll, dann fallen Mitarbeiter einer Abteilung nicht gleichzeitig aus. Aber die Gesamtzahl an Infizierten ändert man mit Masken eigentlich kaum noch.

Es geht da vor allem darum, andere nicht anzustecken, die dann LongCOVID bekommen können, oder die selbst vulnerabel sind oder vulnerable Angehörige haben. Und jede hinausgezögerte Infektion ermöglicht eine weitere Auffrischimpfung und damit ein neuerlich reduziertes Risiko für schwere Verläufe oder LongCOVID.

Mit Masken können wir keine Wellen mehr brechen, sondern nur beeinflussen, wo in der Bevölkerung Infektionen stattfinden. Deshalb sind Masken am “Flaschenhals”, wo alle Menschen durchmüssen, etwa im öffentlichen Verkehr oder im Spital, sinnvoll. Dort gäbe es sonst zu viele unsteuerbare Infektionen bezüglich Vulnerabilität.

Masken sind für alle Menschen sinnvoll. Punkt. Auch im Hinblick auf die Influenzawelle, die in Australien und USA früh begann. Der Schutz durch die Influenzaimpfung hält aber wahrscheinlich nicht bis zum Ende der Influenzawelle an, was immungeschwächte Menschen vor ein Dilemma für den richtigen Impfzeitpunkt stellt. Masken würden auch die Influenzawelle verkleinern und verkürzen.

Aber ansonsten kann das jeder und jede für sich entscheiden, ob er oder sie sich individuell mit einer Maske schützen will.

Kinder können das nicht. Und mal ehrlich, in einem wissenschafts- und maskenfeindlichen Umfeld, das von der Regierung aktiv unterstützt wird, ist der soziale Druck immens, sich trotzdem eine Maske aufzusetzen. Ausgeschlossen vom sozialen Leben ist dann trotzdem, also in der Gastronomie, bei Feiern und Festen, bei allen Indoor-Aktivitäten, wo Masken keine Option sind. Dafür bräuchten wir niedrige Inzidenzen und tolerierbare Risiken.

Elling: Wenn wir uns die Todesstatistiken ansehen, dann stirbt man in dem Alter an vielem, aber nicht an Covid. Das Long-Covid-Risiko betrifft natürlich auch diese Gruppe, aber Studierende hatten und haben wie Kinder tatsächlich das kleinste Risiko, aber sie haben eine wahnsinnige Bürde getragen in der Pandemie und werden den daraus resultierenden Schuldenberg erben. Ja, viele haben Bezugspersonen verloren, sind aber selber sehr selten zu Schaden gekommen. Es stellt sich viel eher die Frage, ob sie nicht die größeren Schäden durch verlorene Bildungschancen et cetera erlitten haben.

Da sind wir wieder beim Thema Statistik und relative/absolute Zahlen. 1% LongCOVID-Risiko bei Kindern sind dennoch tausende Betroffene in Österreich, die Übersterblichkeit bei Kindern und Jugendlichen ist Fakt (siehe oben), die wird man ja wohl kaum durch Lockdowns oder Masken erklären wollen? Wenn ich meine engste Bezugsperson, etwa meine Mutter oder Vater als Kind verliere, bin ich natürlich auch selbst zu Schaden gekommen – zählen die psychischen Folgen und Traumatisierung gar nichts?! Wie kann man das so kleinreden?

Wir haben Schulen und Unis ja nie zugesperrt, um Kinder, Jugendliche und Studierenden zu schützen, sondern die Alten und Ungeimpften. Eine Maskenpflicht würde ich in Unis also nicht in Erwägung ziehen, individuell macht es aber wie überall Sinn, sich zu schützen. Leider sind die Vulnerablen und die Alten in einer offenen Gesellschaft aber schwierig schützbar, und wir unternehmen dahingehend auch zu wenig.

Ja, man hat als versehentlichen Kollateralschaden auch “vulnerable” Kinder, Jugendliche und Studierende geschützt. Ich versteh auch das mit den Studierenden nicht, wo es genauso chronische Krankheiten und Behinderungen gibt wie in anderen Altersgruppen auch nicht. Studierende sind ebenso wenig eine homogene Gruppe wie Schüler, Frauen oder Golfspieler.

Elling: Wenn man ehrlich ist, dann werden wir Wellen nicht mehr durch Maßnahmen beenden, sondern nur durch Durchseuchung. Alle Omikron-Wellen endeten, als Herdenimmunität da war – durch die Geimpften und die Genesenen.

Mit ein paar tausend Toten und zehntausenden LongCOVID-Opfern als totgeschwiegene Begleiterscheinung. Aber was bringt die Herdenimmunität, wenn es ständig neue Wellen gibt und sich vor allem ungeimpfte Kinder mit jeder Welle erneut infizieren?

Wir können mit unserer Politik und den verordneten Maßnahmen im Prinzip nur noch lenken, wo die Infektionen stattfinden, aber nicht mehr, wie viele Infektionen es gibt. Wir sehen zum Beispiel, dass die alten Menschen stark unterrepräsentiert sind bei den Infektionen – sie schützen sich also stark oder werden erfolgreich geschützt von ihrem Umfeld –, aber in den Spitälern sind fast alle Covid-Patientinnen und Covid-Patienten alte Menschen. Die Hospitalisierungs- und Todesfälle werden nicht durch die Gesamtzahl der Infizierten beeinflusst, sondern durch die Älteren und Vulnerablen. Diese zu schützen muss also unser gemeinsames Ziel sein.

Und das kann nicht gelingen, wie schon Drosten gesagt hat, wenn man “focused protection” fährt:

Wenn man auf die Intensivstation schaut, sieht man, dass die durchschnittlichen Patienten um die 60 Jahre alt sind und nicht über 80 Jahre. Die kommen nicht aus Altersheimen. Die kommen aus der normalen Breite der Gesellschaft. Und denen ist nicht geholfen, wenn man die Altersheime abschirmt. Das meine ich mit so einem Blendgranaten-Argument.“ (NDR-Podcast mit Christian Drosten, Nr. 82 ,30.03.21)

Deswegen wärs jetzt mal wichtig, wenn auch Wissenschaftler trotz aller verständlichen Resignation Tachles reden und sagen, wozu dieser falsche Ansatz auf Dauer führt. Aber Österreich, im dritten Pandemie, kriegt auch das immer noch nicht hin. Wir warten, böse gesagt, bis die führenden Wissenschaftler und Mediziner alle selbst LongCOVID haben oder ihre Frauen und Kinder an LongCOVID erkranken, bis sie aus ihrer Friedhofsruhe erwachen und die Tatenlosigkeit der Politik nicht mehr hinnehmen.

Selbst wenn euer Erfolg begrenzt ist, gebt ihr all jenen Hoffnng, die sich immer noch vernünftig verhalten wollen oder müssen. Das hat psychologisch enorm wichtigen Wert. Nicht zuletzt darf man nicht vergessen, dass es hier nicht nur um die Pandemie geht, sondern wie wir uns in der Gesellschaft insgesamt gegenüber Schwächeren und Diskriminierten verhalten wollen. Jede weitere Abstumpfung muss verhindert, zumindest entgegengetreten werden.

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