Die derzeit zehn größten Irrtümer über SARS-CoV2

Pandemieverlauf in Österreich mit 7-Tages-Inzidenz auf der logarithmischen Skala, mit dem Abwassersignal Pi Mal Daumen adaptiert, da die Rohdaten nicht abrufbar sind – eingefügt die Erklärung für jeweiligen Talsohlen sowie wichtige politische Stichtage

Es ist keine wirklich neue Erkenntnis, dass viele Menschen Fakten mit Meinungen verwechseln. Neu ist, dass dies politischer Konsens ist und von den Medien nicht hinterfragt wird. Über den Abgrund der Unwissenschaftlichkeit, die sich weltweit breit gemacht hat, aber vor allem im deutschsprachigen Raum besonders eklatant bemerkbar macht, wusste man schon länger Bescheid. Die Alltagsesoterik, homöopathischen Kügelchen, Granderwasser, Energieplätze und -adern, Schüssler Salze, Bachblüten. Geschäftsmodelle für Apotheken und für Ärzt:innen, die mit Kassenverträgen nicht genug verdienen. Impfskeptische Hausärzte: Projektion auf Patienten, wenn es ums Maske nicht tragen wollen geht, der irrige Glaube, dass regelmäßige Infektionen wichtig für das Immunsystem sein würden.

Wir sind uns hoffentlich einig, dass die Erde keine Scheibe ist, dass die Schwerkraft nicht verhandelbar ist, dass Tote nicht wieder lebendig werden und dass die Wissenschaft nicht still steht, sondern zu den technologischen Fortschritten geführt hat, die uns jetzt Lösungen für Probleme bieten, die wir ohne Fortschritte gar nicht gehabt hätten.

Über Details der Wirksamkeit von Impfstoffen gegen die einzelnen Varianten, dem Evolutionsspielraum der Variantenentwicklung, der exakten Definition von LongCOVID, und der Verlaufsschwere von Folgeinfektionen gehen die Arbeitshypothesen in der Wissenschaft auseinander, über wesentliche Eckpunkte der Pandemie, dass die Impfung Millionen Menschen das Leben gerettet hat, dass Masken schützen, der Hauptübertragungsweg Aerosole sind, dass Schulen der Motor für Infektionswellen sind, dass LongCOVID auch nach milden Verläufen und unabhängig vom Impfstatus auftreten kann, sind sich die Wissenschaftler:innen weltweit einig. Ein Geflecht von Fakten bildet einen Mehrkonsens aus. Nicht eine einzelne Studie, sondern mehrere Studien und systematische Reviews vieler Studien sind entscheidend.

Viele Journalisten reagieren darauf falsch: Sie hinterfragen den Mehrheitskonsens der Wissenschaft, indem sie den Major Consensus Narrative gleich gewichten, also die Mehrheit der öffentlichen Meinung, die durch eine Minderheit an lauten Wissenschaftler:innen, der Mehrheit an Politiker:innen und der gewünschten Meinung innerhalb der Bevölkerung vertreten wird. Das heißt im Klartext: Die Bevölkerung wünscht ein sofortiges Ende der Pandemie und ein harmloses Virus, um sich mit anderen Themen des Lebens befassen zu können. Jegliche nüchterne Fakten und Aussagen, die dem Major Consensus Narrative zuwiderlaufen, werden als “Meinung” geframed.

Fakten sind etwa: Über 22000 Menschen in Österreich sind in Zusammenhang mit einem positiven Covid19-Test verstorben, überwiegend durch Lungen- und Multiorganversagen. Ein kleiner Teil ist mit Covid19-Diagnose verstorben – Covid19 schädigt als Systemerkrankung jedoch die Gefäße und kann bestehende Grunderkrankungen verschlechtern. Ein schwerer Diabetiker, der im Spital zufällig positiv getestet wird, könnte also entgleisenden Blutzucker zur Folge haben und daran versterben. Hinzu kommt die Übersterblichkeit, insbesondere durch Herzkreislauferkrankungen, Lungenembolien und Schlaganfälle, die noch Wochen und Monate nach einer Covid19-Infektion auftreten können. Das sind keine schönen Fakten, aber so sind sie nun einmal.

Ein Experte, Arzt, Journalist oder Politiker (Frauen mitgemeint) kann jetzt seine private Meinung haben, dass er nicht an diese Covid-Fakten glaubt, doch die Zahl der Todesfälle muss erklärt werden können. In der Wissenschaft sucht man nach der wahrscheinlichsten Ursache und nicht nach der bequemsten, die von der eigenen Verantwortung ablenkt. Wann immer die dargelegte Ursache bequem erscheint, sollte man sich fragen, ob der Autor/Überbringer wirklich unabhängig ist oder Interessenskonflikte hat. Die Qualifikation sehe ich als weniger ausschlaggebend. Es gibt auch Menschen, die sich gut in Themen einlesen können und bei Kompetenzüberschreitung auf kompetente Kollegen verweisen, oder ehrlich sagen: “Das weiß ich nicht.”

