
Quelle: http://just-the-covid-facts.neuwirth.priv.at/2020/09/17/covid-19-oesterreich-aktuelle-daten/
Die aktuellen Zahlen sprechen Bände. Das Virus wächst in die Breite, erfasst sowohl Kinder und Jugendliche (Schulen) als auch erneut ältere Menschen und damit die Risikogruppe. Die Zahl der positiven Tests ist aktuell doppelt so hoch wie zum Zeitpunkt des Lockdowns. Die ausbleibende Reaktion in Form eines erneuten Lockdowns könnte man im optimistischen Fall damit rechtfertigen, dass wir seit Mitte März deutlich klüger geworden sind und die Fehler vom Beginn nicht wiederholen. Wir könnten damit argumentieren, dass wir die vergangenen Monate gelernt haben, wo Cluster mit vielen Infektionen bevorzugt entstehen und wie wir diese Situationen erfolgreich vermeiden. Leider ist das genaue Gegenteil der Fall, denn die Zahlen steigen bei uns deswegen so stark an, weil genau jene Indoor-Situationen mit vielen Neuinfektionen gehäuft auftreten, die wir im März schon hatten: Bars, Discos, Restaurants, private Partys, Kirche, Theater, Hochzeiten.
„Es scheint der Menschennatur verhängt zu sein, durch Erfahrung dümmer und erst durch deren Wiederholung klüger zu werden, und besonders die Intelligenz muss viel mitmachen, bevor sie zu der Einsicht gelangt, dass eine Freiheit, die ihre Vernichtung herbeiführen würde, nur durch Hemmung zu retten ist.“
Karl Kraus: “Die Fackel”, Juli 1934, 890-905, 177
Wir wissen genug, um mehr Kontrolle zu haben als der Fall ist
Hier muss ich einer Standard-Journalistin klar widersprechen, die gestern tweetete:
es ist so leicht, zu sagen: politik macht alles falsch mit covid. aber was wir über das virus wissen, ändert sich laufend. die wissenschaft hat die freiheit zu revidieren. die politik kann aber nicht ständig umplanen. ich beneide niemanden, d. solche entscheidungen treffen muss.
Quelle: Twitter
Eine ähnliche Rechtfertigung höre ich gelegentlich im Bekanntenkreis, es sei doch noch so wenig über das Virus bekannt, ständig höre man etwas anderes. Im Nachhinein erweist sich meine chronologische Sammlung an Studien und Medienberichten als Schatz: Mein erster archivierter Artikel stammt vom 28. März – damals hat man bereits gesagt, dass die Wahrscheinlichkeit, sich in geschlossenen Räumen anzustecken 18,7fach größer ist als im Freien. Seitdem hat sich die Datenlage kontinuierlich verfestigt – für Virologen wahrscheinlich keine überraschende Neuigkeit, da sich auch andere Viren, die über die Atemwege (direkt oder indirekt) von Mensch zu Mensch springen, in Innenräumen besser ausbreiten können als draußen. Die gewöhnlichen Erkältungs-Coronaviren verbreiten sich in der kalten Jahreszeit auch besser, weil die Menschen sich dann häufiger drinnen aufhalten, häufig noch mit falschem Heizungs- und Lüftungsverhalten, sodass die Schleimhäute zu trocken sind und die Virenkonzentration in der Luft steigt.
Am 01. September 2020 hielt Christian Drosten im NDR-Podcast fest:
Das ist eigentlich mein Eindruck, der mich auch immer ein bisschen begleitet in den letzten Tagen, dass es keine Überraschungen wissenschaftlicher Art über den ganzen Sommer gab. Es sind viele der Studien, die wir besprochen haben, im Sommer in großen Journals aufgetaucht, offiziell veröffentlicht. Es sind neue Studien dazugekommen, die vieles erhärten, was wir aber eigentlich in dieser Form schon an Preprints und kleineren Studien vorweggenommen gesehen haben. Es gibt eigentlich keine einzige wirklich neue Erkenntnis, die jetzt für die unmittelbare Kontrolle oder für den unmittelbaren Umgang mit der Epidemie über diese zwei Sommermonate dazugekommen ist, von der man sagen würde, das ist jetzt game-changing.
