
Plötzlich ist man mittendrin. In Wien steigen die Infektionszahlen derzeit exponentiell, österreichweit gestern mit 934 registrierten positiven Tests die zweitmeisten seit Beginn der Pandemie. Ein zweiter Lockdown wäre unter bestimmten Voraussetzungen noch zu verhindern, beschrieben hier in einem Vergleich von New York, wo die Fallzahlen seit dem Kollaps im März niedrig bleiben, und Madrid, wo die zweite Welle erneut die Spitäler überlastet. Ich poste oft genug Links zu Fachartikeln oder zu Experten auf Twitter, an dieser Stelle möchte ich ein paar emotionale Worte loswerden.
Déjà-vue vom März
Die subjektive Stimmung ist wie vor dem Lockdown im März. Der Flughafen war zu dem Zeitpunkt noch gut besucht, auch wenn immer mehr Reisewarnungen ausgesprochen und Rückholaktionen gestartet wurden. Die Öffis waren recht voll und ich fühlte mich zunehmend unwohl am Weg in die Arbeit, gemeinsam mit Hacklern und Touristen. Dann kam der Freitag und der Lockdown für Montag wurde angekündigt. Das nutzten viele Menschen zu Hamsterkäufen und um noch einmal Party zu machen. Die Regierung sah die Menschenansammlungen im Freien, die – wie sich später herausstellte – ein weitaus geringeres Risiko darstellten als die privaten Zusammenkünfte in den Wohnungen, und verschärfte noch am Wochenende die Maßnahmen durch verstärkte Polizeikontrollen. Die fielen unverhältnismäßig aus, kriminalisiert wurde bereits das aneinander Vorbeigehen, was aus infektiologischer Sicht ungefährlich ist. Das Virus betraf zuerst den Mittelstand und die Reichen, all jene, die sich teure Skiurlaube leisten konnten, sie verteilten es über Ischgl in ganz Österreich, in ganz Europa und später in die USA. Nach dem Lockdown schwelte das Virus vorübergehend auf niedrigem Niveau weiter, sickerte in prekäre Arbeitswelten, in ökonomisch schwache Bevölkerungsgruppen, in die Minderheiten. Dann kamen die verfrühten Lockerungen der Maskenpflicht, Aussagen von BK Kurz im Juni “nachdem die gesundheitliche Krise überstanden sei….”, Spätfolgen und dauerhafte schwerwiegende Symptome, die in schwerer betroffenen Ländern bereits ab Ende Mai bekannt wurden, hat man bis heute nie an die große Glocke gehängt. So musste der Eindruck entstehen, das Virus sei nicht so schlimm, die Sterblichkeit niedriger als bei der Grippe, je jünger, desto ungefährdeter und Kindern spielen keine Rolle. Dabei fehlte die typische Situation bis zur Ankunft der Sommerschulen, denn ohne offene Schulen konnten sich Kinder auch seltener anstecken und das Virus zurück in die Familie bringen. Das geschah ab dem Sommer zunehmend auf Klassenausflügen und Sommercamps. Obwohl jetzt auch unter Schülern die Zahlen sprunghaft ansteigen, dominiert im Unterbewusstsein der meisten oberflächigen Bürger, die nichts hinterfragen, weiterhin das beruhigende Narrativ, dass Kinder keine große Rolle im Infektionsgeschehen spielen würden. Der unsichtbare rosa Elefant.
Seit dem Lockdown ist inzwischen fast exakt ein halbes Jahr vergangen. Der Flugverkehr hat knapp 60% des Vorkrisenniveaus erreicht (mit Business Jets evtl mehr), die Schulen sind wieder offen und die Öffis voll. Wir tragen mehr oder weniger diszipliniert Masken. Die Regierung kündet Verschärfungen ab Montag an, was lediglich bedeutet, privat nicht mehr als 50 bzw. 100 Personen gleichzeitig treffen zu dürfen. Saufgelage mit geringerer Personenanzahl finden also weiterhin enthemmt statt. Ich bin viel mit den Öffis in der Stadt unterwegs, abends bei dem schönen Wetter sind sie bummvoll mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, aufgetakelt zum Weggehen. Ob 50 oder 900 registrierte Fälle an Neuinfektionen, scheint keine Rolle zu spielen – hauptsache, ich kann Party machen. Die Regierung und die selektive Berichterstattung in den Medien haben ihnen eingetrichtert, dass ihnen das Virus nichts anhaben kann. Viele bemerken nicht einmal, dass sie es haben, weil sie symptomfrei bleiben. Über Langzeitschäden erfährt man nichts.
