
Der Immunologe und Nobelpreisträger für Medizin, Prof. Peter Doherty:
“Sie verlassen sich auf, was sie “natürliche Immunität” nennen. Die Idee dahinter ist, dass eine Infektion mit SARS-CoV2, die Dich umbringen oder Langzeitschäden oder LongCOVID verursachen kann, Dich vor einer erneuten Infektion mit SARS-CoV2 schützt: Die Logik erschließt sich mir nicht.” (19.09.21)
Ja, das Leben ist voller Risiken. Vor manchen kann man sich gut schützen, vor anderen weniger. In der Wettervorhersage gibt es ebenso wie in der Versicherungsbranche die Risikomatrix: Geringes Risiko – geringe Auswirkungen, geringes Risiko – hohe Auswirkungen, hohes Risiko – geringe Auswirkungen, hohes Risiko – hohe Auswirkungen. Mit einer hochinfektiösen BA.4/5-Variante mit bisher maximalem Immun Escape, die von der Krankheitsschwere wieder nah an DELTA ist, bedeutet das für mich, dass derzeit ein hohes Risiko besteht, sich anzustecken, und ein erhöhtes Risiko für Langzeitschäden, selbst mit vier mRNA-Impfungen, die jedoch auf den Wildtyp angepasst wurden. Im Gegensatz zum letzten Sommer ist die 7-Tages-Inzidenz um rund 170 höher und es gibt keinerlei Maßnahmen mehr im öffentlichen Raum. Firmen haben die Test- und Maskenpflicht beendet, in überfüllten Öffis außerhalb von Wien gibt es keine Maskenpflicht mehr.
Natürlich ist die Risikowahrnehmung individuell: Ich bekam mein Risikoattest für meine frühe Erstimpfung wegen einer seltenen genetischen Grunderkrankung, auch wenn sich das Risiko mangels aussagekräftiger Studien quantitativ nicht beziffern lässt. Respekt hatte ich aber seit spätestens Sommer 2020 immer vor LongCOVID. Mehrere Bekannte haben trotz dreifacher Impfung anhaltende Beschwerden entwickelt, die nur langsam besser werden – bei allen ist die mutmaßliche BA.2-Infektion schon über drei Monate her. Auffällig ist auch das geschwächte Immunsystem im Anschluss an eine Infektion, das anfällig für gewöhnliche Infekte bleibt. Mir hat sich bis heute nicht erschlossen, was an wiederholten Infekten, egal wie schwer sie ausfallen, erstrebenswert sein soll. Die Leistungsfähigkeit ist eingeschränkt, das Freizeitvergnügen endlich und häufige Arztbesuche mehr als lästig, speziell mit exorbitanten Wartezeiten. Viele Arbeitnehmer befinden sich nicht in der priviligierten Situation, Erkrankungen richtig auszukurieren, der Kündigungsschutz im Krankenstand ist in Österreich rudimentär ausgeprägt. Und warum sollte man sich seinen Sommer mit einer Covid-Infektion zerstören, nach der man noch für Wochen bis Monate nicht weiß, ob man z.B. seinen Wanderurlaub antreten kann? Daher: Nein, danke, ich verzichte.
Portugal und Südafrika


Um die Auswirkungen der kommenden BA.4/BA.5-Welle herunterzuspielen, wird gerne Südafrika als Beispiel herangezogen, wo die Mortalität mit jeder Welle zurückgeht. Dabei sind jedoch mindestens drei Faktoren zu berücksichtigen: 1. soll die Meldung von Todesfällen in Südafrika nicht sehr zuverlässig sein, 2. hat Südafrika eine deutlich jüngere Bevölkerung als im europäischen Durchschnitt und 3. sind in den ersten Infektionswellen (vor allem BETA und DELTA) bereits viele ältere und immungeschwächte Menschen gestorben. Über LongCOVID in Südafrika gibt es zwar keine offiziellen Statistiken, das Nationale Public Health Institut von Südafrika hat LongCOVID aber auf dem Schirm und gibt eine klare Empfehlung ab:
“The only way to avoid Long COVID is to avoid getting COVID-19. It is true that most people who are infected will not get very sick. But it is impossible to know who will recover quickly and who will have persistent symptoms.”
Und bei uns ….?
“Dass die nächste Corona- Welle aber nun schon Mitte Juni beginnt, wurde selbst von der GECKO-Kommission so nicht erwartet”, schreibt der ORF am 18. Juni 2022.
