
Michel Reimon, einer der prominentesten grünen Politiker, hat sich gestern als LongCOVID-Betroffener geoutet und damit die immune Grundnaivität der grünen Abgeordneten entlarvt. Die burgenländische Landtagsabgeordnete Regina Petrik: “Wir müssen dieses Virus noch viel ernster nehmen, als wir dachten.” und Stefan Wallner, Kabinettschef von Vizekanzler Kogler: “Viele von uns unterschätzen das.” Aussagen, die man als symptomatisch für das grandiose Fehlversagen im Gesundheitsministerium betrachten kann.
Gewissermaßen das I-Tüpfelchen ein (nach massiver Kritik gelöschter) Tweet der ehemaligen Pressesprecherin vom Gesundheitsministerium Margit Draxl, die in ihrem Abschiedsthread viele Betroffene und Angehörige vor den Kopf stieß mit ihrer Aussage: “Wer nicht die letzten eineinhalb Jahre im Gesundheitsministerium gearbeitet hat, hat Corona nicht erlebt.”
Wir – das sind NoCovid-Anhänger, Mediziner, Wissenschaftler und Citizen Journalists – haben vor den Spätfolgen von Corona nicht gewarnt, um Panik zu verbreiten oder das Standing der Grünen gegenüber dem türkisen Koalitionspartner zu schwächen. Wir schauten einfach über den Tellerrand: Die erste Welle hat Länder wie UK oder USA hart getroffen – gleichzeitig gibt es dort eine hohe Datentransparenz und viel wissenschaftliche Forschung. Daher wussten wir schon frühzeitig, was sich auch bei uns unter dem Radar abgespielt hat und noch auf uns zukommen sollte.
Long COVID sind keine Einzelfälle
Wir schreiben Ende Mai 2021. Vor einem Jahr las ich den ersten persönlichen Erfahrungsbericht zu Long COVID – ein Professor für Tropenmedizin beschrieb, wie sich Covid19 nach über 9 Wochen Krankheit anfühlte. Bis dahin war ich wie viele junge Menschen in der Bevölkerung der Meinung, mir könnte das Virus nichts anhaben. Ich hoffte, zu erkranken, bevor die Spitäler überlastet waren – die Bilder aus Italien hinterließen ihre Spuren. Der Allgemeinmediziner und Covid19-Arzt Ramin Nikzad beschrieb die Gefühlshochschaubahn treffend in einem Facebookposting: Nachdem sich die Berichte und Erfahrungen zu den Langzeitfolgen der Covid19-Infektionen häuften, drehte sich das Blatt: Niemals wünschte man sich fortan, das Virus zu bekommen. Ich begann schon im Sommer im Kollegenkreis auf LongCOVID hinzuweisen, wurde aber meist als nur belächelt – woher sollte man das jetzt schon wissen, wo das Virus doch erst wenige Monate bekannt war? Im Herbst verdoppelte ich meine Anstrengungen und führte meine gesammelte Literatur im separaten Menüpunkt “Long COVID” zusammen.
Bereits am 23. September 2020 fasste ich das, was mit wenigen Ausnahmen bis heute gültig ist, im zweiten Übersichtsartikel zusammen. Dort steht alles zu den heute anerkannten Übertragungswegen, vorwiegend Aerosole, dass Kinder ähnlich infektiös sind wie Erwachsene, was Masken bringen und weshalb Face Shields ungenügend waren. Ich beschrieb den Zeitversatz zwischen Infektion und Hospitalisierungsrate, und dass Covid19 über den Sommer nicht harmloser wurde, nur weil die Sterberate nicht sofort hinaufschnellte. Ich widmete auch ein kleines Kapitel den Spätfolgen:
“Anfangs waren es überwiegend Berichte über Lungengewebsschäden („ground glass opacity“), später häuften sich Berichte über Schäden an allen Organen, vor allem am Herz, an den Nieren, aber auch im Gehirn, mit neurologischen Schäden (Schlaganfälle, Epilepsie, Lähmungen, kognitive Störungen). Diese können alle Altersgruppen betroffen, auch junge Menschen, wozu es inzwischen etliche Einzelschicksalsberichte, aber auch breiter angelegte Studien gibt.”