Abhängigkeit von den anderen
In dem halben Jahr ohne seriöse Informationen und teilweise Verharmlosung fielen Verschwörungsmythen auf fruchtbaren Boden. (Zur psychologischen Dynamik dahinter siehe die Artikel-Serie von Etosha). Das hat zur Folge, dass es jetzt noch schwerer als im März ist, die Menschen zu vernünftigem Verhalten zu bewegen. Ich schaffe es die meiste Zeit, den Risiken aus dem Weg zu gehen. Ich habe auf Urlaub in Hotels völlig verzichtet, habe meine Hüttenübernachtungen verkürzt, weil ich nicht ins Lager wechseln wollte. Ich saß mit Jacke draußen, während alle reingingen. Ich trug Maske selbst dann, wenn ich das nicht tun musste. Ich habe viele Tagestouren gemacht und war immer in Gastgärten von Hütten oder Gasthöfen. Fast alle Treffen mit Bekannten oder Freunden fanden im Freien statt. Nachtleben hat für mich nicht existiert, außer beim Sternderl schauen im freien Feld. Bei Einkäufen trug ich den ganzen Sommer durch Maske, selbst als es nicht mehr vorgeschrieben war. Mittlerweile ist es leider nicht mehr so einfach, Menschen auszuweichen, die eher sorglos mit dem Risiko umgehen. In den Öffis tragen manche die Maske unterm Kinn und husten fröhlich in der Gegend herum. Immer mehr Menschen aller Altersgruppen tragen das Plexiglasvisier, das lediglich die Mundpartie und Nasenlöchern bedeckt und nachweislich keinerlei Wirkung hat, weder Schutz für das Umfeld noch für den Träger. Leider wird diese unzureichende Alternative nicht geahndet. Jene mit Vorbehalten oder anfällig für Verschwörungsmythen, die die Maske nur tragen, weil sie müssen, versuchen das Regelwerk maximal auszureizen. Solange nicht gestraft wird und keine soziale Kontrolle vorhanden ist, funktioniert das wunderbar.
Alles, was nicht Regel ist, wird nicht freiwillig umgesetzt, geschweige denn als Eigen- oder Fremdverantwortung gesehen. Deswegen steigen nun auch wieder die Zahlen in den älteren Altersgruppen, weil Verwandtschaftsbesuche und Feiern das Virus wieder zu den Älteren tragen, die gefährdeter sind für schwere (sichtbare!) Verläufe, während junge Menschen vermeintlich unbeschadet durch die Infektion kommen, dann aber Rückfälle erleiden können (Müdigkeit, Erschöpfung, Herzmuskelentzündungen, Atembeschwerden, etc.).

Leidtragende sind all jene, die sich monatelang bemüht haben, dem Virus aus dem Weg zu gehen. Jetzt ist die telefonische Krankmeldung weg, Homeoffice gibt es nur noch teilweise, die Öffis sind voll, speziell zu den Stoßzeiten mit den Schülern. Das Virus ist in der Bevölkerung weit verbreitet statt nur in wenigen anfälligen Gruppen. Natürlich nimmt auch die Angst wieder zu, dass man sich selbst nicht ausreichend schützen kann oder wieder stärker isolieren muss (Einsamkeit). Wer erhöhtes Risiko vor der Pandemie hatte, hat es jetzt immer noch, das Risiko ging nicht weg, weil es nicht mehr thematisiert wurde. Eher kamen Risiken hinzu durch zu wenig Bewegung, durch ungesundes Essen, stressbedingtes Rauchen, mehr Alkohol und verkniffene Vorsorgeuntersuchungen.Es ist auch nicht mehr das Vertrauen in die Politik vorhanden, durch die Diskussion mit der App im Vorfeld, durch die dilettantische Ampelumsetzung und durch die Falschaussagen zu Kindern und zum Licht am Ende des Tunnels, durch ausbleibende Hilfen in der Not. Erkennbar wird Wahlkampf in Wien geführt, offenbar will keine Partei dem Wahlvolk unangenehme Wahrheiten zumuten, sei es die Wartezeit auf den Impfstoff, die Gefahr von strengen Maßnahmen im Herbst und Winter, wenn die Zahlen hochbleiben, die Langzeitfolgen, die explodierenden Kosten fürs Gesundheitssystem, das mangelnde Konzept gegen die hohe Arbeitslosigkeit, die Pleitewellen im Tourismus und das Bar-, Nachtclub- und Gasthaussterben.
Verschwörungsmythen greifen um sich
Ich habe mir heute mehrfach ans Hirn gegriffen, als ich meine Mitmenschen reden hörte. Wahr ist: Folgeschäden treten bei Covid19 viel häufiger auf als bei der Grippe. Es ist nicht harmloser!
