
Die Pandemie verlangt psychische Höchstleistungen von jedem Einzelnen. Das sollte hier auch einmal erwähnt werden. Unabhängig davon, dass ich mir als Autist noch schwerer mit tiefgreifenden Veränderungen tue wie Nichtautisten, ist es seit Monaten eine schmale Gratwanderung zwischen Resignation, Verzweiflung, Resilienz und innerem Schweinehund überwinden. Ich beschäftigte mich die Wochen vor dem ersten Lockdown offenkundig nicht so intensiv mit dem Virus, um nicht vom Lockdown kalt erwischt zu werden. Um ehrlich zu sein, habe ich kaum noch Erinnerungen an die Zeit vor dem Lockdown, die letzte Woche ja. Ende Februar wars schon ein Bangen, ob sich die geführte Schneeschuhtour mit Übernachtung noch ausgehen würde. Bei einer letzten gemeinsamen Wanderung am 5. März im Wienerwald kehrten wir noch auf der Sonnenterrasse der Ochsenburger Hütte ein. Mir ist nichts in Erinnerung von besonderer Vorsicht. Es ist wie ein Blackout, als ob mich mein Gedächtnis daran hindern will, die gute alte Zeit so in Erinnerung zu behalten wie ich sie vor der Pandemie wahrgenommen habe.


An die letzten beiden alleinigen Wanderungen am 10. und 11. März erinnere ich mich dagegen noch gut, weil der Irrsinn dermaßen Tempo aufgenommen hatte, dass ich raus aus der Stadt wollte, wer weiß, wie lange ich noch Gelegenheit dazu hätte. Der nachfolgende Lockdown wenige Tage später gab mir Recht: Ohne Auto und mit Verbot öffentlicher Verkehrsmittel kam ich längere Zeit nirgendwohin. Am 10. März wanderte ich von Rekawinkel zum Buchberg und nach Neulengbach, am 11. März fuhr ich nach Rossatz in der Wachau und wanderte über Pemexel, Mugler und Ferdinandwarte bis Stein an der Donau. Der Abschluss meines Wanderberichts lautete: “Mir kam alles so unwirklich vor und ich hatte nicht wirklich Lust, in die Zivilisation zurückzukehren, zurück ins Ansteckungsrisiko. Lieber wäre ich im Wald geblieben und hätte gewartet, bis ich zu Humus werde.“

Seit inzwischen acht Monaten kämpfe ich gegen die Humuswerdung an. Meine Familie in Deutschland habe ich zuletzt Anfang Februar gesehen, wir wollten uns eigentlich im Mai treffen, um einen Geburtstag zu feiern. Längere Abstände zwischen einzelnen Treffen waren die letzten Jahre durchaus normal. Ich habe abseits der Familie sonst keinen persönlichen Bezug zu meiner fränkischen Heimat. Heuer im Februar war das anders, da konnte ich mit Abstand und mit einer Art innerer Versöhnung durchaus positive Aspekte abgewinnen und war erstmals wirklich zufrieden nach einer Woche Heimatbesuch. Gerne hätte ich den nächsten Besuch nicht wieder mit einem Jahr Abstand gemacht. Mit dem Älterwerden der Eltern treten die familiären Pflichten in den Vordergrund, der Bedarf, sich physisch zu sehen, steigt. Weder Whatsapp noch Telefon können das ersetzen. In der ersten Welle, mit den Bildern von Italien vor Augen, hatte ich weniger Angst um mich als um meine Familienangehörigen, und um die engsten Freunde, die zur gefährdeten Gruppe zählen. Diese Angst dauert nun schon acht Monate an. Sie trieb mich anfangs an, selbst maximal vorsichtig zu sein, um sie bei den wenigen physischen Treffen nicht anzustecken und zu gefährden.