Die folgende Aufzählung ist weit davon entfernt vollständig zu sein, sie betrifft nur unsere unmittelbare Lebensrealität. Ebenso müsste man wie bei der Spanischen Grippe auch andere Kontinente einbeziehen, nicht nur Europa oder den Alpenraum oder das Land Niederösterreich oder Vorarlberg.

Der Faktencheck erfolgt wieder als Truth Sandwich, das heißt, der Fakt kommt zuerst, dann die Falschaussage, und nochmals ausführlicher der Fakt.

Fakt 1: Die Pandemie ist nicht vorbei.

Die Aussagekraft der behördlich angeordneten PCR-/Antigentests ist mit Vorsicht zu genießen, aber auffallend sind die unverändert hohen Positivraten in den Bundesländern, am höchsten derzeit in Niederösterreich und Kärnten, gefolgt von Tirol und Oberösterreich. Die WHO plädierte für einen Schwellenwert von 5%, ab dem Maßnahmen ergriffen (oder beibehalten, als es sie noch gab) ergriffen werden sollten (mehr zur Aussagekraft von Positivraten).

Behauptung: Die Pandemie sei vorbei, weil die Bevölkerung immun sein würde und kaum noch schwere Verläufe auftreten würden.

Begründung: Pandemie definiert sich nicht aus der Schwere der Erkrankung, sondern aus der Verbreitung. Viele epidemische Wellen gleichzeitig weltweit bedeuten, dass wir uns weiterhin in einer Pandemie befinden.

Die gerade ablaufende XBB.1.5-Welle erreichte die Größenordnung der BA.2-Welle vom vergangenen Spätwinter und war damit deutlich höher als die beiden BA.5-Wellen im Sommer und Herbst und die gemischte-Variantenwelle im Winter.

Nach jeder Variante hörten wir seit ALPHA, dass die Pandemie nun vorbei sein würde. Doch was geschieht tatsächlich? In Indien breitet sich derzeit XBB.1.16 aus, das bei Kindern meist zu milden Atemwegsverläufen führt, in jedem zweiten Fall aber von einer juckenden Bindehautentzündung an den Augen begleitet wird (Vashishta and Kumar 2023). Selbst wenn es für die Kinder in den meisten Fällen glimpflich ausgeht, bleibt die Infektion für die Angehörigen weiterhin eine Gefahr. Immungeschwächte können nurmehr auf den monoklonalen Antikörper Sotrovimab hoffen, andere therapeutische Antikörper wirken nicht mehr (Yamasoba et al. 2023). Wie sich XBB.1.16 auf die Fallzahlen von LongCOVID auswirken wird, wissen wir wie bei jeder neuen Variante erst in ein paar Monaten.

Selbst wenn die Pandemie formal vorbei sein würde, wäre ein endemischer Zustand mit mehreren epidemischen Wellen im Jahr kein Grund zur Freude, im Gegenteil. Das Gesundheitssystem müsste auf die dauerhafte Bedrohung angepasst werden, indem man eine dauerhafte Maskenpflicht in öffentlichen Räumen einführt: Bildungseinrichtungen, Lebensmittelhandel, Amtsgebäude, öffentlicher Verkehr und Gesundheitswesen. Weiters müsste man verpflichtende Luftfilter und Luftqualitätsmessungen (CO2-Sensoren) veranlassen und das niederschwellige PCR-Gratistestangebot beibehalten. Für Risikogruppen müsste es dauerhafte Freistellungen bzw. Homeofficemöglichkeit geben können. Schulungen müssten dauerhaft auch hybrid angeboten werden können, da niemand gezwungen werden darf, sich einem erhöhten Infektionsrisiko auszusetzen. Dies und noch viel mehr wäre notwendig, wenn SARS-CoV2 künftig nicht die Grippe ersetzt, sondern zur jährlichen Grippesaison hinzukommt – allerdings das ganze Jahr über auftretend und ständig hohe Krankheitswellen verursachend.