Coronavirus-Update vom 01.September mit Christian Drosten (Transkript)
Die verantwortlichen Ministerien in Österreich, vor allem Umwelt-, Gesundheits-, Arbeits- und Bildungsministerium haben also seit etwa Ende Juni, spätestens aber Mitte Juli einen soliden Grundstock an Daten zur Verfügung gehabt, um sich eine effektive Strategie für die Zeit ab Schulbeginn zu überlegen. Ebenso hätte man für die Bevölkerung Gratis-Tests anbieten können, um Reiserückkehrern den Zugang zu Tests zu erleichtern. Es hätte Überlegungen geben können, den Schulunterricht weitgehend ins Freie zu verlegen, solange es vom Wetter her möglich ist. Und selbst unter einem überdachten Pavillon wäre die Durchlüftung noch besser in den meisten zeitungemäßen Schulgebäuden in Österreich. Vor über 100 Jahren wurde so in New England unterrichtet.
Kreativ denken statt weitermachen wie bisher
Ich denke jetzt einmal kreativ und überlege, was alles möglich wäre, was gedacht werden muss, nachdem der status quo (Schulunterricht wie bisher) offensichtlich nicht funktioniert.
Ich kann die Einwände langsam nicht mehr hören, die gegen Schulen im Freien sprechen. Die Kälte... ja, welche Kälte? In Zeiten der beschleunigten Klimaerwärmung sind lange, warme Witterungsperioden wahrscheinlicher als ein eiskalter Wnter wie 1962/63. Es werden sich im Schnitt also mehr milde Tage im Freien mit zweistelligen Höchstwerten ausgehen als wochenlanger Dauerfrost. Warme Kleidung und gratis Verpflegung mit heißen Getränken (Tee, Kakao) und Speisen (Suppen) könnten gegen Frostbeulen helfen. Das Wetter … wie gesagt, überdachte Pavillons wären eine Möglichkeit, ansonsten fällt der Unterricht eben aus, sofern keine gut belüfteten Räume zur Verfügung stehen. Schon klar, dass nicht jedes Fach in der gleichen Intensität wie unter Normalbedingungen stattfinden kann. Back to the roots … mobile Tafel und Whiteboards, statt Klavier eben Gitarre im Musikunterricht. Manche tun so, als ob der Unterrichtsstoff in der jetzigen Form zeitgemäß wäre und die Schüler ideal auf die Zeit nach der Schule vorbereitet. Da gibts wohl unterschiedliche Meinungen. Ich fürchte, die psychische Verarbeitung der Pandemie und der damit einhergehenden Wirtschaftskrise, die vielen Eltern schlaflose Nächte bereitet, kommt auch bei den Kindern und Jugendlichen zu kurz. Als 2003 der Irakkrieg ausbrach, hab ich den Geschichtslehrer regelrecht dazu nötigen müssen, einmal eine ganze Schulstunde darauf einzugehen. Mich hat das damals sehr beschäftigt und innerlich aufgewühlt. Wer, wenn nicht ein Pädagoge, hätte das aktuelle Thema behutsam aufbereiten können? Ein letzter Punkt: Lieber eine funktionierende Schule unter veränderten Unterrichtsbedingungen als weiter wie bisher und ständig neue Regeln, ständig neue Verdachtsfälle, Quarantänepflicht und im schlimmsten schwerer erkrankte Kinder oder Eltern, die davon wahrscheinlich traumatisierter sind als für einige Monate, die das Schuljahr dauert, Masken auch im Unterricht tragen müssen. Bevor mich jemand auf die Frage, festnagelt, ob ich auch Kinder habe: Ich war selbst mal Kind, bin als unerkannter Autist beinahe durch das Schulsystem durchgefallen, weil meine Stärken (autodidaktisches Lernen) und Schwächen (z.b. verbale Benotung) nicht berücksichtigt wurden. Ich hätte mir etwas mehr Flexibilität des starren Schulsystems gewünscht.
Das Virus macht im Sitzen keine Pause.