Erstmals medienwirksam bekannt wurde Long COVID durch die Intensivmedizinerin Barbara Friesenecker in “Im Zentrum” am 01. November 2020:
“Wir haben junge Menschen mit Gedächtnisstörung, schlechter Nierenfunktion, massiver Leistungseinschränkung, betroffenem Herzmuskel. Es ist nicht gut zu sagen: ‚Ich bin jung. Wenn ich krank werd, ist es egal.‘ So ist es nicht!“
Diese Aussage ging leider unter, weil sich am Folgetag, dem letzten Tag mit offener Gastronomie der tragische Terroranschlag in Wien ereignet hat und die Aufmerksamkeit in den folgenden Wochen woanders lag. Dies und auch das wochenlange Herunterspielen des exponentiellen Wachstums führte zum Exzess der zweiten Welle, in der sich viele Menschen, darunter wahrscheinlich auch Michel Reimon, infiziert haben.
Am Tag 279 (17. Dezember) fasste ich meinen bisher gesammelte Literatur zu Long COVID zusammen und zog bereits die Schlussfolgerung, dass nur eine Containment-Strategie (NoCovid) die Zahl weiterer Betroffener verringern könnte. Virologe Drosten prophezeihte im NDR-Podcast vom 08. Dezember 2020, als die Regierung fürs Weihnachtsgeschäft zu früh lockerte, bereits die Situation, die wir jetzt haben:
“Wir werden dann aus dem Sommer rauskommen und werden dann auch große Infektionszahlen sehen in einer Bevölkerung, die wir im Moment nicht haben. In der gesunden, normalen, jüngeren Bevölkerung, wo keine Risikofaktoren sind. Kinder zum Beispiel werden zu der Zeit durchinfiziert werden in großem Maße und auch deren Eltern. Auch jüngere Erwachsene, die eigentlich keine Risikofaktoren haben. Wir werden dann auf den Intensivstationen in Deutschland eine andere Art von Intensivpatient sehen. Nämlich diejenigen, die aus voller Gesundheit, vollkommen überraschend einen schweren Verlauf bekommen haben. Die sehen wir jetzt schon, die gibt es jetzt schon manchmal. Die wird es dann in großen Zahlen geben.”
Reimon spricht in seinem Text von 10-20% aller Corona-Infizierten, was manche Kommentatoren als zu hoch einschätzen. Tatsächlich ist es genau die Größenordnung, die auch in vielen Studien immer wieder auftaucht. Es gibt aber auch Langzeit-Studien mit wesentlich höheren Prozentangaben, siehe Policy brief 39: In the wake of the pandemic (25.02.21). In einer noch nicht fachlich begutachteten Studie aus Norwegen ist sogar jeder zweite junge Patient mit mildem Verlauf nach sechs Monaten noch nicht gesund (Blomberg et al., 23.02.21). In einem östereichischen Bericht vom 13. Oktober 2020 sprach man von 35% der ambulanten Fälle und 87% der hospitalisierten Patienten. In Österreich sind die oft genannten 10% also eine ziemlich konservative Schätzung und bei über 600 000 “Genesenen” sind es nicht nur 60 000 Betroffene, sondern eher zwischen 100 000 und 200 000 “Überlebende”.
Reimon hat seine Infektion trotz regelmäßiger Tests nicht bemerkt und entwickelte erst danach typische LongCOVID-Symptome mit guten Phasen und zwischendurch schlechten Phasen mit ausgeprägter Erschöpfungsmüdigkeit. Die britische Epidemiologin Nisreen Alwan, selbst LongCOVID-Betroffene, bestätigte gestern in ihren Tweets, dass die Erkrankung in Schüben verläuft und in der Schwere der Symptome variiert. Die wechselnden Phasen wären nicht immer vorhersehbar (nicht ausschließlich aufgrund von Überlastung), was das Leben und Arbeiten mit Long COVID so unberechenbar macht.
Ende Jänner erlitt Reimon seinen ersten epileptischen Anfall. Der MRT-Befund blieb negativ.