Fakt 2: SARS-CoV2 ist gefährlicher als die Grippe und andere Atemwegsinfekte

Eine SARS-CoV2-Infektion verursacht mehr als nur Erkältungssymptome. Nach einer Erkältung erleidet man für gewöhnlich keinen Schlaganfall, hat kognitive Einschränkungen, wochenlange Erschöpfung nach Aktivitäten, Diabetes 1 oder Herzschwäche. Ja, nach schweren Infekten (z.B. Influenza oder schwere Verlaufsformen von RSV, OC43) kann man auch Herzschäden erleiden oder Langzeitfolgen haben, das ist aber die Ausnahme.

Behauptung: SARS-CoV2 würde ein normales Erkältungsvirus werden und bräuchte keine Sonderregelung mehr im Epidemiegesetz. SARS-CoV2 würde dadurch von der Meldepflicht ausgenommen werden können.

Begründung: SARS-CoV2 wird im Labor immer noch mit Biosafety Level 3 behandelt (Quelle), steht damit auf einer Stufe wie Gelbfieber, Westnilvirus und Tuberkulose. SARS-CoV2 ist außerdem kein gewöhnliches Atemwegsvirus wie grippale Infekte. Zwar erfolgt der Eintritt des Virus über die Atemwege, insgesamt handelt es sich aber um eine systemische Erkrankung, die die Gefäße im ganzen Körper angreift, auch das Gehirn. Über 200 LongCOVID-Symptome sind bisher nachgewiesen wurden, die Folgen können tödlich sein (Literatur-Übersicht).

Zum unpassenden Grippevergleich: Die Schwere der Grippe wird allgemein unterschätzt und die Impfraten sinken durch die allgemeine Impfskepsis derzeit noch weiter ab. Nun ersetzt SARS-CoV2 künftig aber Influenza nicht, sondern kommt als schwere Erkrankung hinzu (die Abkürzung SARS steht für SEVERE ACUTE RESPIRATORY SYNDROM). Die Sterblichkeit innerhalb einem 30-Tage-Zeitraum im Spital ist bei SARS-CoV2 drei Mal so hoch wie bei Influenza (Mackenzie et al. 2022), OMICRON-Varianten waren eineinhalbfach so tödlich wie Influenza (Portmann et al. 2023), die aktuellste Studie zeigt ein 60% höheres Sterberisiko bei Covid19 als bei Influenza (Xie et al. 2023). Von hospitalisierten Covid19-Patienten entwickeln 30% LongCOVID-Symptome. Bei Influenza ist Long Influenza zwar ähnlich häufig, aber die Symptome sind deutlich anders. Die Auswirkungen von LongCOVID auf das Gesundheitssystem sind höher als bei Long Influenza (Fung et al. 2023).

Selbst wenn die Sterblichkeitsrate (IFR) auf Influenzaniveau absinken würde, gäbe es drei Mal so viel Tote wie bei Influenza, weil derzeit alle vier Monate neue Wellen erwartet werden (Markov et al. 2023).

Fakt 3: OMICRON ist ähnlich schwer wie der Wildtyp und verursacht weiterhin Long COVID und Todesfälle.

In den Medien wird nur ein kleiner Teil der Verlaufsformen einer SARS-CoV2-Infektion thematisiert. Die linke rote Säule wird durch die Impfungen zwar immer kleiner, dafür bleibt der orangenfarbene Teil weiterhin signifikant hoch, wenn es konstant 5-10% der Infizierten betrifft. Die rechte lila Säule gewinnt zunehmend an Bedeutung, wird aber häufig nicht in Zusammenhang mit der Pandemie gebracht.

Behauptung: OMICRON würde nurmehr leichte bis mittelschwere Verläufe verursachen, weshalb Schutzmaßnahmen nun unverhältnismäßig sein würden.

Begründung: Die OMICRON-Subvarianten, welche bisher signifikante Wellen bei uns ausgelöst haben (BA.1, BA.2, BA.5, BQ.1.1, XBB.1.5), sind ähnlich schwer wie der Wuhan-Typ, nur bei Geimpften und erneut Infizierten sind die akuten Infektionen weniger schwer (Wong et al. 2023). Mehrere Studien zeigen, dass das LongCOVID-Risiko bei Geimpften geringer als bei Ungeimpften ist (z.B. Perlis et al. 2022, Nehme et al. 2022), es ist allerdings nicht Null. Darauf deuten auch neue Daten zur Übertragungswahrscheinlichkeit bei OMICRON hin. Demnach ist die Übertragbarkeit bei Geimpften mit OMICRON so hoch wie vor OMICRON bei Ungeimpften, auch hält die Infektiösität länger an. (Tan et al. 2023). Beides spricht dafür, dass längere Zeit eine hohe Viruslast im Körper überdauern kann – ein möglicher Auslöser für Long COVID.