Angst auch um sich selbst
Mit dem Verlauf der Pandemie, dem skandalösen Versagen der Regierung, und meinem erlernten Wissen über Langzeitfolgen in allen Altersgruppen und dem zunehmenden Bewusstsein darüber, dass ein milder Verlauf mitnichten mild aus Patientensicht bedeutet, bekam ich auch Angst um mich selbst. Ich lebe nun mal alleine, muss auf mich selbst aufpassen. Habe keinen, der sofort anhand meiner Mimik und Gesichtsfarbe erkennt, ob ich wirklich erkrankt bin, ob meine Symptome ernst sind. In der ersten Zeit versuchte ich es mit Selbstüberwachung, maß regelmäßig Fieber und Blutdruck, hatte einen Fitnesstracker als Armband mit Messung der Herzfrequenz (das Gerät gab pünktlich Anfang September seinen Geist auf, als die Fallzahlen stark zunehmen) und dazu die Sauerstoffsättigung mit dem Puls-Oximeter. Ich erkannte relativ früh, dass man sich durch tägliche (mehrfache) Messungen nur unnötig verrückt machte und führte es zwar den ganzen Sommer über fort, aber mit Augenmaß. Als etwa Mitte Juni die Maskenpflicht weitreichend gelockert wurde und in der Bevölkerung generell der Schlendrian und zunehmende Verharmlosung einkehrte, wuchs meine Beunruhigung wieder. Ich stieg von Stoffmasken auf FFP2-Masken um.
Gerade wegen der langen Inkubationszeit (im Durchschnitt 5-6 Tage, in 5 % der Fälle über 10 Tage) heißt es ständig wachsam sein. Nicht nur in der Situation, sondern auch die eigene körperliche Befindlichkeit ständig im Blick zu haben. Das ist sehr anstrengend und mir ist das nicht unbekannt. Erst im Vorjahr hatte ich mir wortwörtlich ein Knochenmarködem am Fuß eingetreten und es dauerte insgesamt zwei Jahre, bis die Schmerzen nahezu vollständig unter Belastung verschwunden waren. Auch hier ein ständiges in den Körper hineinhorchen, schmerzt die Stelle wieder, je nach Socken, je nach Einlagen, je nach Passform, je nach Sohle, je nach Untergrund, Dauer der Belastung, usw. Täglich darauf achten zu müssen, ob es wehtut und wieder Belastung zurückfahren müssen, das war anstrengend – und dabei war es verglichen mit chronischen Erkrankungen ein Kinderspiel, kam ich doch immer ohne Schmerzmittel aus. Jetzt ist das Ödem nahezu verheilt, dafür ist Corona auf Besuch und hat sich entschieden, zu bleiben, bis der Impfstoff die Viruspräsenz reduziert. Natürlich wird man übervorsichtig, beinahe hysterisch, wenn sich ein leichtes Halskratzen bemerkbar macht, oder, wie nach einer Wanderung am Pfingstmontag, plötzlich ein massiver Leistungsabfall aus heiterem Himmel, mit Atembeschwerden bei einer leichten Wanderung. Es stellte sich dann als Folge einer unerkannten, aber heftig ausgeprägten Hausstaubmilbenallergie heraus. Das waren einige Tage mit bangem Warten, bis das Blutbild mit dem überschießenden Immunglobulin da war. Es ist ein Schas, ununterbrochen in sich hineinhorchen zu müssen, ich sag es wie es ist. Die Pandemie zwingt vor allem uns alleinlebende Menschen dazu, uns ständig selbst zu überwachen. Werden wir unachtsam und erkennen Symptome zu spät, können wir schon unabsichtlich zum Überträger geworden sein.
Es ist aber nicht nur die Überwachung anstrengend, sondern auch das ständige Aufpassen. Das Infektionsgeschehen ist seit vielen Wochen so hoch in Österreich, dass man sich überall anstecken kann, selbst dort, wo man bis vor ein paar Wochen keine Ansteckung vermutet hätte, etwa im Supermarkt, in Öffentlichen Verkehrsmitteln, im Großraumbüro. Mit meinem Wissen, wo und wie Übertragungen stattfinden und welche Umgebungsbedingungen diese fördern, bin ich, sobald ich das Haus verlasse, ständig am Abwagen und Entscheiden, ob ich mich einer riskanten Indoor-Situation aussetzen kann und soll, oder nicht. Ich trage immer FFP2-Masken, und nehme vorher meist ein Nasen- oder Rachenspray zur Befeuchtung der Schleimhäute. Das unangenehme Gefühl bleibt trotzdem. Sobald man die gemeinsame Atemluft teilt, und sei es die Mittagspause im Büro, kann eine angesammelte infektiöse Aerosolwolke am falschen Ort bereits reichen.
Smaller particles are much more likely to accumulate in enclosed places with poor air flow and to be transmitted where people are not wearing masks.