“Ein Zusammenhang mit Long Covid und der Entstehung von Epilepsie wurde im Jänner noch gar nicht wissenschaftlich diskutiert. Inzwischen gibt es Hinweise darauf, aber von Gewissheit keine Spur. Es könnte Zufall sein.”
Dieses Zitat ist erstaunlich, denn wie oben geschrieben, erwähnte ich doch Epilepsie als mögliche Folge schon im September 2020. Epileptische Anfälle als Covid19-Spätfolge sind glücklicherweise selten, wurden aber von Asadi-Pooya bereits im Mai 2020 beschrieben. Ein Ärzteblatt-Artikel vom Mai 2020 geht ebenfalls auf neurologische Manifestationen, darunter Epilepsie und Schlaganfälle, ein. Für Virologen war das wahrscheinlich spätestens ab dem Zeitpunkt nicht mehr verwunderlich, als die signifikante Zahl an Patienten mit Verlust von Geruchs- und Geschmacksinn bekannt wurde. Denn so gelangt das Virus vom Riechnerv direkt ins Gehirn und verursacht kognitive und neurologische Symptome. Das wurde bei Politi et al (29.05.20) erstmals beschrieben. Ein weiterer Artikel über neurologische Symptome stammt von Ellul et al. (Juli 2020). Am 9. August 2020 warnte ein in Neuseeland geborener Arzt vor dem Virus. Er hatte einen milden Verlauf und sechs Wochen später seinen ersten epileptischen Anfall. Gehirn und Lunge waren ok, doch ein EEG diagnostizierte erstmals auftretende Epilepsie. In Summe ist die Aussage oben also falsch – ein Zusammenhang mit (post acute) Covid19 wurde schon im Frühling 2020 diskutiert. Angesichts zahlreicher weiterer neurologischer Symptome ist ein Zufall ziemlich unwahrscheinlich, zumal Reimon nach eigenen Schilderungen auch kognitive Symptome aufweist. Nun ist Reimon lediglich Patient, erschreckend ist vielmehr, dass selbst die behandelnden Ärzte nichts von einem möglichen Zusammenhang wussten.
Mitte April hatte Reimon seinen zweiten epileptischen Anfall. Nur dank einer klinischen Psychologin kam er darauf, dass eine unbemerkte Covid19-Infektion dahinterstecken könnte und ein Antikörpertest ratsam war. Reimon hat schon entdeckt, dass auf starke Belastung stärkere Rückfälle folgen, und dass er das zu vermeiden versucht. Das würde ihm vermutlich auch Neurologe Michael Stingl raten, denn die Erkrankung lässt sich nicht austrainieren. Pacing ist wichtig, damit aus dem LongCOVID-Verlauf kein ME/CFS wird.
„Trotz der massiven Auswirkungen der Erkrankung gibt es weder Beratungsstellen, noch ambulante Anlaufstellen oder stationäre Einrichtungen für Notfälle. Zusätzlich stellen veraltete und mangelnde Informationen zu ME/CFS im österreichischen Gesundheitswesen ein großes Problem dar.“
Einzelne Artikel von engagierten Journalist*Innen haben MECFS inzwischen im Blickfeld, z.B. Tamara Sill (ORF) am 18.05.21 oder Felix Schmidtner (Arbeit & Wirtschaft, 25.05.21). Und auch der neue Gesundheitsminister Mückstein machte medienwirksam mit Leiberl auf MECFS aufmerksam.
