
Virologe Paul Darren Bieniasz, britisch-amerikanischer HIV-Forscher der Rockefeller Universität, hat den folgenden Text am 2. Jänner 2021 auf Twitter verlinkt. Die erste SARS-CoV2-Variante ALPHA (B.1.1.7) wurde Anfang Dezember rund um Kent im Südosten von England entdeckt. Molekularbiologe und Wissenschaftsjournalist Kai Kupferschmidt hat darüber am 20. Dezember 2020 im Magazin “Science” berichtet. Es wurde rasch klar, dass ALPHA deutlich leichter übertragbar war als der Ursprungstyp. Am 4. Jänner 2021 schrieb er einen ausführlichen Thread zu ALPHA. Ich erinnere mich noch gut an sein Fazit:
“Das will niemand hören, doch die kommenden Monate könnten die schwierigsten der Pandemie werden. Wenn man von den Impfstoffen als Licht am Ende des Tunnels gedacht hat: Ja, das Licht ist da, so hell wie immer. Doch der Tunnel wurde noch ein wenig dunkler und länger.”
Kai Kupferschmidt, 04. Jänner 2021
Später wurde in einzelnen Virus-Sequenzen von ALPHA auch die Mutation E484K gefunden, eine Fluchtmutation, die später auch in der Fluchtvariante BETA (“Südafrika-Variante”) entdeckt wurde. Diese Mutation hat nachweislich die Wirkung einzelner therapeutischer Antikörper sowie vom Schutz durch Impfung herabgesetzt (Yang et al. 2022). ALPHA hat generell für schwerere Verläufe gesorgt (z.B. Bager et al. 2021, Davies et al. 2021).
Die zugelassenen Impfstoffe wirkten jedoch auch gegen ALPHA (und später sogar noch gegen DELTA mit drei Impfdosen als abgeschlossene Grundimmunisierung) und verhinderten zu einem hohen Prozentsatz schwere Akutverläufe (Shinde et al. 2021).
Grübeleien eines anonymen, angepissten Virologen (Übersetzung)
Zitat
Viren kommen und gehen – SARS-CoV2 ist ziemlich leicht mit Antikörpern zu neutralisieren, und offensichtlich ist es unkompliziert, effektive Impfstoffe basierend auf dem Spike-Protein zu erzeugen. Möglicherweise, sogar wahrscheinlich, sind diese beiden Eigenschaften ursächlich verwandt. Darüberhinaus scheint es ziemlich schwierig (wenngleich nicht unmöglich), widerstandsfähige Spike-Varianten zu erzeugen, die den polyklonalen Antikörperreaktionen entkommen können , welche durch die besagten Impstoffe ausgelöst werden. Das sind alles exzellente Neuigkeiten.
Wenn ich jedoch ein gewissenloser Mensch wäre und sicherstellen wollte, dass die neuen SARS-CoV2-Impfstoffe nutzlos gemacht werden, würde ich folgendes versuchen:
Erstens würde ich die Größe und Vielfalt der Virenpopulation maximieren. Weil SARS-CoV2 eine Korrektur lesende Polymerase hat, müssten wir uns dafür sehr anstrengen. Die folgenden vier Maßnahmen könnten das Virus darin unterstützen, so viel genetische Vielfalt wie möglich zu erlangen, jede denkbare Punktmutation so häufig wie möglich zu erzeugen.
- Verzögere die Einführung von Testangeboten, sodass sich das Virus unbemerkt ausbreiten kann und Ausbrüche in geographisch, demographisch und kulturell vielfältigen Wirtspopulationen nährt, sodass es nahezu unmöglich wird, es mit Testen-Nachverfolgen-Isolieren-Ansätzen zu unterdrücken.
- Implementiere partielle und lückenhafte Beschränkungen der Bewegungsfreiheit und sozialer Interaktionen, sodass ein beständig hoher Pool an infizierten Individuen aufrechterhalten werden kann.
- Halte die Schulen offen. Behaupte, dass Kinder SARS-CoV2 nicht häufig übertragen. Weil Kinder allgemein milde und vielleicht häufiger symptomfreie Infektionen aufweisen, können sich diversifizierende Viruspopulationen wahrscheinlicher unbemerkt ausbreiten.
