Tag 785: Pläne ohne Prävention?

Im Vergleich zu den Vorjahren wird die Talsohle der 7-Tages-Inzidenz immer höher,
Grafikquelle: Erich Neuwirth, 07.05.22

Aus aktuellem Anlass – das ZiB2-Interview mit Gesundheitsminister Rauch am 06.05.22 – wird es einmal Zeit in das FutureOperations-Arbeitspapier (Version 1.0) zu schauen, auf das sich Rauch bezogen hat. Ich hab es vorsichtshalber selbst gespeichert, weil die Ministerien dazu neigen, immer nur die aktuellste Version verfügbar zu machen: D

Darin tauchen ein paar bekannte Namen auf, z.B. Bergthaler, Czypionka, Elling, Foitik, Klimek & Popper und Michael Wagner. Inhalt sind Szenarien für den Herbst/Winter 2022, worauf sich alle seit Monaten vorbereiten und die laufende OMICRON-Welle und ihre Subvarianten geflissentlich ignorieren. Die Bevölkerung hat ihr Schicksal, durchseucht zu werden, großteils akzeptiert und erträgt die paar Wochen bis Monate Krankheit stoisch und ohne große Protestschreie, könnte man meinen.

Eine weitere Stellungnahme neben meiner findet man in diesem GoogleDoc-Dokument, das von Betroffenen verfasst wurde.

“Strategische Leitlinien” (S.2)

  • Leben retten, Leiden vermeiden, gesunde Lebensjahre gewinnen
  • Vorsorgeprinzip: Denkbare gesundheitliche Belastungen (z.B. Spätfolgen von SARSCoV2) und Kollateralschäden minimieren
  • Das Gesundheitssystem mittelfristig für alle funktional halten, damit sich negative
    Auswirkungen auf die reguläre Gesundheitsversorgung und damit die Gesundheit
    Einzelner in Grenzen halten
  • Dem vermeintlichen Antagonismus von Gesundheit und Wirtschaft entgegenwirken:
    Gesundheit braucht Wirtschaft und Wirtschaft braucht Gesundheit
  • Ökonomie und Bildung als Grundlage unseres Wohlstandes nicht weiter schädigen
  • Das gesellschaftliche Miteinander nicht gefährden – einer weiteren Polarisierung
    Einhalt gebieten
  • persönliche Freiheit nur so stark und nur so lange wie nötig einschränken
  • Beiträge zur internationalen, solidarischen Bekämpfung der Pandemie leisten

Auffallend ist die fehlende Erwähnung von LongCOVID/PostCOVID, hier lediglich unter “Spätfolgen von SARS-CoV2” aufgeführt, auf allen 14 Seiten des Arbeitspapiers.

“Maßnahmen (insbesondere strenge Kontaktbeschränkung, aber auch Maskenpflicht und moralisierende mediale Berichterstattung) führen zu einer Dauerstresssituation, haben teils unerwünschte psychosoziale und gesundheitliche Nebenwirkungen für Einzelne, und können verstärkte Polarisierung in der Gesellschaft zur Folge haben.”

Maskenpflicht doch wohl nur, weil seit jeher negativ konnotiert mit Bestrafung statt mit der besten und effektivsten Waffe gegen die Übertragung als Eigen- und Fremdschutz.

“Der saisonale Effekt auf den effektiven Reproduktionsfaktor (Reff) von SARS-CoV-2 wird mit etwa 40% angegeben.”

Die genannten 40% stammen aus Gavenciak et al. (19.10.21), der Untersuchungszeitraum fand jedoch vor dem Auftreten der ersten Virusvarianten statt. Sowohl 2020 als auch 2021 gab es in Österreich im Hochsommer deutliche Wiederanstiege. Rechtzeitiges Handeln hätte schon lange vor dem Herbst erneute große Infektionswellen gestoppt oder zumindest deutlich abgemildert.

