Tag 250: Experten und Scheinexperten

Die zweite Welle wurde auch in ihrer Wucht bereits frühzeitig von Experten vorhergesagt. Die Regierung hat entgegen ihren Warnungen und Empfehlungen zu begleitenden Schutzmaßnahmen (z.b. Maskenpflicht) gehandelt. Wir erinnern uns an die ersten Diskussionen um “Flatten the Curve” – die Neuinfektionen niedrig halten, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, an die Warnung vor dem Besuch der Großeltern durch die Enkelkinder, an die überraschende Lockerung bei der Maskenpflicht im Juni.

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An dieser Stelle möchte ich auch auf die engagierte Zivilgesellschaft verweisen, eine Handvoll Menschen, die sich nicht mit den offiziellen Informationen zufrieden geben wollten.

  • Der pensionierte Statistiker Erich Neuwirth, der uns seit Monaten mit übersichtlichen und nachvollziehbaren Daten und Grafiken versorgt und diese für uns interpretiert.
  • Ebenso die Seuchenkolumnen des Virologen Robert Zangerle, ebenso pensioniert, aber unermüdlich.
  • Die Journalistin Isabelle Daniel von “Ö24”, die ebenfalls seit Monaten solide und seriös über das Virus berichtet und offenkundig mehr internationale Studien liest als ihre Kollegen vom vermeintlich qualitativ hochwertigeren FALTER.
  • Die Medizinjournalistin Anita Gross für ihre wichtigen Interviews mit dem Mikrobiologe Michael Wagner und dem Genetiker Penninger, und Recherchen
  • Meine Twitterbubble mit engagierten Menschen aus allen Fachbereichen – DANKE!

Dem gegenüber steht ein Heer an Scheinexperten, das seit dem Ende der ersten Welle vor allem durch Dampfplauderei auffiel, kernige Sager, klare Festlegungen, zum Schluss quasi Selbstverleugnung.

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Am allerbesten finde ich immer noch Virologe Nowotny, der sich ganz sicher war, dass die zweite Welle viel flacher verlaufen würde und später behauptete, alle Experten hätten sich getäuscht. Das hört man in den letzten Tagen öfter. Selbst Sprenger spricht auf seinem Facebook-Account davon, dass er sich – “wie viele andere auch” getäuscht habe, und patzt bei seiner Selbstkritik auch noch Statistiker Neuwirth an:

“Verschätzt haben sich aber auch Mathematiker wie Erich Neuwirth, die für Mitte November fast 14000 Neuinfektionen pro Tag und 5500 PatientInnen in den Krankenhäusern, davon 825 auf Intensiv, prophezeit haben.”

Martin Sprenger, 17.11.20

Tatsächlich hat Neuwirth keine Prognose abgegeben, sondern:

Sie sind eine Fortschreibung der Entwicklung der letzten Woche. Wenn das so bleibt und die Maßnahmen erst später greifen, dann kann das passieren.

Erich Neuwirth, 02.11.20

Mit Stand 18. November waren es übrigens knapp 4750 PatientInnen in den Krankenhäusern, davon 682 auf der Intensivstation. Das ist wesentlich näher daran als Sprengers “zu einer Überlastung des Gesundheitssystems werde es mit 100%iger Sicherheit nicht kommen.”

Es bleibt die Frage, ob sich in absehbarer Zeit etwas am (un)wissenschaftlichen Diskurs ändert. Wohl nicht so bald.

Einladung von Anders Tegnell auf eine Tagung der AGES durch Franz Allerberger

Ja, richtig, das ist dieser Blitzgneißer:

Neuinfektionen in Schweden und Finnland

Wer sich an meinen Allerberger-Faktencheck bei “Frühstück bei mir” in Ö3 erinnert, dort erwähnte Allerberger am 25. Oktober als Beispiel für rascher erreichte Herdenimmunität Bergamo:

“Alles, was wir sehen, ob das der Ausbruch in Ischgl war, bei der von der einheimischen Bevölkerung 42% Antikörper gebildet haben, Bergamo 44%, […]”

Transkript Allerberger

Der Preis für die 44% Antikörper in der Bevölkerung ist hoch. Die Hälfte der Covid19-Patienten in Bergamo vom März hat sich noch nicht von der Erkrankung erholt. Ist das wirklich erstrebenswerter, eine monatelange Genesungszeit zu riskieren, als sich einige Monate einschränken zu müssen und dafür dann einen oder mehrere Impfstoffe parat zu haben, die mit geringen Nebenwirkungen für die Mehrheit der Bevölkerung funktionieren?