Long COVID-Ambulanzen erhalten weiterhin Zulauf und die Todesfälle, die direkt auf eine Covid19-Infektionen zurückzuführen sind, bewegen sich zwischen 50 und 70 Tote, je nach Meldezeitpunkt mehr oder weniger. Hinzu kommt aber die Übersterblichkeit durch Schlaganfälle, Herzinfarkte und Lungenembolien, die mehrere Wochen oder Monate nach der Infektion auftreten können und häufig ursächlich nicht mehr in Zusammenhang mit der Covid19-Infektion gebracht werden.

Die Übersterblichkeit blieb in Deutschland auch mit den OMICRON-Varianten konstant hoch, im März 2023 lag sie immer noch 8% über dem mittleren Wert der Vorjahre (Quelle).

Fakt 4: Long COVID-Betroffene sind weitgehend auf sich alleine gestellt.

Behauptung: Der grüne Gesundheitsminister Rauch argumentiert gerne damit, dass es für LongCOVID-Betroffene einen Versorgungspfad geben würde.

Begründung: Es gibt kaum wirksame Therapien, keine Behandlungsplätze für betroffene Kinder, monatelange Wartezeiten in LongCOVID-Ambulanzen, wo nur zwei Behandlungstermine von der Krankenkasse übernommen werden. Viele Haus- und Fachärzte verorten LongCOVID in der psychischen Ecke und sprechen den Betroffenen den Krankheitswert ab. Medizinische Gutachter der Pensionsversicherungskasse erklären selbst bettlägerige Betroffene für arbeitsfähig und Simulanten und verwehren ihnen die Frühpension. Ein positiver PCR-Test ist Voraussetzung, um in die Warteliste für Spezialambulanzen aufgenommen zu werden. Ab Juli 2023 werden Betroffene in Arztpraxen nurmehr Antigen getestet und müssen PCR selbst bezahlen. Damit wird die Dunkelziffer weiter ansteigen. Dasselbe gilt auch für MECFS-Betroffene (siehe Interview mit Gesundheitsökonom Thomas Czypionka, 22.03.23)

Fakt 5: Reinfektionen verlaufen nicht zwingend harmloser als die erste Infektion.

Behauptung: Nach Impfung und Erstinfektion (“Hybridimmunität”) sei man gut gegen weitere Infektionen geschützt.

Begründung: Eine kürzliche Übersichtsarbeit über mehrere Studien zu Reinfektionen hat ergeben, dass die Symptome bei erster und zweiter Infektion oft ähnlich sind, am häufigsten treten Fieber, Husten, Gliederschmerzen, Fatigue und Kopfschmerzen auf (Nguyen et al. 2023). Der Schutz gegen erneute Infektion hält nur etwa vier Monate an (Chen et al. 2023). Bei Kindern fehlt das “adaptive Immungedächtnis”, um erneute Infektionen zu verhindern (Quelle). Mehrere Studien zeigen eine Zunahme des LongCOVID-Risikos nach erneuten Infektionen (Bowe et al. 2022, Marra et al. 2023, Hadley et al. 2023), eine Studie eine relative Abnahme, betrifft aber selbst dann noch jede 40. Person über 16 Jahren (Bosworth et al. 2023). Wiederholte Infektionen schlagen sich vor allem auf die Gehirnleistung nieder, so haben rund 85% der Post-Covid-Patienten bereits nach einer Infektion kognitive Einschränkungen, wobei jüngere Patienten stärker betroffen sind als ältere (Herrera et al. 2023). Mehrfache Infektionen dürften diese Entwicklung kaum verbessern.

Fakt 6: Das Gesundheitssystem ist wie vorhergesagt zusammengebrochen.

Behauptung: Das Gesundheitssystem wäre nicht mehr überlastet, deswegen wären weitere Maßnahmen unverhältnismäßig.