Wie inkompetent kann man sein? Wie schon bei ALPHA, DELTA, OMICRON sah man die deutlichen Anstiege schon Wochen vorher in Südafrika, Portugal, UK. In Portugal fällt der starke Wiederanstieg mit dem Wegfall der Maskenpflicht in Innenräumen zusammen. Anfang Juni fiel die Maskenpflicht in Österreich – und dann sind die Experten nicht in der Lage, den Wiederanstieg zu prognostizieren?
Popper: „Weils ein bissl jetzt auch davon abhängt, wie die Reisetätigkeit ist, wie sozusagen auch der Austausch jetzt in dieser Dynamik ist. Ich glaube wichtig ist zu verstehen, dass jetzt die Dynamik losgeht, hängt mit dem Verlust der Immunisierung zusammen, das heißt, dass viele Menschen sich wieder anstecken können, die eine gewisse Zeit immunisiert waren.“
Schwurbel, schwurbel: Gründe für die “Dynamik”:
- Wegfall aller Maßnahmen, Aufhebung der Maskenpflicht als Signal für Pandemiepause
- Großveranstaltungen und Tourismus
- BA.4/5 mit höherem Immun Escape (Reinfektionen)
- OMICRON-Infektion bietet nur geringen Schutz vor Reinfektion
Volle Fußballstadien, mehrtägige Konzerte und andere Dummheiten
Volles Ernst-Happel-Stadion, Regenbogenparade, Nova Rock, Formel 1, Donauinselfest – das Virus hat zahlreiche Gelegenheit, sich effektiv zu verbreiten und den “saisonalen Effekt” überzukompensieren.
Beispiel Nova Rock:

Anekdotisch haben sich etliche Konzertbesucher infiziert und ganze Familien flachgelegt.
Obwohl es sich um Outdoor-Veranstaltungen handelt, sollte man trotzdem eine Maske tragen. Ansteckungen gibt es aber nicht nur in der Menschenmenge, beim Singen, Tanzen, sondern auch bei der Anreise in überfüllten Zügen und Bussen, beim Vor- und Nachglühen zuhause oder in den Gasthäusern.
Flood the zone with shit
Am 30. Mai 2022 behauptete Gesundheitsminister Rauch:
„Wenn wir zehn, vierzehn Tage lang deutlich steigende Infektionszahlen haben, wird es ernst. Dann würden wir schrittweise die Maske wieder einführen.“ (Kurier)
Komplexititätsforscher Peter Klimek: “Je höher jetzt die Virusaktivität im Sommer ist, desto niedriger kann dann die Herbstwelle ausfallen.” Zib1-Sprecher: “Dadurch werden auch die fehlenden Impfungen kompensiert.” (09.06.22)
Wer in Österreich zu Wort kommen sollte: Lehrervertreter, Pflegekräfte und Fachärzte für LongCOVID-Folgen, Betroffene mit Hochrisiko oder Schattenfamilien. Wer in Österreich maßgeblich das Meinungsbild dominiert: Komplexitäts- und Simulationsforscher. Individuelle medizinische Schicksale werden damit zwangsläufig abstrahiert, entmenschlicht, zu einer Zahl degradiert.
Simulationsforscher Popper (keine medizinische Ausbildung):
“Dieses Coronavirus ist zäher als viele anderen Viren, aber wir werden damit umgehen können.”
(18.06.22, Oberösterreichische Nachrichten)
GM Rauch am 17.06.22:
“Es wird auch in Zukunft Epidemiewellen geben. Wir müssen lernen, damit umzugehen.” (Kurier)
Patientenanwältin Sigrid Pilz am 26.05.22:
„Mit Corona Leben lernen bedeutet nicht, Corona zu ignorieren, wie bei DontLookUp. Wenn wir künftig auf den Schirm verzichten, wird der Regen auch nicht ausbleiben. Wir müssen den Tatsachen ins Augen blicken. Die Welt ist eine andere als 2019.“ (Twitter)
Virologin von Laer am 17.06.22:
“Eine Welle, die zu einer Überlastung der Intensivstationen führt, ist sehr unwahrscheinlich.” (Kurier)
Ich frage mich schon länger, welchen Leser diese Aussage ansprechen soll. Jene mit geplanten Operationen? Die müssten lange vorher verschoben werden. Jene mit erhöhtem Risiko für schwere Akutverläufe? Kann auf individueller Ebene trotzdem passieren. Den Durchschnittsleser, der sich auf sein intaktes Immunsystem verlässt, wirds auch nicht ansprechen. Also ist es eher eine Botschaft an die Regierung, nicht handeln zu müssen.