Das wird zudem einzig an den Todeszahlen festgemacht. Hinweise auf die hohen Sterblichkeitsraten in den USA, Spanien oder Italien werden ausschließlich auf das Alter, Vorerkrankungen oder ungesunde Ernährung zurückgeführt. Ja, das spielt in den USA eine gewichtige Rolle, aber hätte man das physical distancing und mask wearing bereits im Vorfeld konsequent durchgesetzt und das Risiko nicht von vorneherein heruntergespielt wie Trump inzwischen selbst zugab, hätten sich weniger Menschen angesteckt und es ist eine Milchmädchenrechnung, dass logischerweise auch weniger gestorben wären. Deswegen machen wir doch den ganzen Schas, würde ich jetzt gerne wütend ausrufen, deswegen blieben wir daheim, um Risikopersonen nicht zu gefährden. Langzeitfolgen werden völlig ausgeklammert, oft auch mit dem Totschlagargument, man wüsste jetzt noch gar nichts genaues, dabei gibt es seit Ende Mai schon Berichte darüber und inzwischen aus allen Teilen der Welt beunruhigende Studien.
Masken verringern die ausgestoßene Viruslast erheblich und sorgen auch für Eigenschutz, indem sie die eingeatmete Viruslast verringern, was vermehrt zu symptomfreien Verläufen führt. Das hat man bewiesen. Wo steht, dass Masken nichts bringen? Oder darf man diese verkürzte Aussage dem AGES-Chef verdanken? Kinder stecken Eltern an, und verbreiten es auch untereinander, das zeigen Berichte aus der ganzen Welt, aus Israel, USA, Spanien, Deutschland. Diese Berichte sind real, wer es nicht glaubt, kann ja dort nachfragen. Trotzdem höre ich, es sei ja nahezu erwiesen, dass Kinder keine Rolle spielen würden, und sie würden völlig unnötig mit Masken gegeißelt. Vielleicht entsteht so ein Eindruck auch nur, weil man ihnen das selbst vorlebt, selbst den Kindern die Unsicherheit und Skepsis zeigt, statt eine klare Linie zu fahren: Es ist notwendig, es ist lästig, aber ich kann damit aktiv beitragen, andere Menschen zu schützen. Und weil ihr so brav seid, kriegt ihr eure eigene Superman- oder Spiderman-Maske oder dürft euch draufdrucken lassen, was ihr wollt.
Die Mitmenschen fragen sich, warum die ganze Welt so hysterisch überteibt mit den Maßnahmen, ein Lockdown wegen ein paar dutzend Infizierte wie in Australien oder Neuseeland. Sie haben eben die Wahl getroffen, dass sie bis zum Impfstoff lieber mehrheitlich gesundheitlich unbeschadet überstehen wollen, jedenfalls was schwer zu behandelnde Intensivfälle und Spätfolgen betrifft. Warum wird die Harmlosigkeit nicht hinterfragt, sondern nur die Intensität der Gegenmaßnahmen? Warum würde die ganze Welt so etwas tun, wenn es nur ein harmloses Virus wäre? Ja, China hat Scheiße gebaut, sie haben zu lange vertuscht, das kann man ihnen ewig zum Vorwurf machen. Aber das Virus ist jetzt nicht mehr so neu, alles, was man seit März gelernt hat und weiterhin ignoriert, geht auf unsere Kappe, auf jedes Individuum, die diese Fakten ignoriert.
Wo bleibt der Hausverstand?
Ich fürchte mich jetzt mehr als vorher, weil es Situationen gibt, wo ich gezwungenermaßen mit mehreren Menschen in einem geschlossenen Raum bin und mich darauf verlassen muss, dass sie das Virus gleichermaßen ernstnehmen wie ich. Mein einziger Ausweg ist eine FFP2-Maske über viele Stunden getragen.