Begründung: Spitäler haben schon vor der Pandemie mit Personalmangel zu kämpfen gehabt, weil superschlaue Neoliberale der Meinung waren, dass man ein Spital wie ein Privatunternehmen führen könne. Personal sparen, Effizienz steigern, Qualität auf das Minimum beschränken. Die Intensivstationen waren schon vor der Pandemie zu 85-90% ausgelastet, vor allem im Winter zur Grippesaison. Mit Pandemiebeginn gab es keine echte Pause mehr für das Personal. In den ruhigeren Phasen mit niedrigeren Infektionszahlen mussten Operationen nachgeholt werden. Seit DELTA sind die Infektionszahlen dauerhaft hoch, sodass es nicht nur einen ständigen Zustrom an Patienten gab, sondern auch ständige Cluster und Krankheitswellen auf den Stationen, nicht nur unter Patienten, sondern auch beim Personal. Und ja, 12 Stunden und länger arbeiten mit dichtsitzender FFP2-Maske wird zweifellos anstrengend sein. Die Regierungen haben den Berufsethos und Altruismus der Pfleger:innen und Ärzt:innen ausgenutzt und sie jahrelang verheizen lassen. Infolge andauernder Krankheitswellen und Kündigungen wegen LongCOVID, Burnout oder Resignation ist der Personalstand immer kleiner geworden, was die Last auf verbliebene Mitarbeiter:innen abschiebt. Eine Abwärtsspirale, die nun darin gipfelt, dass der ÖGKV davor warnt, dass die Notfallversorgung nicht mehr gesichert ist (Presseaussendung, 20.04.23), in ganz Österreich gibt es gesperrte Betten bzw. ganze Abteilungen, die schließen müssen.

Daran ist natürlich nicht nur die Pandemie schuld, sondern die mangelnde Wertschätzung der Arbeit, die sich sowohl in zu niedrigen Gehältern als zu wenig Personal zeigt, was dann zwangsläufig auf die Qualität, nicht nur medizinisch, sondern auch empathisch, geht. Hinzu kommt bereits seit Herbst 2022 ein gravierender Medikamentenmangel – Stand 21.04.23 waren 599 Medikamente nicht oder nur eingeschränkt verfügbar, besonders betroffen sind Antibiotika und Fiebersäfte für Kinder, aber auch Schmerzmittel für Palliativpatienten und Krebsmedikamente. Schon länger zeigt sich der Personalmangel bei Kassenärzten, insbesondere Hausärzten, aber auch Fachärzten.

Viele Menschen werden den Ernst der Lage erst erkennen, wenn sie selbst betroffen sind. Mit Fall der Maskenpflicht in den Spitälern und im Gesundheitswesen generell wird sich die Lage weiter verschärfen – sowohl die Krankheitswellen beim Personal und in den Arztpraxen als auch Patienten, die sich dort anstecken, wo sie eigentlich hingingen, um gesund zu werden. Infektionen im Krankenhaus (“mit Covid”) gehen mit signifikanter Sterblichkeit einher (Melancon et al. 2022, Kim et al. 2023), weil die Mehrheit von ihnen nun einmal zu den “Vulnerablen” zählt.

Fakt 7: SARS-CoV2-Wellen werden von abnehmender Immunität getrieben und zeigen kein saisonales Verhalten.

Die zweite Welle beginn bereits im Frühsommer mit exponentiellem Wachstum, die vierte Welle ebenfalls – zufällig nach weitgehendem Wegfall der Maskenpflicht und kommuniziertem Pandemieende bzw. Pandemiepause. Die BA.5-Welle im Hochsommer 2022 begann mit allgemeinem Wegfall der Maskenpflicht und Abschaffung der Quarantäne/Isolationspflicht, die BA.2-Welle verzögerte sich im Niedergang bis in den Spätfrühling.

Behauptung: SARS-CoV2 würde ein saisonalen Verlauf annehmen wie andere Erkältungsviren.

Begründung: Unwahrscheinlich. Im Gegensatz zu Grippe- und Erkältungsviren ist SARS-CoV2 hochansteckend und verbreitet sich in Clustern. Infizierte sind ansteckend, bevor sie Symptome entwickeln. Daher konnte SARS-CoV2 auch nur eingedämmt bzw. unter Kontrolle gehalten werden, als eine generelle Maskenpflicht herrschte und Infizierte isoliert werden mussten. Der Inzidenzverlauf der Pandemie in Österreich (siehe oben) zeigt die Wiederanstiege jeweils in der warmen Jahreszeit.

Viel wahrscheinlicher ist, dass es immer wieder größere Cluster geben wird, weil das Virus sich bevorzugt in Gruppen verbreiten wird, wo die Immunität nachgelassen hat (etwa vier Monate Schutz nach Infektion, abnehmende Immunität nach Impfung). Das geschieht jahreszeitunabhängig, weil Großveranstaltungen in Innenräumen, aber auch Festivals im Freien (Anfahrt riskant, Menschenansammlungen) größere Cluster verursachen können. Hinzu kommt der Reiseverkehr am Niveau wie vor der Pandemie. Der weltweit inzwischen verbreitete Ansatz, dass Impfungen alleine ausreichen würden, um die Pandemie zu beenden, erweist sich als Trugschluss (Van Egeren et al. 2023), der Mutationsspielraum von SARS-CoV2 erscheint schier unerschöpflich (Markov et al. 2023), zumal OMICRON-Varianten dem Immunsystem leichter entkommen können (Moriyama et al. 2023).