Sie wissen es, handeln aber nicht danach
Spätestens jetzt werde ich wieder wütend, denn die verantwortlichen Akteure in der Regierung wissen schon lange über LongCOVID Bescheid. Wie ihr durch zahlreiche Blogtexte und Faktenchecks längst wisst, lag Allerberger in fast allem falsch, was er öffentlich hinausplurvte. Nur einmal lag er richtig, und zwar zu den Folgeschäden von Covid19:
Dennoch hält Allerberger die gegen die Corona-Pandemie ergriffenen einschränkenden Maßnahmen für angebracht. Dies auch im Blick darauf, dass die Covid-19-Infektionen sehr viel schwerer verlaufen kann als Grippe – und wesentlich öfter schwere Spätfolgen verursacht. Auch bei milderen Verläufen könnten Dauerschäden nicht nur an der Lunge, sondern auch an Herz, Nieren etc. aufgetreten, die “wochen-, monate- wenn nicht jahrelang” anhalten könne. (zib2, 19. August 2020)
„Bei Covid sind offensichtliche Schäden häufiger. Es gibt Erkrankte, die heute, Wochen nach der Infektion, noch nicht wieder riechen können oder am Lungenröntgen Schäden zeigen. Auch Leber und Nieren sind stark betroffen. Ein großes Problem ist das Chronic Fatigue Syndrome, das wie ein Burnout verläuft. Man ist chronisch müde und in der Leistung eingeschränkt.“ (Oberösterreichische Nachrichten, 26. August 2020)
Auch Infektiologe Wenisch wusste von LongCOVID, zumindest bei hospitalisierten Patienten:
“Der Respekt von COVID kommt ja vor die Folgeerkrankungen, der erhöht sich ja. Wenn ich weiß, ich bin drei Tage krank, das halte ich schon aus, das ist so wie ein schlechtes Essen, des geht, aber immer schlechtes Essen,
das ist schon was anderes. Genauso ist es mit der Erkrankung, Myokarditis, immer schwach, kognitive Störungen, nie wieder einen Vortrag halten, nie wieder, du bist weg da, keine Luft kriegen, du kannst nimmer Ski fahren gehen,
laufen, nix mehr kannst, da wird richtig der Stecker aus dem Leben gezogen. Und das ist das, was 50% der COVID-Patienten betrifft. Die nicht betreffenden können eh, aber das ist ein Thema, das man mit dem Impfen auch weggekriegt, das ist eine Bedeutung, die ein bissl unterschätzt wird.” (Vortrag von Wenisch im St. Josef Krankenhaus Wien, 21.01.21)
Trotz dieser Klarheit hat sich Wenisch nie dezidiert auf die Seite der NoCovid-Befürworter gestellt und mehrfach betont, dass ihm die Kinder “powidl” sind bzw. “so wurscht”:
“Mit Corona und den Kindern habe ich überhaupt keine Angst, das ist mir Powidl, weil die Kinder nicht gefährdet sind. Corona ist keine Kinderkrankheit, das ist etwas für Erwachsene.” (“Frühstück bei mir”, Ö3, 06. September 2020)
Am 10. Februar 2021 sprach Infektiologe Weiss, der das Land Tirol (ÖVP) berät, im Außerferner Regionalfernsehen Klartext: “Es ist keine harmlose Erkrankung, sondern eine Erkrankung, die es durchaus in sich hat.“ Er sprach dabei auch Long COVID bzw. schwere Verläufe bei gesunden Menschen an.
Am 22. Februar 2021 wies die Landärztin Susanne Rabady, die auch Mitglied der Corona-Taskforce im Gesundheitsministerium ist, im Gesundheitsausschuss des Parlaments auf Langzeitfolgen hin:
“Die Erfahrung zeige, dass es den PatientInnen auch bei milden Verläufen oft ziemlich schlecht gehe, die Betreuung sei schwierig aber machbar. Es gebe jedoch einen Punkt, jenseits dessen eine gute ambulante Versorgung nicht mehr möglich sei,und zwar abhängig von der Anzahl der Erkrankten. Laut Rabady würden nun auch die Langzeitfolgen immer sichtbarer. Nach den zehn Tagen vorgeschriebener Quarantäne seien etwa 60% der PatientInnen noch nicht beschwerdefrei. Langzeitfolgen hätten außerdem nichts mit dem Alter oder Vorerkrankungen zu tun und nur wenig mit der Schwere des Verlaufs. Rabady zeigte sich überzeugt: Insgesamt helfe nur eine Prävention der Infektion.”
Am 26. Februar 2021 ließ Gesundheitsminister Anschober in einer Presseaussendung erstmals erkennen, dass LongCOVID bekannt war. Wie in seiner Abschiedsrede individualisierte er als einer der wenigen Politiker mit Verantwortung die Covid19-Schicksale:
“Hinter jedem Todesfall stehen ein persönliches Schicksal, eine Geschichte und ein Leben.”
