Tag 241: Faktencheck Anschober, 7. 11., Ö1 Mittagjournal

Herbstfarben im Widerspruch zu meinem Gemütszustand

In den vergangenen Faktenchecks hab ich die Truth-Sandwich-Taktik angewendet. “The first frame wins” – darum steht die Wahrheit am Beginn. Die Lüge wird umformuliert, um nicht die gleiche Sprache wie der Lügner zu verwenden. Darunter wird erneut und nochmals betont auf die Wahrheit hingewiesen. In diesem Fall verzichte ich darauf, die Zitate umzuformulieren. Jeder soll das Gesagte selbst im Kontext der Wahrheit einordnen versuchen.

Wer bei der Lektüre ein déjà vu Gefühl hat: Ich habe gefühlt schon über alle Unwahrheiten geschrieben und keine Lust, das Rad dauernd neu zu erfinden.

Fakt: Die Neuinfektionen waren und sind das wichtigste und einzige Kriterium, über das die Pandemie unter Kontrolle gebracht werden muss. Wer darauf wartet, bis die Intensivbettenkapazitäten an ihre Grenzen stoßen, handelt fahrlässig.

Anschober: Ich hab ein tägliches Reporting, wo ich tagtäglich sehe, welche Spitalsbetten im intensivmedizinischen Bereich sind noch frei. Da schaut es derzeit noch relativ vergleichsweise gut aus.

Ein Grundfehler bei der Pandemiebekämpfung ist es als “rote Linie” erst die Überlastung des Gesundheitssystems anzusehen. Damit reagiert man viel zu spät, nimmt viele schwer Kranke und Tote in Kauf und rennt am Ende unvermeidlich in den Lockdown.

Michael Wagner, 29.10.20 , Mikrobiologe

“Also dass bestimmte Dinge wie Intensivbettenbelegung eigentlich Parameter sind, die sehr langsam sind. Die schlagen eigentlich dann an, wenn es schon fast zu spät ist.”

Christian Drosten, 27.10.20, Virologe

Es gibt keine verwirrende Ampel mit Kategorien wie „Intensivbetten“ oder „Alter der Fälle“. Entscheidend bleibt allein die Zahl der Neuinfektionen. Voll richtig, denn es gibt bei SarsCoV2 wegen Unberechenbarkeit quasi keine harmlose Infektion. Massenhaft Fälle bedeutet Elend.

Karl Lauterbach, 29.09.20 , Epidemiologe und SPD-Politiker, zu den Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz in Deutschland

Fakt: Wegen der zeitlichen Verzögerung wirken sich Maßnahmen immer erst später aus. Die Intensivbettenkapazitäten sind dann erschöpft und keine Entspannung in Sicht.

Anschober: “Unsere Fachexperten sagen, ist, dass es schrittweise zu Problemen kommen kann ab etwa Mitte November, eher dann in der dritten und vierten Novemberwoche. Wir gehen davon aus, dass dieses jetzige Maßnahmenpaket mit dem Teil-Lockdown Konsequenzen zeigt. Wir müssen das Ziel erreichen, dass wir unsere Kontakte in etwa halbieren. Und sollten wir Ende nächster Woche sehen, dass das Ziel nicht erreicht wird, dann werden wir nachjustieren müssen, und dann werden wir noch einmal gravierender müssen […]”

Ende nächster Woche ist der 15. November, also Mitte November. All jene Menschen, die sich die vergangenen zwei bis drei Wochen infiziert haben, kommen erst jetzt und in den nächsten zwei Wochen auf die Intensivstation, und bleiben da im Schnitt 13 Tage. Aktuell werden rund 7000 Neuinfektionen pro Tag gemeldet (wegen des Wochenendes wieder etwas weniger als unter der Woche), das sind bei 2% Intensivpatienten rund 140 Neuzugänge pro Tag. Wie auch immer das gerechnet wird, es geht sich nicht aus. Da sind die mangelnden Kapazitäten von Normalbetten und überlastetes Personal gar nicht eingerechnet.

Fakt: Der Lockdown funktioniert nur, wenn er all jene Bereiche umfasst, wo viel Kunden- und Sozialkontakte Übertragungen provozieren und Cluster produzieren.

Anschober: Naja, wir haben uns natürlich angesehen, wie Lockdowns international funktionieren, und vor allem unser Lockdown im eignenen Land im Frühling funktioniert hat. Ich sag immer, wenn man es einmal geschafft hat, dann kann man es auch ein zweites Mal hinbringen, und das ist schon die Antwort.