Aktuell steigen im Abwasser in der Schweiz die Werte wieder deutlich an – mitten im Frühling.

Fakt 8: Für Kinder ist SARS-CoV2 nicht zwingend harmlos.

Behauptung: Für Kinder wäre SARS-CoV2 harmlos, weshalb gesunde Kinder auch nicht zwingend geimpft werden müssten.

Begründung: Verglichen mit Influenza war BA.2 jedenfalls schwerwiegender (Tso et al. 2022). OMICRON-Subvarianten sorgen für mehr Fieber und Lungenerkrankungen als frühere Varianten wie ALPHA. Zwar treten schwere Verläufe nicht häufiger auf, aber auch nicht viel seltener (Summer et al. 2023). In den USA zählt Covid19 zu den führenden Todesursachen bei Kindern und Jugendlichen unter 19 Jahre (Flaxman et al. 2022, Flaxman et al. 2023). Ein höheres Sterberisiko haben Kinder mit Immunschwäche (Abolhassani et al. 2022) und Downsyndrom (Clift et al. 2020). Das Multientzündungssyndrom MISC ist mit OMICRON deutlich seltener geworden (Holm et al. 2022). LongCOVID tritt mit 2-7% Häufigkeit bei Kindern und Jugendlichen auf, selbst im Grundschulalter noch bei 1,8% der infizierten Kinder, was eine hohe absolute Zahl betroffener Kinder bedeutet (Warren-Gash et al. 2023). Verschiedene Studien zeigen erhöhte Risiken für Folgeerkrankungen nach einer Covid19-Infektion, z.b. Roessler et al. (2022) oder Kompaniyets et al. (2022). Gestiegen ist vor allem das Risiko für akute Lungenembolie, Herzmuskelentzündung, venöse Thrombosen, Nierenversagen und Diabetes-Typ-1.

Beunruhigend sind auch pathogene Veränderungen selbst nach asymptomatischen oder leichten Verläufen, darunter ..

Mögliche Behandlungen gibt es für chronische Magendarmsymptome bei Kindern mit LongCOVID mit Lactoferrin (Morello et al. 2022), sowie experimentiell bei Mikroblutgerinnseln mit hyperaktiven klebrigen Blutplättchen. Dies kann sehr kleine Blutgefäße blockieren, die Sauerstoff in Muskeln und Nerven produzieren, kann auch Fatigue (Sauerstoffmangel im Gewebe) und autonome Dysfunktion (small fiber neuropathy) erklären.

Aus einem Bericht aus Neuseeland (Kvalsig et al. 2023) geht hervor, dass Covid19 eine Immunschwäche bei Kindern verursacht und erhöhtes Thromboserisiko, ebenso erhöhte Gefahr für schwere Verläufe bei Streptokokken-Infektion.

In Summe verläuft eine Infektion bei Kindern in der Mehrzahl der Fälle weiterhin mild oder symptomfrei. Da es in den Kindergärten und Schulen vielfach keinerlei Schutzmaßnahmen wie CO2-Sensoren zur Luftqualitätsüberwachung, mobile Luftfilter, moderne Belüftungsanlagen mit HEPA-Filtern oder klare Regeln im Krankheitsfall gibt, ist die Gefahr, sich mehrmals zu infizieren, bei Kindern und Jugendlichen am höchsten (ebenso für Lehr- und Erzieherpersonal). Und damit sind natürlich auch ihre Eltern und generell Haushaltsangehörige gefährdet, die ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe oder LongCOVID aufweisen.

Fakt 9: Maskenpflicht ist weiterhin notwendig und sinnvoll.

Behauptung: Die Maskenpflicht hätte keinen epidemiologischen Nutzen mehr. Das Virus wäre sowieso überall.

Begründung: Ein bisschen zynisch ist es schon zu sagen, dass man froh sei, die Maske nicht mehr tragen zu müssen, aber von “Vulnerablen” erwartet man das jederzeit und überall. Ebenjene Vulnerable werden dauerhaft vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, weil die Impfung sie entweder nicht vor schwerem Verlauf schützt (bei schwerer Immunschwäche) oder nicht vor Verschlechterung ihrer Grunderkrankungen wie durch LongCOVID. “Vulnerable” müssen häufiger zu Ärzten als “gesunde” Menschen. Vulnerable haben genauso ein Recht darauf, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen wie andere auch. Mobilität und Gesundheit sollten gewährleistet sein. Recht auf Gesundheit, Inklusion, keine Benachteiligung oder gar Mobbing wegen Maske tragen.