Die Verordnungen sind eindeutig: Solange man in Bewegung ist, soll man Maske tragen, sobald man sitzt, darf die Maske wegbleiben. Das betrifft Kulturveranstaltungen, Gastronomie, Schulen und Arbeitsplätze. Die Mehrheit der Österreicher hinterfragt die Regel gar nicht, sondern geht offenbar davon aus, dass sich das Virus im Sitzen nicht verbreitet, wenn man nur den berühmten Meter Abstand zum Sitznachbarn hält. Tatsächlich ist es umgekehrt: Im Gehen ist die Expositionszeit kurz, man erinnere sich an die Formel (Artikel vom 06. Mai!):
Erfolgreiche Infektion = Exposition zum Virus mal Zeit
Beim Vorbeigehen bekommt man wenig Virus mit, sofern man nicht direkt angehustet oder angeniest wird, und das Vorbeigehen dauert nur wenige Sekunden. Durch die Eigenbewegung wird außerdem Wind produziert, die die Aerosolwolken rasch zerstäubt und verdünnt. Beim Sitzen über längere Zeit befindet sich die Luft hingegen in Ruhe und wird nur durch die Körperwärme in Bewegung versetzt – sofern keine schlaue Klimaanlage oder sonstige Lüftungsmöglichkeiten bestehen. Ausgeatmete oder ausgesprochene Aerosole (je lauter, desto mehr) können sich ungestört länger schwebend in der Luft halten und im Raum verteilen. Bei uns im Büro fühle ich mich jetzt ein wenig sicherer, weil Luft durch Öffnungen im Boden gepresst und durch die Decke abgesaugt wird. Zudem sind HEPA-Filter eingebaut. In vielen Innenräumen schaut es aber deutlich bescheidener aus. Masken könnten Abhilfe schaffen, das Risiko deutlich zu reduzieren, also während einer Theatervorstellung, im Gottesdienst, am Arbeitsplatz, im Schulunterricht, doch ist das politisch nicht gewollt. Lieber bequem zugrunde gehen als ein paar Monate lang aus der Komfortzone geholt werden und dafür gesundheitlich und wirtschaftlich besser dastehen als mit dem Weg, den wir jetzt eingeschlagen haben.
In der Gastronomie ist es logisch. Maske auf beim Essen und Trinken widerspricht sich. Die Konsequenz ist eine bittere: Solange nicht für ausreichend Lüftung gesorgt werden kann, reichen Meterabstände in einem Raum nicht aus, insbesondere, wenn man sich darin stundenlang aufhält. Die Konsequenz ist klar: Im Gasthaus sitzen geht entweder nur außerhalb der Komfortzone, mit offenen Fenstern bei jedem Wetter, oder gar nicht. Draußen sitzen ist alternativlos. Ich bin es leid, hier eines der zahlreichen Beispiele zu zitieren von Clustern, die sich aus der Gastronomie entwickelt haben. Ischgl und Rotaryclubabend in Salzburg sollten als mahnendes Beispiel genügen.
In Summe ist mein Eindruck, die österreichische Regierung liest keine Nachrichten aus dem Ausland, sie glauben nur das, was die WWBÖ (Wald- und Wiesenbehörde Österreich) alias AGES an Videoschnipseln verlautbaren lässt, etwa dass in Österreich im Gegensatz zum Rest der Welt Kinder nur eine untergeordnete Rolle im Infektionsgeschehen spielen, oder dass in Österreich die Mehrzahl der Ansteckungen über große Tröpfchen und nicht über Aerosole passieren. Aber ich mag das nicht glauben, dass die Haltung der verantwortlichen Politiker und Behörden so engstirnig nationalistisch ist. Da gibt es etwa das aktuelle Positionspapier beim Umweltministerium, wo die Autoren deutsche Raumluft-Experten zitieren und recht ausführlich über die angeblich so unwichtigen Aerosole schreiben. Es wäre dringend an der Zeit, dass diese bahnbrechenden Erkenntnisse endlich beim Endkunden des Virus ankommen: dem Bürger des Staates Österreich.
Die Kommunikation ist eine Katastrophe
Ich wiederhole mich, ich weiß, aber jetzt, wo die Zahlen erneut stark steigen, wird wieder nicht aufgeklärt, was Masken eigentlich bringen und warum sie das tun, dass sie auf der Nase mehr bringen und Gesichts- und Mundschilder nutzlos sind. Es wird nichts zu Aerosolen gesagt, um den Menschen überhaupt Eigenverantwortung lehren zu können. Denn selbst entscheiden, wie hoch ein Risiko ist, kann man nur, wenn man weiß, wie die Übertragungswege funktionieren. Innenräume: Abstand und Masken, gänzlich meiden oder Aufenthalt so kurz wie möglich halten. Draußen: Abstand halten und bei Menschenansammlungen Masken aufsetzen. Das Virus macht unglücklicherweise keinen Unterschied dabei, ob man religiös ist oder nicht. Atheisten können sich also auch bei der privaten Wohnungsparty anstecken, selbst wenn sie den aerosolverseuchten Kirchenchor meiden.
In vielen Ländern gibt es einprägsame Formeln, um sich wenigstens die drei Grundregeln zu verinnerlichen:
In Deutschland die AHA-Regeln: Abstand, Hygiene, Alltagsmasken.
In Japan die “3 Cs”: Closed Spaces with poor ventilation, Crowded Spaces with many people nearby, Closed-contact settings (such as close-range conversations) – der Hinweis auf Masken wurde nachträglich eingefügt.