Der erste Lockdown hat so gut funktioniert, weil man bei vergleichsweise niedrigen Zahlen an Neuinfektionen harte Maßnahmen ergriffen hat, und die Menschen durch die Bilder aus Italien und später New York bereit waren, mitzumachen, sich eingeschränkt haben, bevor Massenveranstaltungen verboten wurden. Ebenso wurden im ersten Lockdown Schulen geschlossen, was Wiener Forscher später als effektivste Maßnahme erkannten. Warum das so ist, ist inzwischen auch virologisch bestätigt: Kinder und Erwachsene haben die gleiche Viruslast im Rachen, Kinder haben mehr Sozialkontakte (in den Schulen und außerhalb) und kompensieren das kleinere Lungenvolumen durch ihren Bewegungsdrang und Schreien. Solange die Schulen ausgeklammert werden, über die das Virus in die Haushalte kommen kann, wird der partielle Lockdown nicht reichen.

Fakt: Die Gesundheitsbehörden und Institute beteiligen sich aktiv an Falschinformationen über die Übertragbarkeit, Symptome und Gefährlichkeit des Virus für die Bevölkerung und sabotieren eine schnelle und effektive Bekämpfung der raschen Ausbreitung.

Anschober: Ich bin hochkonzentriert, hochmotiviert und die gesamten Gesundheitsbehörden Österreichs kämpfen dafür jeden Tag, dass wir auch diesen zweiten Teil der Pandemie möglichst gut bewältigen.

Informationen aus dem BMBWF und der Bildungsdirektion im “Corona/COVID-19-Herbst-2020” Update 6.11.2020:

Die endgültige Beurteilung, ob unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren ein COVID-19- Verdachtsfall vorliegt, obliegt der Gesundheitsbehörde. Für die medizinische Abklärung stehen die Schulärztin bzw. der Schularzt oder die Hotline 1450 zur Verfügung.
Für Kinder bis zum Ende der 4. Schulstufe gilt:
Kinder mit leichten Symptomen, wie etwa Husten, Schnupfen, Atemwegssymptomen, jeweils ohne Fieber
(d.h. Körpertemperatur unter 38°C), müssen nicht der Schule fernbleiben und gelten auch nicht als COVID19-Verdachtsfall.

Quelle

Die ÖGKJ empfiehlt Gesundheitsbehörden, Kinder unter 10 Jahren nicht zu testen und bei Symptomen ohne Fieber ebenfalls nicht zu testen. Kinder im Klassenverband, die einem infizierten Kind ausgesetzt waren, sollen nur als Kontakt-2-Person behandelt werden.

Die Ärztekammer Oberösterreich und die Leiterin des Instituts für Hygiene und Mikrobiologe in Linz sprachen von einem Labor-Tsunami:

Quelle der Grafik: Erich Neuwirth

Der Leiter der Sektion Öffentliche Gesundheit bei der AGES, Franz Allerberger, hat sich bereits Ende Oktober durch seine abstrusen Aussagen in “Frühstück bei mir” in Ö3 disqualifiziert.

Die Leiterin der CoV-Kommission, Daniela Schmid von der AGES, stützt sich bei der Behauptung, dass Kinder bis 14 Jahren keine Infektionstreiber wären, auf unvollständige AGES-Daten.

Fisman et al., Preprint, 18.09.

Wir kennen die Positivraten für die jeweiligen Altersgruppen in Österreich nicht, ebenso nicht die Anzahl der Tests bei Kindern und Jugendlichen. Die Empfehlungen an die Gesundheitsbehörden sprechen aber explizit davon, Kinder unter 10 Jahren nicht zu testen und Jugendliche auch nicht in jedem Fall. Wegen dem Förderalismus wird das je nach Bundesland unterschiedlich gehandhabt. Aufgrund mangelnder Daten lässt sich keine Aussage treffen, ob Kinder keine Infektionstreiber sind. Der Widerspruch zu der Zahl betroffener Schulen und wachsender Schulcluster bleibt damit ungeklärt. Im Ausland gibt es dazu genug Beobachtungsdaten.

Fakt: Es kommt bereits jetzt zu kritischen Situationen in vielen (Landes-) Spitälern.

Anschober: […] Und in ersten Regionen würden wir in dieser zweiten Novemberhälfte, wenn es uns nicht gelingt, die Trendwende zu schaffen, eben diese Probleme kriegen und die müssen wir vermeiden.