Das Problem ist, dass es mit der Freiwilligkeit nicht funktioniert, wenn die Bevölkerung eine jahrzehntelange Tradition der Wissenschaftsskepsis pflegt, die durch die Medien und Politik befeuert wird. Wenn Scheinexpertenaussagen nie richtig gestellt werden, sondern unwidersprochen als gleichwertig zu Fakten dargestellt werden. Eine Bevölkerung, die die Obrigkeitshörigkeit aus der Monarchiezeit “geerbt” hat, die zwar mitbekommt, wie korrupt das ganze System ist, mit Postenschacherei in einem Ausmaß wie noch nie in der Zweiten Republik, wo vor allem Inkompetenzlinge auf führenden Posten sitzen und Scheinexperten befördert werden. Doch kaum sprechen die Politiker aus, was die Bevölkerung hören will (Pandemie vorbei! OMICRON mild! Für Kinder harmlos! Es sterben nur Vulnerable!), hält sie sich eins zu eins an die Vorgaben. Ohne Verordnung keine Verschärfung der Schutzmaßnahmen. Freiwilliges Tragen, geschweige denn eine Empfehlung, ist undenkbar.

Dicht getragene Masken schützen umso besser, je mehr es tun. Während Narkose, beim Haut- oder Zahnarzt, wenn man die Maske für die Behandlung absetzen muss, ist es daher unerlässlich, dass die Ärzte und Pfleger Maske tragen. Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern, die keine Maske tragen können, sind immer erhöhtem Infektionsrisiko ausgesetzt, etwa in vollen Verkehrsmitteln oder im Wartezimmer. Gute FFP2 oder FFP3-Masken sind meist teurer und schwerer zu bekommen, das trifft aber überproportional jenen Teil der Bevölkerung, der wegen chronischer Erkrankung oder Behinderung eher von Armut betroffen ist. Wohlhabendere Menschen können sich hingegen nicht nur FFP3-Masken leisten, sondern auch ein Auto oder mobile Luftfilter im Büro, oder sowieso Homeoffice.

Die Maske ist selbstverständlich weiterhin sinnvoll und nur eine allgemeine Pflicht wird in den wissenschaftsskeptischen bis -feindlichen Kreisen aller Parteien und in der Bevölkerung ausreichen, um den Schutz der Gesamtbevölkerung zu gewährleisten – das gilt sowohl für Vulnerable, als auch für Gesunde – was LongCOVID betrifft und die Gesundheitsversorgung generell. Denn auch ein frisch Verunfallter sollte sich besser nicht mit Covid anstecken.

Fakt 10: Das Immunsystem ist kein Muskel und kann nicht trainiert werden. Masken schützen vor allen Infektionen, die über die Luft übertragen werden. Wer sich seltener infiziert, ist seltener krank. Es gibt kein Erkrankungskonto, auf das man ständig einzahlen muss.

Behauptung: Infektionen wären notwendig, um unser Immunsystem zu trainieren. Masken würden daher schaden.

Begründung: SARS-CoV2 löst eine vorübergehende Immunschwäche aus, die anfälliger für Infektionskrankheiten aller Art (Viren, Bakterien, Pilze) macht. So haben die Fälle von Gürtelrose deutlich zugenommen (STANDARD, 11.04.23). Eine umfangreiche Übersicht zu den Folgen wiederholter Infektionen gibt es von Andrew Ewing beim World Health Network (05.03.2023). Mehr Beiträge dazu auf meinem Blog (Tag 997: Es gibt keine Immunschuld, Tag 824: Hygiene-Hypothese).

Die Impfung bereitet das Immunsystem auf eine Infektion vor, sozusagen ein regelmäßiges Update, kein Training durch den Erreger selbst.

Masken sind weder verantwortlich für eine Zunahme an Allergien noch schwächen sie unser Immunsystem gegen andere Infektionskrankheiten.

Epilog

Zum Abschluss ein übersetzter Twitterthread von Dr. Elisa Perego, die als frühe Betroffene mit den ersten Patienten den Begriff LongCOVID geprägt hat:

“Die Pandemie ist nicht vorbei. Entscheidungsträger und ihre Berater sind mehr als glücklich darüber, die Vorstellung verkünden zu dürfen, dass COVID vorbei wäre. Es sei eine “Grippe”, eine “Erkältung” und nicht mehr. Sie sind mehr als glücklich darüber, die Ansicht zu fördern, dass LongCOVID “selten” sein würde oder nichts allzu Schlimmes. Menschen werden deswegen sterben. Es sollte daran erinnert werden, dass Entscheidungsträger und deren Berater nicht den größten Preis für die unkontrollierte Verbreitung von SARS-CoV2 zahlen werden. Oh, ich meine nicht, dass ihr Risiko Null ist. Ich meine, dass sie wahrscheinlich Zugang zu Werkzeugen haben werden, die die Durchschnittsperson nicht hat, um Covidfolgen zu minimieren.