Alle Fälle, aktive Fälle und Genesene seit dem ersten Fall in Bergamo

Der zweite Anstieg im Oktober und November in Bergamo zeigt außerdem, dass die Herdenimmunität längst nicht erreicht ist. Am Tag des Allerberger-Interviews (25.10.) gab es 1064 aktive Fälle, am 18. November sind es 3713. Weitere Daten, u.a. auch die Auslastung der Intensivstation und Anzahl der Notrufe wegen Atemwegserkrankungen gibt es hier.

Aber auch aus dem schwer betroffenen Oberösterreich gibt es keinerlei Einsicht. Im Gegenteil.

“Wir setzten ausschließlich den Höchststandard – PCR-Tests – ein. Nicht wie andere, die Gurgeltests oder Antigentests einsetzen. Das führt dazu, dass wir viele positive Fälle finden,”

Thomas Stelzer, Landeshauptmann Oberösterreich, im Puls24-Interview, 17.11.

Das kommt bekannt vor, oder? Stelzer gibt hier eins zu eins die Sichtweise von Frau “Labor-Tsumami” Apfalter wieder, die zudem in einer ORF-Report-Sendung gesagt hat: “Gurgeltests sind absolut abzulehnen”. In der von mir gefaktcheckten Pressekonferenz mit Faßmann (2.11.) legte sie noch nach und schwurbelte etwas von nicht validiertem Test. Fakt ist: Gurgeltests sind auch PCR-Tests und liefern vergleichbare qualitative Ergebnisse wie Nasen/Rachen-Abstriche. Antigentests sind keine Ausschlusstests, nach einem positiven Antigentest folgt ein PCR-Test zur Bestätigung. Antigentests sind sehr spezifisch und weniger sensitiv. Die Empfindlichkeit reicht im Schnitt aus, um ansteckende Fälle (hohe Viruslast um Symptombeginn herum) zu erkennen, entscheidend ist hier also der Zeitpunkt, falschpositive Fälle können fast so gut vermieden werden wie bei der PCR (positiv getestet, in Wahrheit negativ). Negative Tests sagen aber nicht aus, dass man nicht infiziert ist, wenn der Test zu früh oder zu spät erfolgte (geringe Viruslast).

Das macht aber so oder so aus Stelzers trumpesker Aussage “wer mehr testet, findet mehr” keine richtige Aussage, denn auch eine bessere Erfassung symptomfreier Covid-Fälle erklärt den kometenhaften Aufstieg hospitalisierter Patienten in Oberösterreich nicht.

Zu viel testen passiert vor allem in Oberöstereich eher nicht, denn Apfalter behauptet: “die Art, wer wann wo womit getestet wird, [wäre] einfach extrem in die Breite gegangen, und hat auch die Medizin verlassen.”

Dazu passen dann eben Empfehlungen, wie Kinder unter 10 Jahren nicht mehr zu testen, nur mehr bei eng definierten Symptomen zu testen (z.b. erst ab 38°C Fieber) und auch nicht mehr alle Kontaktpersonen in allen Altersgruppen.

Ich sags frei heraus, was ich von alledem halte, was ich hier zusammengefasst habe: Es ist der größte Skandal der Zweiten Repubik, in der schwersten Pandemie seit 102 Jahren selbst in höchster Not weiter Inkompetenz und fahrlässige Falschaussagen zu vertuschen und die Schuld auf andere abzustreifen, auf andere Experten, auf die Bevölkerung. Verantwortung haben immer noch Bundes- und Landesregierungen mit ihren Behörden und leitenden Beratern. Wenn sich da nicht rasch etwas tut und vor allem auch die vierte Macht im Land, die Medien, ihrer Kontrollfunktion gerecht wird und deutlich offener und schonungsloser Verantwortliche mit Fehlaussagen und falschen Maßnahmen in der Vergangenheit konfrontiert, dann wird sich die zweite Welle lange ziehen und der dritte Lockdown wäre selbst nach den erzwungenen Kontaktbeschränkungen durch den zweiten Lockdown nur eine Frage der Zeit. Mit so einem tiefen Grundmisstrauen könnte die bei manchen Teilen der Bevölkerung vorhandene Impfskepsis im Land problematisch werden, wenn sich anscheinend mehr vor den Nebenwirkungen eines klinisch getesteten Impfstoffs gefürchtet wird als vor den seit Monaten dokumentierten Langzeitfolgen einer Covid-Erkankung, die bei über 20% aller Covid-Fälle auftritt – und zwar selbst nach symptomlosem oder mildem Verlauf!

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