Und zu LongCOVID:
“All diese Entwicklungen zeigen uns, dass das Risiko der Corona-Pandemie für unsere Gesundheit enorm ist und von Teilen der Bevölkerung und der Politik nach wie vor unterschätzt wird.”
Im Gegensatz zum August 2020 sprach Allerberger später nicht mehr von milden Verläufen mit Spätfolgen, sondern übernahm wieder die GreatBarrington-Ideologie, die den Erfolg der Pandemiebekämpfung ausschließlich an der Mortalitätsrate bemisst.
„Bei jungen Infizierten seien schwere Krankheitsverläufe selten, Todesfälle gebe es so gut wie keine.“ (Oberösterreichische Nachrichten, 02. März 2021)
Anschober schien in der Nachbetrachtung der zweiten Welle eine Art Läuterung durchzumachen, zumindest gehörte er zu den Mahnern beim Beginn der dritten Welle bis zu seinem Rücktritt am 13. April 2021. Allerdings zeigte sich die Einsicht zu den dramatischen Folgen der hohen Infektionszahlen nicht in seinen Aussagen und Handlungen:
„Heute haben wir einmal den Grundkonsens geschaffen, dass unser Hauptblickpunkt und unser Entscheidungskriterium die Situation auf den Intensivstationen ist.“
Viel schlimmer allerdings diese Aussage:
“Ja, wir haben ein zusätzliches Problem durch diese britische Variante, es kommen vor allem in letzter Zeit ÜBERRASCHEND viele junge Menschen auch auf die Intensivstation.” (zib2, 22. März 2021)
Da fragt man sich schon: Wer vorbereitet Anschober für seine Arbeit? Dass die britische Variante ansteckender war und vermehrt jüngere Leute betraf, erfuhr man im NERVTAG-Update am 11. Februar (UK), aus Israel und aus Dänemark am 25. Februar, Bager et al. (02. März), Challen et al. (10. März). Ich sag damit jetzt nicht direkt, dass Anschober inkompetent war, aber zumindest seine Berater – und Anschober hat bis zum Schluss nicht erkannt, dass er von Inkompetenzlingen umgeben war.
Wir haben so oft gehört, dass erst nach Überlastung der Intensivstationen schärfere Maßnahmen erfolgen würden, dass die Konsequenz daraus übersehen wurde: Die in Kauf genommenen Tote nach schwerem Verlauf (über ein Drittel auf der Intensivstation überlebt nicht, von den anderen stirbt jeder Zehnte innerhalb von sechs Monaten nach Entlassung) und die hohe Zahl an LongCOVID-Betroffenen.
Die Überlastung der Spitäler ist regional viel früher eingetreten als uns die AGES-Statistik glauben machen wollte.

Ich frage mich bis heute, ob Gesundheitsminister Anschober auf Allerberger und seine AGES-Kollegen schlicht und einfach hereinfiel und nicht bemerkt hat, dass immer genug “zusätzliche Betten” frei waren, sodass die befürchtete Überlastung nie eintrat.
„Peinlich genau wurde deshalb darauf geachtet, dass auf den Intensivstationen stets genügend freie Betten zur Verfügung standen. Solange dies gegeben war, konnten Behörden und Regierung beschwichtigen und Kritik am schwedischen Sonderweg zurückweisen.“
Schwere Vorwürfe gegen Schwedens Coronapolitik, 11.10.20
Allerberger hat Anschober regelmäßig getestet und dabei gebrieft. Anschober konnte es aber nicht entgangen sein, dass Allerberger engen Austausch mit dem schwedischen Chefepidemiologen Tegnell pflegte (vgl. “New Year’s Lecture Session am 14.01.21 bei der AGES, wo Allerberger den “Schwedischen Weg” über den Klee lobte. Derselbe Weg ist für inzwischen knapp eine halbe Million Tote in Brasilien verantwortlich).
Mit unendlicher Bettenkapazität nimmt man unendlich viele LongCOVID-Betroffene in Kauf und natürlich viele Schwerkranke, die ebenso eine lange Reha vor sich haben. Das muss den politisch Verantwortlichen doch bewusst sein?!
