
Grundsätzlich versuche ich auch durch meinen Survival Guide Eigenverantwortung vorzuleben. Seit Pandemiebeginn macht mich die Datenwüste in Österreich nervlich fertig, weil man ständig im Blindflug unterwegs war und ist. In anderen Ländern gab es bis auf Gemeindeebene Infektionszahlen, nicht in Österreich. Kein Landeshauptmann, kein Bürgermeister wollte sich die Blöße geben mit einem Cluster. Immer schön alles verschweigen. Mittlerweile ist die Surveillance weiter abgebaut worden. Seit der kritische Molekularbiologe Ulrich Elling die Genomsequenzierung neuer Varianten an die AGES abgeben musste, sind die Daten nicht mehr aktuell und auch nicht sehr genau. Die aktuelle Statistik, welche Varianten gerade dominieren, hinkt zwei Wochen hinterher. Das Abwassermonitoring ist ebenfalls zeitlich nicht up to date, eher noch das Tiroler Abwasser, weil die dort Messungen für den Bund machen (Gerichtsmedizin Innsbruck), in den anderen Bundesländern wird unterschiedlich erfasst. Die Gesamtzahl der Tests wird nurmehr einmal pro Woche gemeldet, damit lässt sich nicht einmal zur Positivrate eine Schätzung abgeben.
Es war die letzten drei Jahre wesentlich mehr möglich als getan wurde. Es wäre auch jetzt noch möglich, mithilfe von CO2-Messungen, die für jedermann einsehbar sind, die Luftqualität in öffentlichen Räumen zu erfassen – wie es in anderen Ländern längst geschieht, nur im rückständigen anti-wissenschaftlichen, esoterisch vollverschwurbelten Österreich nicht. Es ist nicht gewünscht, das Infektionsrisiko zu abzubilden, weil die Wirtschaft dann gezwungen wäre, Geld in Schutzmaßnahmen zu investieren. Zudem finden es zu viele geil, ständig krank zu sein, weil das immer noch besser sein würde als einen “Gehorsamsfetzen” zu tragen. Dabei reißen sie halt als Kollateralschäden viele Menschen mit, die lieber gesund geblieben wären oder nicht kränker werden wollten. Egoismus regiert. Literally.
Blindflug ist unerträglich, wenn man es gewohnt ist, sein Verhalten an Daten und Fakten zu orientieren. Ein “Lehrer mit ADHS” schrieb neulich zwei Tweets, die eins zu eins auch auf (viele) Autisten zutreffen mögen:
“Menschen mit ADHS haben oft ein übersteigertes Gerechtigkeitsbedürfnis. Es fällt uns schwer, mit Situationen klarzukommen, die wir als ungerecht empfinden. Wir empfinden alles sehr intensiv und sind empatisch. Es fällt uns schwer, unsere Emotionen zu regulieren. Gleichzeitig sind wir oft wie Schwämme, die Nachrichten, Reportagen, Dokumentationen und Statistiken über Aktuelles aufsaugen und sind sehr gut informiert über Krieg, Pandemie, Politik. Diese Kombination ist ein Problem. Es geht uns vielleicht gerade nicht so gut.”
Das spricht mir aus der Seele. Es ist eben sehr einfältig gedacht, dass Belastungen und Überlastungen zwangsläufig aus Workaholic-Umständen stammen müssen. Klar kann man mir hinterher vorwerfen, dass ich selbst schuld bin, weil ich mir die letzten drei Jahre massenhaft Wissen über die Pandemie und alles, was damit zusammenhängt, angelesen habe. Aber das zählt bei mir eben zu den reifen Bewältigungsmechanismen. Wissen als Stärke, zur Selbstberuhigung.