Fang et al (26.10.20)
Das Virus ist unbarmherzig. Es ist unfair und hart. Dem Virus ist es egal, wie viele Monate man schon durchgehalten hat. Es reicht eine einzige Situation der Unvorsichtigkeit, in der man die Maske absetzt und die Atemluft mit einer infizierten Person etwas zu lange teilt oder die Virusmenge zu groß ist, und man hat sich infiziert. Da nützen Monate mit ausgewogener Ernährung (was ich nie geschafft habe) oder viel Ausdauertraining nichts, mein starkes Immunsystem, das seit Jahren keine Coronaviren mehr intus hatte, geschweige denn Grippeviren, das ist alles zwecklos gegen ein unbekanntes Virus. Diese Wahrheit schmerzt bitterlich. Das wissen alle, die die Infektion schon hatten und wochenlang niedergestreckt waren oder es seit Monaten immer noch sind. Das macht die ganze Situation psychisch so anstrengend, weil man nie nachlassen darf. Wir dürfen uns keine Unaufmerksamkeit erlauben, keinen Fehler. Das Virus verzeiht nicht. In Zeiten hoher Inzidenz in der Bevölkerung steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fehler bestraft wird, an. Als leidenschaftlicher Wanderer habe ich momentan kein anderes Hobby, was mir so viel Kraft gibt, wie raus in die Natur, in die Berge, in den einsamen Wald, Abstand gewinnen, Gehirn auslüften. Covid19 würde mir diesen Ausgleich nehmen. Darum möchte ich es nicht kriegen. Niemals. Aber wie realistisch ist das auf Dauer?
Natürlich mache ich mir Gedanken um die Situation, sich zu infizieren und alleine zuhause auskurieren zu müssen. Ich kenne die Erfahrungsberichte um die tausend Gesichter der Coviderkrankung, um die gefährliche zweite Erkrankungswoche, dass auf Tage der Besserung wieder Rückschläge folgen können, dass man nur sehr langsam wieder die Belastung steigern darf, um nicht noch stärker zurückgeworfen zu werden. Wie sollte ich mit all dem klarkommen, wenn niemand zu mir kommen darf in der Dauer der Krankheitsphase? Plötzlich macht man sich Gedanken um eine Patientenverfügung, und sollte das bei klarem Verstand tun und nicht erst dann, wenn man die Rettung rufen muss. Es ist vieles zu bedenken und zu durchdenken, es wird einiges von einem abverlangt. Niemand setzt sich gerne mit dem eigenen Ableben auseinander, mit der Frage, wer nach einem schaut, wenn es ernst werden sollte, wen man informiert, was man Familienangehörigen sagt, die über fünfhundert Kilometer entfernt in einem anderen Land leben und nicht kommen können, nichts tun können, einen nicht einmal besuchen dürften. Natürlich ist das eine enorme psychische Belastung, zu allen anderen im Alltag dazu.
“mehrmals die Woche physischer Kontakt”
Ich habe meine Kontakte seit März stark beschränkt. Es gibt eine wichtige Bezugsperson und zwei enge Freunde, die ich alle paar Wochen treffe. In Zeiten niedriger Inzidenz noch ohne Maske gemeinsam mit dem Auto wohin, jetzt eben mit Maske und dann oft outdoor. Alle anderen Treffen finden outdoor statt, meist für Spaziergänge oder Wanderungen. Das Treffen derselben Person mehrmals in der Woche war extrem selten. Genauso so sollte es auch sein, um sich nicht ständig der Ansteckungsgefahr auszusetzen.
Mit der Verlängerung der Ausgangsregeln wurde diese verschärft, nach der neuen Fassung heißt es nun:
Deckung der notwendigen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens, wie insbesondere
a) der Kontakt mit
aa) dem nicht im gemeinsamen Haushalt lebenden Lebenspartner
bb) einzelnen engsten Angehörigen (Eltern, Kinder und Geschwister)
cc) einzelnen wichtigen Bezugspersonen, mit denen in der Regel mehrmals wöchentlich physisch Kontakt gepflegt wird,
Die Regierung definiert also wichtige Bezugspersonen für mich dadurch, dass ich sie mehrmals die Woche treffen muss. Whatsapp und Telefon als Kontaktaufnahme reichen explizit nicht mehr aus.