Sie werden Zugang zu beschleunigten antiviralen Medikamenten und Pflege haben. Du nicht.

Sie werden von zuhause aus arbeiten können. Du nicht.

Sie werden Zugang haben zu sicheren Räumen (Ventilation, Luftfilter, etc.). Du nicht.

Sie werden Leute darum bitten, sich zu testen, bevor sie sich mit ihnen treffen. Du wirst das nicht können.

Wenn sie LongCOVID bekommen, können sie in Krankenstand gehen, oder sind reich genug, um mit dem Arbeiten aufzuhören, ohne große Probleme. Du kannst das nicht.

Falls eine neue Therapie von der Covidforschung herauskommt, sind sie die ersten in der Reihe, die sie erhalten. Du nicht.

Wenn sie an Sauerstoffmangel leiden, bekommen sie Sauerstoff. Du nicht.

Wenn sie Thrombosen entwickeln, bekommen sie beschleunigte medizinische Versorgung. Du nicht.

Wenn eine ältere Person Covid im Spital bekommt, wird ihnen das egal sein. Wenn diese ältere Person Dein Vater ist, wirst Du Dich um ihn sorgen, auch im Hinblick darauf, ihn zu unterstützen, falls er LongCOVID bekommt.

Falls Entscheidungsträger und deren Berater dann kein Covid oder LongCOVID bekommen, umso besser für sie! Ihre Karriere wird intakt bleiben und sie erhalten noch mehr Wohlstand oder Status. Du nicht.

Sie werden für ihre Beratertätigkeit und offene Ausgaben für die Pressearbeit bezahlt, wo sie ihre Botschaften verbreiten. Du nicht.

Diese Pandemie beruht auf mehreren Achsen des Elitismus, des Klassismus, der Privilegien, des Zugangs zur Macht, der Anhäufung von Reichtum, der Anerkennung von “Fachwissen”, wo es kein wirkliches Fachwissen gibt. Diejenigen an der Spitze werden Euch die Durchseuchung aufzwingen. Ihr habt keine Wahl. Sie haben eine. Macht macht den Unterschied.” (22.04.23)

2 thoughts on “Die derzeit zehn größten Irrtümer über SARS-CoV2

  1. Wirklich beruhigend zu sehen, dass ich nicht 100% alleine bin. Danke sehr fuer den Artikel. Neulich hoehrte ich auch was wegen Masken und Urlaub.

    Z.B. Situation Nr. 1: ich geh in ein Geschaeft und werde angepoebelt.: Nehmen Sie Ihre Maske ab! Sie machen meinem Kind Angst. Die Pandemie ist vorbei.

    Meine Antwort: Zirka 2300 Coronatote in den letzten 30 Tagen in Deutschland mag Ihnen vielleicht wie wenig erscheinen, mir nicht. Ich beschuetze lieber Sie, Ihr Kind und mich selbst.

    Poebler: Spinner!

    Situation Nr. 2, das gleiche wie eben. Nur meine Antwort: Ich fliege naechste Woche in den Urlaub und tu halt alles um moeglichst vorher nicht Krank zu werden (******nachher waers vielleicht ok).

    Poebler: Ach so, verstehe. Na ja, ich hab gehoert die Dinger wirken eigentlich nicht, aber ich kann Sie trotzdem gut verstehen, vielleicht helfen die ja doch ein bischen. Schoenen Urlaub!

    In der Wirklichkeit wuerde ich weder so noch so antworten, weil ich ja Gefahrensituationen vermeiden moechte und besonders in einem gechlossenen Raum nicht unnoetig rumquatsche. Es geht ihn ja sowieso nichts an. Also einfach ignorieren und weitergehen. Aber so fuehlt es sich im Moment ein bischen an, als waere Leben zu schuetzen was albernes, laecherliches.

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  2. Wieder wunderbar und umfassend zusammengefasst. Guter Start für alle, die sich auf den aktuellen Stand bringen wollen, sollen oder müssen.
    Zwei kleine Korrekturen:
    im dritten Abschnitt lautet der Sandwich irrtümlich Fakt-Behauptung-*Behauptung*
    im achten Abschnitt irrtümlich: andauernde Beeinträchtigung der Lungen*infektion*

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