Junge aufgeklärte Menschen drehen halb durch, wenn sie die Tatenlosigkeit der Gesellschaft und Politik hinsichtlich Klimakatastrophe wahrnehmen. Als Berufsmeteorologe, der schon seit über 20 Jahren meteorologische Wetterabläufe und klimatologische Veränderungen beobachtet, belastet das ebenso. Zyklon Mocha war mit Spitzenwinden von 280 km/h der schwerste Zyklon im nordindischen Ozean, er traf Myanmar als Kategorie 4 und wird eine humanitäre Katastrophe ausgelöst haben. An der vereisten Westküste des Hudson Bay in Kanada zerschmetterte heute eine Wetterstation (Arviat, Nu) den Monatsrekord für Mai um über 7 Grad mit 21,2°C Höchstwert. Die Station steht dort seit 1973 (allerdings mit Aufzeichnungslücken zwischen 1975 und 1984). Die Meere sind weltweit so warm wie noch nie und das El Nino-Ereignis baut sich erst auf, es sorgt normalerweise für eine weitere Erwärmung auch der Landoberflächen. Hitzerekorde wurden vor kurzem auch in Südasien aufgestellt. Auch in den nächsten Wochen bleibt es in Süd- und Ostasien bis zu 10 Grad wärmer als normal. Das klingt alles weit weg, aber die letzten Jahre haben gezeigt, dass auch Mitteleuropa von Trockenheit und Dürre betroffen sein kann, und etwa Lastwägen Kärntner Bauern mit Trinkwasser beliefern müssen. Und natürlich werden Fluchtbewegungen nach Europa zunehmen, wenn die Bedingungen auf anderen Kontinenten immer unwirtlicher werden. Das weiß man alles, wenn man sich ein wenig mit der Materie beschäftigt.
Ich kann das alles nicht ausblenden. Alles, was das Klima betrifft, kann ich mit professioneller Distanz betrachten und mich auf die Diagnose und Prognose der kurzfristigen Wetterabläufe beschränken. Aber das Zeitfenster für den Handlungsspielraum, um katastrophale Veränderungen im Klima abzumildern, schließt sich noch in diesem Jahrzehnt. Das Zeitfenster für “NoCovid” hat noch bis Ende 2021 bestanden, als man mit den Impfstoffen einen sehr guten Schutz auch gegen Infektion selbst bei DELTA hatte. Selbst mit OMICRON hätte man noch auf Infektionskontrolle setzen können und grundsätzlich ist es nie zu spät (!), noch mit sauberer Luft in Innenräumen anzufangen, so wie man vor 150 Jahren mit sauberen Trinkwasser über Hochquellwasserleitungen in Wien angefangen hat, um Cholera zu beseitigen. Warum es eine Cholerakapelle im Helenental bei Baden gibt, hat die Landbevölkerung dort längst vergessen.
Jedenfalls sehe ich, dass wir alle Werkzeuge hätten, um unsere Lebensqualität zu verbessern, aber wir machen das Gegenteil. Das macht mich rasend. Und es macht mich schon auch sehr wütend, wenn ich sehe, dass viele aus der Risikogruppe sich jahrelang isoliert haben und jetzt bei jedem Arztbesuch besonders gefährdet sind – weil beim Arzt nun mal viele *kranke* Haushalte zusammenkommen, aber selbst viele Ärzte und deren Assistenten nichts vom Maske tragen halten. Es macht mich auch wütend, dass man uns aufgeklärte Menschen die ganze Arbeit aufhalst, einschließlich der Kosten für mobile Luftfilter, die eigentlich Behörden, Arbeitgeber oder Ärzte auf ihre Kosten anschaffen müssten. Wir müssen darüber nachdenken, ob die nächste Auffrischimpfung noch klug ist, weil sie noch den Wildtyp enthält, der längst nicht mehr existiert. Wir werden im Dunkeln gelassen, ob im Herbst wirklich ein angepasster Impfstoff kommt, und wer dann womöglich mit dem Arzt streiten muss, ob er die Impfung nochmal bekommt, weil LongCOVID weiterhin vielfach kein Thema ist. Wir müssen uns ständig verteidigen, weil wir noch Maske tragen und führen mühsame Diskussionen, wenn wir in schlecht belüfteten Innenräumen mit katastrophalen CO2-Werten waren, und dazu anregen wollen, für mehr Frischluft zu sorgen. Wir kämpfen um Paxlovid, und ab Juli auch um PCR-Tests, um im Zweifelsfall nachweisen zu können, dass wir Covid hatten, sollten wir Spätfolgen entwickeln.