Spekulation: Lokale Spitzen bei den Todesfallen lassen bereits jetzt vermuten, dass wesentlich mehr Menschen mangels Behandlung versterben als als bei optimaler Versorgung, z.b. im LKH Hartberg? Wer weiß mehr?

Todesfälle pro 100 000 Einwohner in der Steiermark

Hört den Spitalsärzten zu, die sich öffentlich äußern. Leider dringt davon wenig nach außen. Oberösterreich?

Fakt: Es erkranken nicht nur alte Menschen schwer, sondern in allen Altersgruppen (auch Kinder, wenn auch deutlich seltener, weil nur eine Minderheit Symptome zeigt). Dazu kommen die dokumentierten Spätfolgen bei 10-25% der infizierten Menschen.

Anschober: Wenn wir beim Trend sehen würden, es gibt Probleme, die sich verstärken in den Alten- und Pflegeheimen. Wenn wir sehen würden, dass sich die tägliche Reserve in den intensivmedizinischen Abteilungen schneller reduziert als wir das derzeit in unserer Konzeption haben, […]

Ich sage nur: Long Covid – anhaltende Symptome viele Wochen und Monate nach der Infektion bei Betroffenen, welche Leistungsfähigkeit und Lebensqualität massiv eingeschränken. Und warum wird nicht auf die unmenschlichen Anstrengungen verwiesen, die das Gesundheitspersonal bereits jetzt leistet, um so lange wie möglich die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen?

Fakt: Das Contact Tracing hat nie ausreichend funktioniert und ist inzwischen zusammengebrochen. Nur 27% der Fälle können zurückverfolgt werden.

Anschober: Gestern war z.b. die Situation, dass sie mir schon erklärt haben, dass es eng ist, dass es teilweise an die Systemgrenzen kommt, aber dass sie es weitestgehend noch schaffen. Was wir machen werden, das sind Priorisierungen, d.h., was brauchen wir bei diesem Kontaktpersonenmanagement unbedingt, und was wäre ein nice to have, was gut ist im System, was ich aber nicht unbedingt für die Epidemiebekämpfung brauche?

Anschober geht nicht näher darauf ein, nach welchen Kriterien diese Priorisierungen stattfinden. Geht es um Quellcluster ausfindig machen? Dann wäre es der richtige Schritt, wie von Drosten und anderen schon lange vorgeschlagen. Geht es aber darum, Kinder nicht mehr als Kontaktpersonen einzustufen, wenn sie mit infizierten Personen in engem Kontakt waren, dann läuft da was fatal aus dem Ruder. Ohne effektives Contact Tracing können Infektionsketten nicht durchbrochen werden und es kommt zum gefährlichen Perkolationseffekt, dass sich viele unabhängige Cluster durch die wachsende Zahl infizierter Sozialkontakte verbinden – wie von Wissenschaftlern des CSH (Complexity Science Hub Vienna) und MedUni Wien bereits Ende August vorhergesagt.

Die Wissenschaftler zeigen, dass es eine kritische Anzahl von Kontakten gibt – sie bezeichnen sie als „Kontaktnetzwerke-Dichte“ Dc. Liegt die Zahl der Kontakte darunter, kommt es zu linearem Wachstum und einer niedrigen Infektionsrate. Laut den Forschern liegt diese Zahl ungefähr bei 7,2 – wobei sie davon ausgehen, dass die Menschen sich in einem Coronavirus-relevanten Netzwerk von etwa fünf Personen bewegen, durch einen Lockdown sogar nur auf Haushaltsgröße (durchschnittlich 2,5 Personen).

Fakt: Die Quintessenz aus der ersten Welle hätte lauten müssen, die Neuinfektionen so niedrig wie möglich zu halten, um zu verhindern, dass die Spitäler überlastet werden und die Zahl schwerer Krankheitsverläufe generell zu verhindern, da sie mit langen Krankenständen, Personalmangel und Folgeschäden einhergehen.

Anschober: Was aber nicht geht, ist kurzfristig das hochqualifizierte Personal für die Intensivstationen neu schulen.

Warum hat man dann bis Anfang November gewartet, bis man den Teil-Lockdown eingeführt hat? Die aktuelle Situation ohne Kommentar, Stand 08. November 2020:

Neuinfektionen im 7-Tages-Mittel, lineare Darstellung
Anzahl Hospitalisierte, Intensivstation und Todesfälle pro Tag
Covid-Todesfälle pro Kalenderwoche

Transkript Ö1-Interview zum Download:

transkript-anschoberHerunterladen

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