Ich teile viele Argumente und Aussagen von Anschober nicht, auch nicht in seiner Abschiedsrede vom 13. April 2021, aber diesen Absatz hier schon, die auch seinem Nachfolger Mückstein nicht entgangen sein dürfte:
„Und wir haben ein Phänomen, das in Österreich noch viel zu wenig Thema ist, und das Ziel dieser Woche war eigentlich gewesen, es zum Thema zu machen, sichtbar zu machen, und Maßnahmen einzuleiten, das ist: Long COVID. Das sind viele, viele, viele Betroffene, die vielfach nur leicht betroffen sind am Beginn und dann nach Monaten doch sehr sehr gravierende Spätfolgen und Probleme haben. Britische Studien gehen von 10% Infizierten aus, die von LongCOVID betroffen sein werden, und ich denke, wir müssen in der österreichischen Gesundheitspolitik dieser Gruppe in der Bevölkerung alle Möglichkeiten, die es braucht geben, was Betreuung betrifft, was Anerkennung als Krankheit betrifft, und vieles andere mehr, und deswegen warne ich davor, dass ein Gefühl entstehen könnte, dass man dann, wenn die Risikogruppen und ältere Mitbürger und Mitbürgerinnen durchgeimpft sind, dass man dann zu rasch öffnen könnte. Es geht um jeden einzelnen Infektionsfall, der vermieden werden muss.“
Die Hoffnung, die ich in den Arzt Mückstein gelegt hatte, zerstob sich bald nach diesen Aussagen:
„Lockdowns gehören dann gemacht, wenn Intensivbetten voll sind und wenn Leutesterben. Das glaube ich auch immer noch. Da habe ich meine Meinung nicht geändert.“ (zib2, 20. April 2021)
„Also, wenn Leute in Österreich sterben, weil sie kein Intensivbett mehr bekommen, und die Bundesländer nicht reagieren, dann reagiere ich. Dazu habe ich die Ermächtigung.“ (ORF, 15. Mai 2021)
Gegen Ende erwähnt Reimon dann den Gesundheitsminister, und das, was er schreibt, macht mich wie bei Anschober ziemlich fassungslos:
“Wolfgang Mückstein weiß das, er hat es als Allgemeinmediziner in seiner Praxis erfahren, bevor er Gesundheitsminister wurde. Das war so ziemlich das erste, worüber wir danach gesprochen haben. Er richtet jetzt eine Arbeitsgruppe ein, ein besonderer Schwerpunkt soll zunächst auf der Diagnose liegen. Die Hausärzte und AllgemeinmedizinerInnen von Vorarlberg bis zum Burgenland werden jene sein, die die unerkannten Fälle von Long Covid aufspüren müssen. Nun nimmt diese Gruppe ihre Arbeit auf, Wolfgang Mückstein und unser Gesundheitssprecher Ralph Schallmeiner sind da sehr dahinter, ich danke beiden sehr dafür.”
Ja, wenn er es dann weiß, warum gilt für ihn als oberstes Ziel bis heute, Triage-Situationen in den Spitälern zu vermeiden? Das soll mir bitte jemand erklären. Bei Anschober genauso.
Zeitgleich groß zu lockern, auf verpflichtende Tests bei Kinden zu verzichten, Kontaktbeschränkungen selbst indoor weitgehend aufzuheben, während die Indische Variante in UK dominant wird, und sich dann für LongCOVID-Betroffene einsetzen – ist widersinnig. Das erinnert mich ein wenig an Red Bull, das Extremsportarten fördert und sich gleichzeitig für die Forschung bei Rückenmarksverletzungen einsetzt.