Wenn ich diese Regelung wörtlich interpretieren würde, dürfte ich niemanden mehr treffen, bis die Ausgangsregeln aufgehoben wurden, denn weder habe ich einen gemeinsamen Haushalt, Angehörige in der Umgebung noch Bezugspersonen, die ich mehrmals wöchentlich besuche. Das führt die Regel ad absurdum. Wer also vor dem Lockdown ständig Sozialkontakte hatte, darf diese jetzt weiterhin sehen. Wer sich vor dem Lockdown zurückgenommen hat, was epidemiologisch erwünscht ist, darf jetzt niemanden mehr sehen?! Das macht keinen Sinn. Juristen wie Florian Horn bezweifeln, dass diese Regelung verfassungskonform ist. Zudem wird die Ausnahme Deckung der notwendigen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens erweitert um eine beispielhafte Aufzählung wie insbesondere, also um Beispiele, was notwendige Grundbedürfnisse sein können, nicht aber eine vollständige Aufzählung.
Ich halte das für eine schwierige Gratwanderung, denn ich will nicht dazu aufrufen, ständige Schlupflöcher im Gesetz zu suchen, sondern darauf zu achten, was sinnvoll und angemessen ist. Wenn man eine wichtige Bezugsperson trifft, von der man weiß, dass sie sich ebenso vorsichtig verhält wie man selbst, dann soll man sie treffen. Wenn sich zwei Single-Haushalte treffen, wird das Virus in der Verbreitung keine Freude haben. Wenn sich zwei Großfamilien treffen, mag das anders aussehen. Es ist mir wichtig zu betonen, dass isoliert lebende Menschen, die sich seit Monaten mit Sozialkontakten stark einschränken, jetzt nicht damit bestraft werden, dass sie gar niemanden mehr sehen dürfen, weil sie sich eingeschränkt haben. Ich hoffe, dass isoliert lebende Menschen durch diese Verschärfung jetzt nicht abgeschreckt werden. Epidemiologisch sinnvoll ist es, größere Gruppentreffen zu unterbinden, aber ob man eine andere Bezugsperson trifft, sollte davon abhängen, wie man das Risiko einschätzt. Bei einer Hochrisikoperson vielleicht ins Freie verlagern, mit Masken umarmen. Es bleibt immer eine Abwägungssache, mir geht es um psychischen Druck, um Leidensdruck, einen anderen Menschen zu sehen, um die schwierige Zeit zu überstehen, nicht um gemeinsame Saufgelage indoor, die genauso gut draußen stattfinden könnten. Mir war es aber ein Anliegen, genauo diese Problematik einmal zur Sprache zu bringen, denn die Psyche kommt in dieser Pandemie zu kurz und die Gesetzesänderung lässt entsprechendes Fingerspitzengefühl vermissen – kein Regierungspolitiker bestimmt für mich die Kriterien, nach der eine wichtige Bezugsperson eine wichtige Bezugsperson ist.
“Es geht ja nur noch zwei Wochen”, mögen manche jetzt einwenden, aber so dilettantisch, wie sich die Regierung seit Monaten verhält, fürchte ich, wird es noch viel länger dauern. Die Impfstrategie sieht erst nach April 2021 vor, dass die breite Bevölkerung geimpft wird. Bis dahin wird man unabhängig von Ausgangsregeln immer abwägen müssen, wen man wo wie oft und wie lange trifft. Viel wichtiger, im Hinblick auf Massenübertragungsereignisse, wären jetzt wissenschaftsbasierte Maßnahmen, Schulen und Arbeitsplätze sicher zu gestalten, denn dort treffe ich bis zu vier Haushaltsfremde gleichzeitig über längere Zeit ohne Masken (bis auf mich selbst, der so oft und lange Masken zu tragen versucht wie möglich), in Schulen sind 25 Haushaltsfremde und mehr längere Zeit beisammen. Das hat eine andere Dimension als gemeinsame Singlehaushaltstreffen. Ich sag’s nur.
Die deutsche Botschaft konnte mir auf Anfrage leider auch nicht beantworten, ob es ‘grundsätzlich’ möglich sein wird, sich in Deutschland impfen zu lassen. Ich hab die Furcht, dass Österreich das auch noch verkackt.
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Ich habe mich zu diesem Thema wieder sehr lange zurückgehalten, aber Du kannst Dir sicher sein, dass ich mich täglich mindestens einmal an den Kopf greife, was die Leute, vom virologischen Quartett abwärts, von sich geben.
Die Imfpung liest sich gut an, aber ich möchte noch gern etwas abwarten… ich habe nur diese kleine Befürchtung, dass dieses Abwarten mich bestrafen könnte, nicht nach Deutschland reisen zu dürfen.
Liebe Grüße aus dem Home Office!
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