Auch das Gesundheitspersonal hätte eine Verschnaufpause verdient. In den Spitälern werden gerade mit Hochdruck verschobene Operationen nachgeholt und es gibt weniger Personal, vor allem Pflegekräfte, als vor dem ersten Lockdown.
Von Laer: “Mit drei Impfungen und einer durchgemachten Infektion sollte ein aufrechter Immunschutz gegeben sein.” (Kurier)
Virologin Isabella Eckerle auf Twitter:
“Ich finde es großartig, wenn wir über den Aufbau von Hybrid-Immunität auf dem Boden einer 3x Impfung sprechen und einfach ignorieren, dass ein Großteil der kleinen Kinder nicht geimpft sind bzw es noch keinen zugelassenen Impfstoff für unter 5 Jahren bei uns gibt. Einfach egal?”
Von Laer: “Jene, die mit BA.2 infiziert waren, besonders nach drei Impfungen, sollten gut durch den Herbst kommen“.
Außer, sie haben LongCOVID aufgerissen und ein geschwächtes Immunsystem. Dann würde ich mich nicht darauf verlassen. Und außerdem, was ist mit all jenen wie mir, die über zweieinhalb Jahre lang eine Infektion vermeiden konnten und wollten, WEIL sie über diverse Langzeitschäden Bescheid wissen?
“Eine vierte Impfung sei derzeit für vulnerable Personen empfehlenswert. Alle anderen sollten sich vor dem Winter impfen lassen, sobald ein angepasster Impfstoff verfügbar ist.”
Blöd halt, dass der auf BA.1 zugeschnittene Impfstoff gegen BA.4 und BA.5 kaum wirken wird (Cao et al, 17.06.22, preprint, Tuekprakhon et al., 08.06.22). Mit der anhaltenden Generation hoher Infektionszahlen können sich die Varianten mangels Maßnahmen und Contact Tracing weiter effektiv ausbreiten. So werden wir immer hinterherhinken:
- bei wirksamen monoklonalen Antikörpern für immungeschwächte Personen (Wang et al., 26.05.22, preprint – nurmehr Bebtelovimab effektiv)
- bei variantenspezifischen Impfstoffen
- bei der Entwicklung von antiviralen Medikamenten. Mit Paxlovid gibt es anekdotisch immer mehr Rückschläge (erneute Symptome nach Absetzen des Medikaments, auch LongCOVID)
Im gleichen Kurier-Artikel wurde der Sarkasmus von Molekularbiologe Elling offensichtlich nicht durchschaut:
“Ich bin selber schon irgendwo zwischen Fatalismus und Galgenhumor.” und “Ironischerweise ist eine Durchseuchung im Sommer eine relativ effiziente Vorbereitung für den Herbst.”
Was titelt der Kurier? In der Printfassung: “Durchseuchung im Sommer” hilft für den Herbst, und als Titel für die Langfassung (Paywall auf kurier.at/wissen): “Durchseuchung im Sommer gute Vorbereitung für den Herbst.” – er selbst bezeichnete den Titel später als irreführend. In Anführungszeichen hätten wohl eher das “hilft” bzw. “gute” gehört.
In der Langfassung erwähnt er auch, dass 3% der englischen Bevölkerung von LongCOVID berichten und:
“Man weiß, dass die Wahrscheinlichkeit für Long-COVID nach Impfung etwas geringer ist, aber nur ein ganz kleines bisschen. Deshalb wissen wir auch nicht, wie es mit Long-Covid bei der fünften Infektion ist.”
“Klar ist aber: Eine Pandemie ist eine Sache, die man nur als Gesellschaft lösen kann und nicht als Individuum.”
SARS-CoV2 wird nicht zu einer Grippe

Alleine in dieser Woche sind drei Fachartikel erschienen, die im wesentlichen die Gefährlichkeit von SARS-CoV2 bestätigen:
1. Infektion plus dreifache Impfung schützt nicht vor erneuter Infektion mit OMICRON
Reynolds et al.: Immune boosting by B.1.1.529 (Omicron) depends on previous SARS-CoV-2 exposure (14.06.22)
Wildtyp VOR 3fach Impfung schützt nicht vor Reinfektion mit BA.x, Infektion mit BA.x NACH 3fach Impfung schützt nicht vor erneuter Infektion BA.x
“Hybrid-Immunität” oder gar “Super-Immunität” waren häufig strapazierte Schlagworte in den letzten Monaten. Tatsächlich verbessert eine Omicron-Infektion nach 3facher Impfung die Immunantwort nicht. Das bestätigt frühere Forschungsergebnisse (Bekliz et al., 28.12.21, Baum et al.,13.03.22, Servellita et al., 17.03.22, Koutsakos et al., 26.05.22) und erklärt die deutlich gestiegene Häufigkeit an Reinfektionen.
