
Gesundheitsminister Anschober kann sich die “Wucht und Dynamik” der zweiten Welle immer noch nicht erklären. Ich übersetzte am 06. Juni (Tag 87) ein Statnews-Artikel, wie man einen zweiten Lockdown verhindern könne. Österreich hat davon fast alles falsch gemacht: Die Regierung hat nicht auf kleine Zahlen geachtet (Nr.2), hat zu langsam gehandelt (Nr.3), hat bei prekären Jobs nicht aufgeklärt und für mehr Schutz gesorgt (Nr. 5), sie haben die Wahrheit verborgen (Kinder sind Teil des Infektionsgeschehens, schwere Verläufe betrifft auch junge Menschen, Triage wurde nötig; Nr. 6) und die Abstandsregel nie an neue Erkenntnisse über Aerosole angepasst, wodurch man deutlich mehr dafür hätte werben müssen, draußen zu feiern statt drinnen einen Meter Abstand zu halten (Nr. 7), milde Fälle mit Schnupfen wurden aus den Testkriterien gestrichen (Nr. 8), man hat zu wenig getan, um infizierte Personen eines Haushalts zu isolieren (z.b. Quarantäne in Hotels verbringen statt zuhause; Nr. 9) und Quellcluster herauszufinden (Nr. 10) zu viel auf Wunschdenken gesetzt (Kinder weniger infektiös; Nr. 13) und schlecht kommunziert (Nr. 14).
Am 13. Oktober (Tag 216) rantete ich mich auf Englisch aus und beschrieb schon ausführlich, weshalb Österreich die zweite Welle versaut hat. Eine längere Fassung auf Deutsch schrieb ich am 22. November (Tag 254). Jetzt ist Ende Dezember und Gesundheitsminister Anschober kann sich immer noch nicht erklären, warum die zweite Welle so viel stärker ausfiel als die erste.
Warum fiel die zweite Welle stärker aus als die erste?
Die kürzeste Version wäre: Perkolationseffekt.
- Steigende Zahlen seit Mitte Juni, als großzügig gelockert und die Pandemie für vorüber erklärt wurde.
- Heftig umworbener Sommertourismus und weitere Lockerungen mit Großveranstaltungen. Vor allem junge Altersgruppen betroffen mit großer Mobilität.
- Vor Schulbeginn wurde Schnupfen als Covid-Symptom von Allerberger gestrichen (im RKI weiterhin Symptom!), damit Kinder bei Schnupfen nicht getestet.
- Genau in die Zeit um/nach Schulbeginn fällt eine massive Verharmlosungs/Desinformationskampagne durch Ärztekammer OÖ und Freunden (“Labortsunami”) und ServusTV, am Land existiert Corona nicht mehr. Auch Anschober bestreitet, dass eine zweite Welle bevorsteht.
- Schulbeginn. Keinerlei Sicherheitsvorkehrungen. Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass man bei hoher Inzidenz keine Schulen aufmachen darf. Selbst wenn Kinder und Jugendliche weniger beitragen würden, werden sie zum Mitläufer, wenn community spread hoch ist. Wegen des hohen asymptomatisches Anteils fällt die ersten Wochen nicht auf, wie hoch das Infektionsgeschehen an Schulen wirklich ist.
- Mit Ende September bis Mitte Oktober gibt es zwei Mal sprunghafte Anstiege im Infektionsgeschehen, und zwar sowohl durch die Schulen (Kinder infizieren Eltern, Eltern infizieren Kollegen und Freunde) als auch die beiden markanten Kaltlufteinbrüche, wodurch sich Freizeitgeschehen ins Innere verlagert, ohne ausreichend Abstand, ohne Lüften, vor allem aber ohne Masken (Schulen, Arbeitsplätze) und mangels Verständnis von Aerosolen reicht Abstand alleine indoor nicht aus.
- Bis 11. Oktober der Wien-Wahlkampf, der rechtzeitiges Handeln verhindert hat und (fast) keine der werbenden Parteien wollte unpopuläre Maßnahmen wie Schulen schließen oder Lockdown ankündigen, geschweige denn zugeben, dass Kinder und Jugendliche sehr wohl eine Rolle spielen und umfangreiche, kostspielige Schutz- und Betreuungsmaßnahmen notwendig sind.