Als Szenarien werden aufgeführt:

  1. Best case scenario: Der evolutionäre Raum, den SARS-CoV2 für die Mutationen hat, ist mit OMICRON ausgeschöpft. Es würde nur noch kleine Wellen geben, kaum Beteiligung der Lunge, “somit auch Vulnerable kaum von Covid19 bedroht”. Auswirkungen auf Gesellschaft wie bei Grippe.
  2. Favorable scenario: Endemischer Zustand erreicht, nur noch alle 1-2 Jahre Infektionswellen. “Focused protection” der Vulnerablen ausreichend.
  3. Median Scenario: Langsamer Übergang in endemischen Zustand, zunehmende Infektiösität, weiterhin hohe Inzidenzen, Bevölkerungsimmunität nimmt zu, dadurch mildere Verläufe. “Erwachsenen wird empfohlen, sich 1x jährlich impfen zu lassen.”
  4. Unfavorable Scenario: Anhaltende Pandemie, Umsetzung der Impfpflicht, Lockdowns ggf. notwendig. “Besonders im Umfeld älterer und vulnerabler Personen, sowie in Kindergärten und Schulen soll hochfrequent getestet werden. Breitentestungen sind nicht auszuschließen.”
  5. Worst case scenario: Neue Virusvarianten, die Immunschutz vollständig umgehen, steigende Mortalitätsrate. “Im ungünstigsten Fall einer deutlich gesteigerten Pathogenität ist als Antwort eine Null-Covid-Strategie zur Unterbindung aller Infektionsketten notwendig. Dies kann Lockdowns und starke Kontakt- und Mobilitätsbeschränkungen (Grenzschließungen, Home Office, Schulschließungen etc.) beinhalten.”

Bisher haben einzelne Autoren (Bergthaler, Wagner, Elling) auf Nachfrage bzw. Kritik, dass LongCOVID, PIMS bei Kindern, langfristige Maßnehmen gegen Aerosol-Übertragung völlig fehlen, darauf verwiesen, dass dies in der Version 2.0 besprochen werden soll. Ebenso fehlt der Impact auf Lebensqualität, Versorgungslage durch Sozialversicherungen und ärztliche Anlaufstellen, langfristiger Impact (> 6-12 Monate) auf die Wirtschaft durch Arbeitskräftemängel, Langzeitkrankenstände. Kinder werden bei Impfungen gar nicht erwähnt. Unter 25% der U15 sind bisher zweifach geimpft. Kindergärten und Schulen sind die Virendrehscheibe jeder weiteren Welle. Zu beachten auch der Verlust an vielen gesunden Lebensjahren bei Kindern.

Nun muss ich doch ein klein wenig ungehalten werden, aber die einzelnen Szenarien klingen wie von Great-Barrington-Vertretern geschrieben! In Anbetracht der tausenden LongCOVID-Betroffenen in allen Altersgruppen unabhängig vom Impfstatus (8% auch bei 3fach Geimpften laut Ayoubkhani and Bosworth, 06.05.22) durch die beiden OMICRON-Wellen BA.1 und BA.2 klingt es wie blanker Hohn, dass “Vulnerable kaum von Covid19 bedroht werden”. “Focused protection” hat noch nie funktioniert, und wie wir jetzt sehen ohne Test- und Maskenpflicht, mit erneuter Präsenzpflicht in Schulen und im Büro, stecken sich viele “Vulnerable” an, die bis dahin verschont geblieben sind, die meisten übrigens über ihre Kinder, die in allen Szenarien anscheinend vergessen wurden. ZeroCOVID wird als Worst Case Scenario geframed und mit Lockdowns und Mobilitätsbeschränkungen in Verbindung gebracht – die lange erfolgreichen ZeroCovid-Staaten setzten eine Reihe von Maßnahmen, bevor Lockdowns als ultima ratio eingesetzt wurden. In Taiwan gab es z.B. nie einen Lockdown.

Ich kann es nicht nachvollziehen, wie man mit diesen Szenarien an die Öffentlichkeit gehen kann, und bestehende Narrative festigt: Kinder müssen nicht geimpft werden, sind nicht Teil der Pandemie, Schutzmaßnahmen in Schulen und Kindergärten sind irrelevant, Fokus sind alleine die Intensivstationen, Vulnerable gibt es wieder nur in Alten- und Pflegeheimen, nicht in jeder Altersgruppe, ZeroCovid ist ganz furchtbar und gleichbedeutend mit strengstem Lockdown.

Was die Medien daraus gemacht haben, ein besonders herausragendes Negativbeispiel auf Science ORF vom 04.05.22:

Covid19 ist keine Lungenkrankheit, sondern eine systemische Erkrankung (Robb and Bond 1979)! OMICRON war nicht harmlos, sondern führt bei (ungeimpften) Kindern 3x häufiger zu Hospitalisierungen als bei vorherigen Varianten (Martin et al., 30.01.22).