Was wir tun müssten …
Anschober sprach am 27. Februar 2021 davon, dass “Schuldzuweisungen das Schlechteste innmitten einer Pandemie” wären. Uns ging es aber (zunächst) nicht um Schuld, sondern um Verantwortung und vor allem, um Fehler in der Pandemiebekämpfung rechtzeitig zu korrigieren. Stellt Euch vor, wir hätten schon im Frühherbst Long COVID so ernstgenommen wie jetzt einige betroffene Politiker, dann wäre die “Auslastung der Intensivstationen” nicht mehr das einzige Kriterium geworden, um frühzeitig Maßnahmen zur Kontaktreduktion zu setzen. Ich würde sogar, mal die türkisen Interessenskonflikte beiseite legend, soweit gehen, dass man stärker auf Aufklärung und Transparenz hätte setzen können, BEVOR man zum Lockdown-Hammer greifen muss.
LongCovid und Komplikationen nach Hospitalisierung berücksichtigen hat aber nur eine einzige logische Konsequenz: NoCovid, Niedrige Inzidenzen. Weniger Infizierte, weniger Betroffene – so einfach ist es. Es geht um jeden einzelnen Fall. Anschober hat viel Unfug während der Pandemie verzapft, hier hat er aber Recht mit seiner späten Erkenntnis.
Dem grünen Gesundheitsminister wird nämlich dämmern, dass über 100 000 LongCOVID-Patienten zu versorgen auf Jahre gesehen dem Staat ziemlich teuer kommen wird. Würde das jetzt – was türkis will – ohne Reichensteuer auf die Niedrigverdiener abgewälzt, sehen die Grünen ziemlich alt aus. Was wollen sie noch alles mittragen, um die Blauen zu verhindern?
Vielleicht wird es den grünen Regierungsmitgliedern aber auch dämmern, dass es eine vermeidbare Zahl an Toten gegeben hätte, und vermeidbare schwere Verläufe. Dann reden wir darüber, wer die Verantwortung dafür übernimmt, dass “Triage verhindern als oberstes Ziel” ein Fehler war. Mit dem Impffortschritt ist absehbar, dass die Überlastung der Spitäler spät eintritt. Sofern die Indische Variante sich nicht schneller ausbreitet als erwartet, könnte diese Überlastung sogar erst im Herbst eintreten. Bis dahin werden sich aber weitere tausende Menschen infizieren, darunter vor allem die jüngere Bevölkerung, auch viele Kinder, die an LongCovid-Symptomen leiden.
Bis Herbst erreichen wir die Schwelle für Herdenimmunität nicht. Bis Herbst verlieren Genesene ohne Impfung und manche Geimpfte den Infektionsschutz (IgG/IgA-Antikörper auf den Schleimhäuten). In Ländern wie UK, Chile und Uruguay sieht man exemplarisch was passiert, wenn man sich zu euphorisch auf die erfolgreiche Impfkampagne verlässt.
Die vollzogenen und angekündigten Lockerungen werden von unzureichenden Maßnahmen begleitet. Wir bräuchten eine österreichweite Verfügbarkeit der (gepoolten) PCR-Gurgeltests, situationsangepasste Maßnahmen (indoor mehr PCR statt Schnelltests), in der Gastronomie mehr outdoor statt indoor – indem man z.B. draußen nicht kontrolliert, drinnen aber schon und so den Unsicherheitsfaktor “schlechte Schnelltests” minimiert. Oder drinnen PCR-Tests verlangt, draußen nicht. Dazu müsste man aber mal eine breite Aufklärungskampagne zu Aerosolen starten – und nein, die AGES ist dafür der falsche Ansprechpartner!
Was für mich vorerst bleibt, ist Enttäuschung – dass die Grünen erst anfangen, Long COVID ernstzunehmen, wenn es einer ihrer Politiker betrifft und die vielen Betroffenen davor als Einzelfälle abgetan wurden. Offenbar hat man das Mantra “Intensivstationen nicht überlasten!” so oft wiederholt, bis man selbst geglaubt hat, dass es nur darum ginge. Im Anbetracht der Fülle an Daten und Studien, die seit etlichen Monaten über LongCOVID gesammelt wurden, kann man einen Großteil nur mit Inkompetenz erklären. Bei wissenden Protagonisten wie Wenisch, Weiss, Allerberger und auch Mückstein grenzt es aber an fahrlässige Unterlassung, sich nie für eine NiedrigInzidenz-Strategie ausgesprochen zu haben.
In diesem Sinne, gute Besserung Michel Reimon!