- Am 22.10. gibt die AGES unter Schmid zu, dass das Contact Tracing zusammengebrochen ist. Sie haben zahlreiche Mini-Haushaltscluster, wissen aber nicht, wie das Virus in die Haushalte kommt. Weil das Virus stark überdispersiv verbreitet wird (20% infizieren 80%), scheint es unwahrscheinlich, dass diverse Hochzeiten und geschlossene Gesellschaften alleine schuld sind. Viel naheliegender ist die Annahme, dass die Schüler das Virus in die Familien tragen. Das wird aber nie in Betracht gezogen, da die AGES-Daten das nicht hergeben. Wie auch, wenn der ÖGKJ dem Gesundheitsministerium empfiehlt, Kinder unter 10 nicht zu testen …
- Bis Ende Oktober geht die Verharmlosung weiter, gipfelnd mit dem Society-Interview von Allerberger im Ö3, das auch dank der Pressemeldungen ziemlich viel Reichweite gefunden hat.
- Eltern tragen das Virus zu den Großeltern, die erhöhte Sterblichkeitsraten haben. Pfleger und Gesundheitspersonal infizieren sich durch Kinder und Angehörige und tragen das Virus in die Spitäler und Pflegeheime. Die Hälfte der Toten stammt von dort. Bis Mitte November wurde das Personal nie verpflichtend und regelmäßig getestet, FFP2-Masken waren nicht überall vorgeschrieben.
- In manchen Spitälern ist ab November Triage längst Realität, es herrschen chaotische Zustände: https://systembericht.at/
Dazu drei Zitate von Anschober (die nicht mehr auf die Grafik gepasst haben):
…dass es zu keiner Katastrophe und keinen Triagen kommt, das ist gelungen (02.12.)
Das wichtigste Ziel ist weiterhin, die Kapazitäten des Gesundheitssystems nicht zu überfordern. Triagen sollten nicht eingesetzt werden. Das ist als Hauptziel definiert worden. Die große Katastrophe konnte verhindert werden. (10.12.)
„Ich war daher zuletzt am Montag – und bin immer wieder – in Spitälern und vor allem spreche ich mit den
MitarbeiterInnen der ICU. Für mich sind diese Aussagen die wichtigsten. (12.12.)
Mehr Zitate in meiner Zitatschau (mittlerweile 30 Seiten).
Österreich war Mitte November weltweit an der Spitze der täglichen Neuinfektionen und führte seit Anfang Dezember bei den täglichen Todesfällen, jeweils gemessen an der Einwohnerzahl.
Epilog
Die Wucht der zweiten Welle haben die Virologen Drosten und Krammer schon Ende April vorausgesagt, während Anschobers Haus-und-Hof-Infektiologe Allerberger sich Anfang Juli noch fragte ….
” warum uns jetzt ein zweiter Tsunami bevorstehen sollte, der größer ist als der erste Erkrankungsgipfel”
Dabei haben das Drosten und Krammer mit wenigen Worten klar und deutlich erklärt: Im Sommer verbreitet sich das Virus mit der steigenden Mobilität in der Gesamtbevölkerung und im ganzen Land. Damit sind nicht nur einzelne Regionen betroffen, wo Cluster eingrenzbar und beherrschbar wären. Mit Beginn der kalten Jahreszeit verlagert sich das Leben nach drinnen und die Zahlen schießen durch den Perkolationseffekt nach oben. Auch andere Experten haben vor allzu großen Lockerungen und der Gefahr einer zweiten Welle gewarnt: Wagner, Zangerle, Greil, von Laer, Burgmann – man findet alle ihre Zitate oben im Dokument. Und das ist *nur* die lokale Expertise. Gleichlautende Warnungen gab es in unseren Nachbarländern. Wenn mein Haus-und-Hof-Infektiologe so gravierend falsch liegt und dieser Fehler mitverantwortlich ist für mehrere tausend Tote, weil man nicht rechtzeitig gegengesteuert hat, dann tausche ich ihn aus, Himmel nochmal!
Fazit: In meinen Augen eine Katastrophe mit Ansage. Auch ohne Mutation. Die macht uns nur in den nächsten Monaten bis zur Impfung das Leben noch viel, viel schwerer als wenn wir rechtzeitig eine ZeroCovid-Strategie gefahren wären, zumindest mit dem Ziel, mit der Inzidenz so niedrig wie möglich zu gehen. Dann lassen sich selbst Mutationen leichter nachverfolgen.

In Großbritannien begann die dritte Welle bei einem Niveau, wie es Österreich jetzt nach Weihnachten erreicht hat. Der Anstieg ist fast so stark wie jener der zweiten Welle in Österreich. Das sollte uns eine Warnung sein.