Der Aerosol-Wissenschaftler Jose-Luis Jimenez schlug folgende Eselsbrücke vor: A CIVIC DUTY (Bürgerpflicht)
Avoid Crowding, Indoors, low Ventilation, Close proximity, long Duration, Unmasked, Talking/singing/Yelling
Bei uns gibt es hingegen ein Chaos aus Regeln, eine Ampel, deren Farbwechsel keine Konsequenzen für den Bürger hat, eine App, der tief misstraut wird, nachdem die ÖVP sie verpflichtend machen wollte und – wie die Vergangenheit mehrfach zeigte – gerne Hilfsangebote mit Daten absaugen verknüpft (Finanzhilfe über WKO statt übers Finanzamt). Jetzt gibt es neue Regeln, die aber nicht ab sofort gelten, sondern erst nach dem Wochenende, weil es für die Mehrzahl der Österreicher denkunmöglich ist, von heute auf morgen eine Maske nicht nur an Ort A, sondern auch B zu tragen. Erinnerungen werden an den Lockdown wach, als übers Wochenende noch der Skivirenschleuderbetrieb weiterlief und etliche die Gelegenheit noch einmal nutzten, gemeinsam die Sau rauszulassen. Meine hoffentlich-wird-die-Erde-von-einem-Asteroiden-getroffen-Stimmung könnte noch zahlreiche Blogeinträge füllen.
Die Hirnlücke, die die Regierung hinterlässt, maßgeblich die ÖVP, aber teilweise auch die Grünen, die beim Thema neuester wissenschaftlicher Stand offenkundig hinterherhinken (oder das Wissen haben, aber die ÖVP aus wirtschaftlichen Gründen und Message Control blockieren) wird von Verschwörungsmythikern ausgefüllt und plötzlich muss man sich, ob man will oder nicht, immer häufiger gegen die bekannten Mythen wehren, die Masken seien schädlich, der Lockdown sei überzogen, das Virus harmloser als eine Grippe, usw.
Prävention und psychosoziale Aspekte fehlen.
Was das Gesundheitsministerium leider überhaupt nicht anspricht, ist Prävention. Neben den AHA-Regeln wäre es ganz, ganz wichtig, die gefährlichsten Vorerkrankungen zu verhindern, also Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Asthma. Vieles hängt mit der Ernährung zusammen, mit mangelnder Bewegung und indirekt mit Armut, niedriger Bildung und Arbeitslosigkeit. Eigentlich würde ich mir in der jetzigen Situation eine große Informationskampagne erwarten. Die Folgeschäden überwiegen bei weitem dem Kosten einer solche Kampagne. Die Regierung gibt aber lieber Millionen für herzlose Kanzler-PR aus. Was völlig fehlt, sind auch Zuversicht, Optimismus, Wertschätzung, Hilfen, die tatsächlich ankommen. Solidarität gibt es nur für Reiche und Parteiwähler. Der menschenverachtendste Kanzler der Zweiten Republik schaut bei Moria weg, während etliche westliche EU-Staaten helfen. Wegschauen heißt es aber auch, ausgenommen bei der AUA, bei etlichen Großunternehmen, die hunderte oder tausende Stellen abbauen. Mehr Arbeitslosengeld gibt es nicht, obwohl deutlich ist, dass in der Dauer der Pandemie kaum neue Jobs geschaffen werden können und schon gar nicht so viele, um die Massen an Arbeitslosen unterzubringen. Risikogruppen werden alleine gelassen, ging es nicht beim Lockdown darum, vor allem sie zu schützen? Gilt das jetzt nicht mehr? Dürfen Risikogruppen nicht mehr am sozialen und kulturellen Leben teilnehmen? Die Perspektivlosigkeit, die mangelnde Hoffnung auf Besserung gepaart mit dem ständigen einseitigen Schuldzuweisungen ohne jede Selbstkritik lassen verzweifeln.
Ich sags ganz offen, ich war mir noch nie so unsicher, ob meine Zukunft weiter in Österreich liegen soll. So viel Destruktivität wie seit Monaten ist schwer zu ertragen. Schwarzblau war schon ein ungeheuerlicher gesellschaftlicher Rückschritt, aber grün hat den geistigen und moralischen Verfall, den der sich an die Macht geputschte Kurz eingeleitet hat, leider kaum verlangsamt, sondern rechtfertigt schlimme Entscheidungen damit, noch schlimmeres zu verhindern – auf Kosten einer lautstarken Opposition. Wie lange noch?
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