Das Interview mit Rauch in der ZiB2 am 06. Mai 2022:

“Es kann sein, darauf hoffe ich, dass es eine Virusvariante sein wird, die nicht viel schwieriger zu handeln sein wird wie jetzt […]”

Kunststück, wenn man alle Maßnahmen zurückfährt, die Bevölkerung durchseucht, die Kinder mehrmals, als Fokus aber nur die Intensivstationen hernimmt, während es auf den Normalstationen sehr wohl Überlastung gegeben hat. Dazu kamen tausende neue LongCOVID-Betroffene, darunter eben auch 3fach Geimpfte.

“Wer kommt mit welchen Erkrankungen ins Spital? Weil es nicht ausreicht nur zu wissen, jemand ist Covidpositiv oder eben nicht. Da muss man auch wissen und das ist eine Grundlage, um reagieren zu können, kommt jemand ins Spital mit einem Herzinfarkt und es wird dann zufälligerweise ein positiver Coronatest festgestellt, aber dann ist die Grunderkrankung eben nicht COVID, sondern ist die Herzerkrankung oder ein Herzinfarkt.”

Ein besonders schlechtes Beispiel, weil:

„Zudem haben sich laut den Medizinern Hauptdiagnosen wie Herzinfarkt, Thrombosen und Lungenentzündung nachträglich oft als Folge einer Coronavirusinfektion entpuppt.“

https://ooe.orf.at/stories/3140146/

Zudem ist die Unterscheidung gar nicht so einfach wie hier dargestellt. Ausführlicher dazu in der Seuchenkolumne von Robert Zangerle.

Und nein, einfach nein, die Grundlage sollte nicht sein, ob Menschen wegen einer akuten Infektion ins Spital müssen, sondern die mittlerweile dramatischen Auswirkungen von LongCOVID.

Wer die Auswirkungen von Covid19 relativiert und damit Covidverharmlosern einen Bärendienst erweist, indem vermeintlich mehr Menschen “mit” und nicht “wegen” Covid ins Spital kommen, der blendet auch aus, dass viel mehr Menschen “wegen” Covid im Spital landen, weil sie eine schwere Folgeerkrankung entwickeln.

Von den hospitalisierten Patienten, die eine Covid19-Infektion überleben, erholen sich übrigens nur knapp 30% innerhalb eines Jahres (Evans et al., 23.04.22). Bei fast allen LongCOVID-Patienten zeigen sich auch nach einem Jahr noch die Lebensqualität einschränkende Symptome (Tran et al., 05.04.22).

Maßnahmen, um vorbereitet zu sein

Dazu zählt Testinfrastruktur, u.a. Tests in Kindergärten und Schulen einzuführen, um Schulschließungen zu verhindern, Lüftungsmaßnahmen, CO2-Sensoren, Luftfilter, Frischluftzufuhr, sowie Abwassertestungen.

Erfolgreiche Kommunikationsstrategie

Die Autoren fordern eine Prozessreflexion, welche Fehler wurden begangen, welche sollten vermieden werden [z.B. in der Version 1.0 eines Arbeitspapiers die beiden wichtigsten Themen LongCOVID und ungeimpfte Kinder ausblenden].

“Eigenverantwortliches Ableiten zur Zielerreichung für die jeweiligen spezifischen Bereichen im Persönlichen, im Arbeitsbereich, im Sportbereich soll an Bedeutung gewinnen und kommuniziert werden.”

Gerade im Hinblick auf Fürsorgepflicht, Gesundheitsschutz, UN-Kinderrechtskonvention ist das Gegenteil der Fall – der Staat, die Behörden sollten mehr Aufgaben übernehmen, nicht weniger, z.B. gesetzliche Änderungen, um saubere Raumluft zum Standard zu erheben.

•Integrität bedeutet, dass sich die Akteur*innen ehrlich und sorgfältig informieren und beraten
und sich authentisch verhalten. Zudem sollte nicht der Eindruck entstehen, dass sie eigene
Interessen verfolgen oder Abhängigkeiten bestehen.