Wir sehen sehr wohl, woher der Personalmangel in allen Branchen kommt und die Abwärtsspirale, die sich gerade aufbaut: Krankenstände verstärken den Druck auf das verbleibende Personal, immer mehr rutschen in den Burnout oder schauen sich nach anderen Jobs um, das erhöht den Druck auf die, die bleiben, und jene die krank arbeiten, erhöhen ihr LongCOVID/MECFS-Risiko. Ja, wir sehen das alles. Und fühlen uns ohnmächtig, weil wir von den großen Playern im Staat im Stich gelassen werden: Den Gewerkschaften, der Mehrzahl der Journalisten, aber auch den Ärzten und deren Vertretern auf Landesebene.
Und um das klar zu sagen: Natürlich empfinden auch viele Nichtautisten und Nicht-ADHSler diese Ohnmacht, das ist nicht rein auf neurodiverse Menschen beschränkt, und genauso gibt es neurodiverse Menschen, die verdrängen oder schwurbeln. Bei uns kommen aber eben meist mehrere Dinge zusammen, und dann entsteht leichter eine Überlastung – die neurotypische Menschen nicht als solche wahrgenommen hätten, etwa weil sie die Pandemie schon seit zwei Jahren verdrängen, Covid19 als harmlose Erkältung sehen, obwohl in ihrem Umfeld rein statistisch mindestens ein LongCOVID-Fall dabei ist und der ein oder andere Bekannte einen unerklärlichen Schlaganfall hatte, obwohl er erst Mitte 40 war, und die selbst vielleicht jeden Infekt mitnehmen, samt Scharlach (Streptokokken) und anderen hartnäckigen Infektionen, obwohl die Erkältungssaison längst vorbei ist.
das was wirklich
in allen Lebenslagen
hilfreich sein kann
ist
mit sich zurecht
zu kommen
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Sie sprechen mir aus der Seele. Akkumulierung von Wissen ist auch meine Bewältigungsstrategie. Ebenso ist mir das nicht Ausblenden können sehr vertraut (abgesehen von ADHS oder Autismus ist in Zeiten wie diesen schon ein hoher IQ ein Fluch – wobei das eine das andere nicht ausschließt). Zusätzlich zur allgemeinen Verdrängung ist der Datenblindflug und das bewusste, m.E. strafwürdige Unterdrücken von Information seitens der Regierung ( = politisch motivierter Amtsmissbrauch) unerträglich. Und man hat den Eindruck, sie wollen speziell uns Ältere und andere, die das Budget belasten, loswerden. Dazu kommt noch der Ukrainekrieg, den ich täglich verfolge und meine dortigen KollegInnen aktiv unterstütze (immerhin wird der nicht ewig dauern). Meine Arbeit als Psychotherapie versuche ich so weit wie möglich online zu machen, in Präsenz nur mit beiderseitiger Maske (wer weiss, wie lange das von den KlientInnen noch akzeptiert wird). Das Chorsingen hab ich aufgegeben, auch aus Enttäuschung über die Ignoranz der KollegInnen, die sich auf keine Teststrategie einlassen wollten. Das Leben ist wirklich sehr anstrengend geworden – und einsamer. Gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe ist sehr erschwert. Das Einzige was hilft, ist sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen. Und das Prinzip Hoffnung (auf bessere Impfungen, bessere Medikamente, auch ist ME CFS plötzlich mehr Thema als früher, was sehr gut ist). Vielen Dank für Ihren Beitrag, es ist hilfreich, sich verstanden zu wissen. Liebe Grüße, Silvia Franke PS hatte im Vorjahr Covid, war sehr belastend und zog sich, nochmal “milde” will ich unbedingt vermeiden.
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