Es geht nicht darum, dass viele die Sommerzeit genutzt haben, um Urlaub zu machen oder sich mit Freunden getroffen haben. Egal ob Inland oder Ausland – entscheidend ist das Hintergrundwissen, wo ich mich anstecken kann. Das heißt eben, den Clubabend bei Schlechtwetter zu verschieben, oder dass eine Hochzeit in einem geschlossenen Raum mit 50 Gästen und DJ eine denkbar schlechte Idee ist, weil Schreien und Singen besonders effektiv Aerosole im ganzen Raum verteilt. Es ist nicht besonders schlau, sich abends im Gastgarten zu verabreden und dann reinzugehen, weil einem kalt wird. Man sollte sich vorher überlegen, wie viele fremde Menschen man treffen will, von denen man nicht weiß, wie ernst sie das nehmen und ob sie nicht vielleicht fünf Tage vorher in einer potentiellen Cluster-Situation waren und jetzt hochansteckend sind. Wie wichtig die Maske ist, zeigt das Problem Doppelinfektion. Es ist sehr wohl möglich, gleichzeitig erkältet zu sein und zusätzlich Covid19 zu bekommen. Auch die Kombination Allergie und Covid19 ist möglich. In beiden Fällen hieße laufende Nase und häufiges Niesen aus anderen Gründen, dabei das Virus auszuschleudern und entsprechend ansteckend zu sein. Deswegen würde ich mir wünschen, wenn häufig niesende Menschen aus Rücksichtnahme eine Maske tragen würden, selbst in Räumen, wo das nicht explizit vorgeschrieben ist.
Der idiotische “ein Meter Abstand” in Innenräumen hat es in sämtliche Hygienevorschriften geschafft, die die Behörden vorgeben. Aerosol-Infektion wurde nie richtig erklärt, stattdessen ist die Begründung “50 Personen im Inennraum sind erlaubt” oder “Nach der 1-m-Abstandsregel passen so und so viel Personen in den Raum.” Das Risiko wird nicht hinterfragt, das scheint unfehlbar in den Regeln eingeflochten, da wird schließlich alles passen.
Gesundheit oder wirtschaftliche Folgen?
Ich frage mal direkt zurück. Die Gefahr, dass Kinder schwer erkranken ist gering, aber nicht Null. Will man als Elternteil wirklich Russisch Roulette spielen und hoffen, dass bei einem selbst nicht so schlimm kommt? Weder beim Kind noch bei Vater oder Mutter? Ist es das wert? Die Medizin ist im frühen 21. Jahrhundert weit fortgeschritten. Darf die Oma mit 80 Jahren nicht mehr weiterleben? Wäre sie sowieso gestorben? Auch im Jahr 2020 kann man mit 80 Jahren noch ein lebenswertes Leben führen, kann 90 werden, selbst, wenn man raucht wie ein Schlot. Viele Menschen haben Vorerkrankungen und noch mehr wissen gar nichts davon. Es kommt immer wieder mal vor, dass Menschen in ihren 40ern plötzlich tot umfallen, weil der Herzfehler bei ihnen nie entdeckt wurde. Hat der dicke Onkel plötzlich sein Lebensrecht verwirkt? Der insulinpflichtige Cousin, der gerade studiert oder das herzkranke Enkelkind? Gegen Influenza kann man sich impfen lassen, gegen Covid19 nicht. Die gefährdeten Gruppen können nicht auf Herdenimmunität bauen, nicht einmal auf Immunität des Angehörigen. Ist deren Einschränkung im Leben, um möglichst unbeschadet durchzustehen, weniger Wert als der eigene hedonistische, egoistische Drang, unbedingt sein Leben so weiterführen zu wollen wie vorher?
Und wenn schon der gesundheitliche Aspekt niemanden überzeugt: Dass positiv getestete Fälle isoliert werden müssen, ist logisch, ebenso die Quarantäne von Verdachtsfällen. Das sind derzeit über tausend Menschen am Tag, die woanders fehlen, die aus dem Wirtschaftskreislauf herausgenommen werden, die in den Firmen fehlen und Personalmangel weiter verschärfen, die an Schlüsselstellen fehlen, die Hausarztpraxis, die zwei Wochen geschlossen bleiben muss. Nicht alle von denen, die fehlen, kommen wieder. Bei manchen dauert der Krankenstand wegen #longcovid länger. Im April noch haben sich einige Mitarbeiter bei den Wiener Stadtwerken wochenlang isoliert, damit die Grundversorgung gewährleistet werden kann. Jetzt sind die Zahlen wieder so hoch wie damals – was schützt uns jetzt vor kritischen Personalsituationen?
Fakt ist: Es ist wie im Straßenverkehr oder auf der Skipiste, es liegt nicht mehr nur alleine an mir, ob ich mich risikoarm bewegen kann. Ich kann noch so langsam fahren, wenn wer die Ampel überfährt und mich zammfährt, dann nützt meine Vorsicht einen Schas. Ich muss mich darauf verlassen können, dass alle mitmachen, dass sie sich wenigstens an die Grundlagen halten, nur so kann es dauerhaft funktionieren. Also, zum Kuckuck noch mal, informiert Euch gefälligst selbst, und blickt auch einmal über den österreichischen Tellerrand.
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