Fazit: Es gibt keine Herdenimmunität durch Infektion und nicht einmal auf individueller Ebene einen langfristig besseren Schutz. LongCOVID ist dabei noch nicht einmal berücksichtigt.
2. Kognitive Beeinträchtigungen auch nach milder Covid-Infektion
Covid19-Überlebende berichten häufig von anhaltenden neurologischen Beschwerden, die kognitiven Einschränkungen nach Krebstherapien ähneln. Die Autoren bestätigen den Fund von ähnlichen Zellen in der weißen Gehirnmasse (microglial reactivity). Bei Mäusen und Menschen mit anhaltenden Symptomen war der Entzündungsmarker CCL11 im Blut erhöht, bei Mäusen wurde zudem Myelinverlust nachgewiesen – darunter versteht man eine Schädigung des Nervensystems, bei der die Nervenzellen ihre Myelinhüllen verlieren (z.B. bei Erkrankungen wie Guillain-Barré-Syndrom, Multipler Sklerose).
3. Derzeit gibt es drei führende Theorien zur Ursache von LongCOVID
Übersichtsartikel von Jennifer Couzin-Frankel in “Science” (16.06.22)
- verstärkte Blutgerinnung und Mikrothromben
- Virus überdauert im Körper
- Immunsystem spielt noch mehrere Monate nach der Infektion verrückt
Konsens besteht darin, dass keine der vermuteten Ursachen der alleinige Grund für alle LongCOVID-Symptome ist.
Zu 1) Diagnostiktools wie das SPECT (Single-Photon-Emissionscomputertomographie) können den gestörten Blutfluss z.b. in der Lunge besser nachweisen, ein indirekter Hinweis auf Gerinnsel. Antigerinnungsmedikamente haben bisher mehrere Kinder geheilt. Als Ursache der Beschwerden werden beschädigte Blutgefäße und winzige Gerinnsel vermutet. Blutgerinnsel wurden bereits bei hospitalisierten Patienten in der Lunge und im Gehirn gefunden. Selbst bei milderen Krankheitsverläufen besteht in den Wochen nach der Infektion ein erhöhtes Risiko für Herzattacken und Schlaganfällen. LongCOVID und akutes COVID19 unterscheiden sich nicht sehr.
Zu 2) Als Beispiel für ein überdauerndes Virus im Körper wird die Magendarm-Studie von Herbert Tilg aus Innsbruck genannt.
Zu 3) Bei LongCOVID-Patienten ist das Immunsystem in ständig erhöhtem Alarmzustand, was sich in enorm erhöhten Interferonlevels zeigt. Außerdem gibt es einen Mangel an inaktivierten T- und B-Zellen, was auf eine chronische Entzündung hinweist.
Schlussfolgerung:
Wenn ich hier von schwerer Sommerwelle schreibe, meine ich das Potential ähnlich wie in der Doppelwelle BA.1/BA.2 weite Teile des Landes lahmzulegen: Infrastruktur, Gesundheitsversorgung, Urlaubsdestinationen, aber auch viele Langzeitkranke und neuerlich Todesfälle. Die Regierung zwingt einen zur Infektion, früher oder später. Ich bin *nur* vierfach geimpft und tauche in den Teilnehmergruppen von Studien oder Aussagen von Virologen gar nicht mehr auf. Sie gehen alle davon aus, dass man sich zusätzlich zur dritten Impfung schon einmal infiziert hat und setzen auf Hopium, dass das gegen BA.5 oder künftige Varianten reichen wird. *Alle* Äußerungen zielen auf das individuelle Risiko für schwere Akutverläufe hab, keiner stellt LongCOVID in den Vordergrund und dass mit jeder Reinfektion das Risiko dafür steigt und nicht sinkt. Wird es doch mal erwähnt, wie von Elling, verschwindet es in der Langfassung hinter der Bezahlschranke.
Unter diesen Voraussetzungen muss man keine Pläne schmieden. Ich bin dankbar für jeden Tag, wo ich dem Virus noch keinen Zutritt in meinen Körper gewährt habe.