Interessante Aussage, wenn man beachtet, dass Klimek und Popper Co-Autoren des Arbeitspapiers sind, die im Zuge der Pandemie schon mehrmals mit Prognosen danebengelegen sind (z.B. Immunisierungsgrad der Bevölkerung am Beginn der OMICRON-Welle) oder der Politik im vorauseilenden Gehorsam sagen, was die Bevölkerung nicht mehr mittragen würde.

“Auch gilt es zu kommunizieren, dass COVID-19 eine der üblichen Todesursachen von betagten und immunsupprimieren Personen bleiben wird.”

Zu immunsupprimierten Menschen zählen Menschen aller Altersgruppen, auch das sollte man dann kommunizieren. Solange keine Schutzmaßnahmen ergriffen werden, um Infektionswellen dauerhaft niedrig zu halten, nimmt man ihren Tod in Kauf, damit die Mehrheitsbevölkerung so weiterleben kann wie vor der Pandemie, oder glaubt, es zu tun, denn durch Covid19 wird das Immunsystem selbst zumindest vorübergehend geschwächt, sodass Folgeerkrankungen tödlich ausfallen können (siehe oben).

Hannah Davis, eine LongCOVID-Forscherin, hat es treffend ausgedrückt:

“The entire pandemic response has been shaped around accommodating the distress intolerance of privileged people.”

Twitter, 07.05.22

Fazit:

Positiv: Das Paper wurde über Social Media geteilt und um Feedback gebeten.

Wenn aber LongCOVID-Betroffene/immunsupprimierte Menschen die erste Version lesen, die bereits breit mit Interpretationsspielraum in den Medien zirkulieren, kommen sie sich gepflanzt vor:

LongCOVID wird nicht erwähnt, wieder nur der Fokus auf Intensivstationen in allen Szenarien und ein unscheinbarer Nebensatz, dass Covid die “übliche Todesursache” für alte und immunsupprimierte Personen bleiben wird. Kann man dann nachvollziehen, dass die erste Reaktion auf diese Vorlage ungehalten ausfällt. Man erkennt zudem wie schon im GECKO-Protokoll, dass die Autoren keinen Konsens erreichen. Szenarien ohne Longcovid mit Autoren, die sich seit 2 Jahren für Longcovid-Aufklärung starkmachen. Ein kleines Kapitel zu den wichtigen NPIs. Scheinbar außen vor gelassen wird, dass die Mehrheit der Kinder nicht nur durchseucht wurde, sondern auch ungeimpft war/ist, und sich teils schon das dritte, vierte Mal ansteckte. In der nächsten Fassung sollte auch die *mysteriöse” Häufung von schwerer Hepatitis eine Rolle spielen, die, selbst wenn SARS-CoV-2 nicht der Alleinverursacher wäre, ein weiterer Grund ist, die Kindergärten und Schulen in den Mittelpunkt zu rücken und nicht in die nächste Version. Ungenügend außerdem die Literaturangaben (keine) zu den “szenarienunabhängigen Annahmen mit gesicherterer Wahrscheinlichkeit”.

Ich hoffe, die Version 2.0 fällt vertrauenserweckender aus und führt auch bei einzelnen Autoren zu einer Reflexion ihrer Rolle in der Pandemie. Wenn man nämlich schon vorab zur Politik sagt, was die Bevölkerung angeblich mitträgt oder nicht, dann werden sinnvolle Maßnahmen erst gar nicht mehr berücksichtigt, sondern man richtet sich nur noch nach der lautstarken Minderheit, nach Umfragewerten, die, wie wir hoffentlich alle wissen, nicht unbedingt im Wohl der Bevölkerung sind.

Und ich hoffe, man setzt die hier etwas stiefmütterlich behandelten, aber sehr wichtigen Maßnahmen wie CO2-Sensoren, Lüftungsanlagen, in der zweiten Version an die prominente erste Stelle, denn das Ziel muss sein, die Infektionszahlen zu senken, und nicht (nur) dafür zu sorgen, dass jeder auf der Intensivstation ein Bett bekommt, betreut von ausgelaugtem und kranken Gesundheitspersonal, das selbst vielleicht nicht zu vulnerablen Personen zählt und in allen Szenarien keinen besonderen Schutz erfahren soll (Kinder!), aber sehr wohl erkranken und länger ausfallen kann – durch LongCOVID.

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