- Starte eine Gerüchteküche, mache vollständigen Gebrauch von Social Media und anderen Kanälen, mit Themen wie “Masken sind unnötig oder nutzlos”, dass PCR-Tests zu sensitiv oder unzuverlässig wären, dass infektionserzeugte “Herdenimmunität” eine vernünftige Strategie wäre, oder sogar, dass SARS-CoV2 nicht existieren würde. Bereits unzureichende Maßnahmen der Öffentlichen Gesundheit zu untergraben, hilft dabei, die Viruspopulation groß zu halten.
Zweitens: Während oder nachdem wir große und vielfältige Viruspopulationen geschaffen haben, würden Selektionsdruck ausüben, um Antikörper resistente Mutationen zu befeuern. Dafür würden wir medizinische Einrichtungen ausnutzen, die – lobenswerterweise – so viele Menschen wie möglich so schnell wie möglich helfen wollen.
5. Behandle zehntausende Menschen mit uncharakteristischem Plasma von Genesenen von schwacher/unbekannter Potenz, ohne ordentliche klinische Versuche, um den Selektionsdruck ins Laufen zu bringen, damit sich Antikörper resistente Mutationen anreichern. (Nochmal, ich weiß nicht, wie effektiv das wäre, da es meistens in Spitälern gemacht wird, wo weitere Übertragung vermutlich selten wäre, aber es wäre sicher einen Versuch wert.). Immunsupprimierte Individuen mit hartnäckiger Infektion könnten hier besonders hilfreich sein.
6. Schließlich, und das ist hier der Brandbeschleuniger: Nachdem man eine hervorragenden Impfstoff bestehend aus zwei Dosen entwickelt hat, der außerordentlich wirksam ist, VERTEILE IHN AN MILLIONEN MENSCHEN – ABER VERZÖGERE DIE ZWEITE DOSIS. Der Schlüssel hier ist, dass ein Reservoir an Wirten mit gerade der richtigen Menge an neutralisierenden Antikörper erzeugt wird, um Selektionsdruck auszuüben, aber auch genügend hohe Fallzahlen an teilweise antikörperresistenten Virus aufrechterhalten werden, damit es sich weiterverbreiten kann. Wir dürften das nicht kurz nach der ersten Impfdosis erreichen, aber wenn wir die Immunität eine gewisse Zeit schwinden lassen, sagen wir 4-12 Wochen, könnten wir den gewünschten Punkt erreichen.
Natürlich weiß ich nicht, ob das oben genannte erfolgreich sein würde, aber so würde ich vorgehen, wenn ich impfstoffresistente SARS-CoV2-Varianten erzeugen wollte.
Zitat Ende
Das Experiment ist gelungen
Obwohl die Subsubvarianten verschiedene Ursprungsvarianten haben, zeigen mehrere der neuen Virenstränge ähnliche Kombinationen von Mutationen, um die Immunität durch Impfung/Infektion zu überwinden – ein Lehrbuchbeispiel für eine konvergente Entwicklung.

Mehr Infos zu den derzeit zirkulierenden Variantenzirkus von Cornelius Römer auf Github.
Warum sollte uns diese Entwicklung beunruhigen? Die zunehmend dominanten neuen Varianten entkommen wie von Bieniasz im Jänner 2022 prophezeiht der Immunantwort noch effektiver als alles, was bisher am libertären Virusmarkt verfügbar war. BA.2.75.2 und BQ.1.1 sind die antikörperresistentesten Varianten, die man bisher gefunden hat. Gegen BQ1.1. wirken auch die prophylaktischen bzw. therapeutischen Antikörper Evusheld und Bebtelovimab* nicht mehr. Auf diese sind aber immunsupprimierte Menschen mit eingeschränkter oder ausbleibender Antikörperbildung nach Impfung angewiesen, um schwere Verläufe zu verhindern. In Schweden, wo Durchseuchungs- und Durchimpfungsraten hoch sind, war das Serum von 18 Blutspendern weniger als 1/6 so effektiv, BA.2.75.2 zu neutralisieren wie bei BA.5 (Sheward et al. 2022 preprint).
*Bebtelovimab ist in Europa nicht zugelassen – unklar, warum
Die neuen Varianten haben außerdem ihre Bindungsfreudigkeit an den menschlichen ACE2-Rezeptor nicht verloren (Cao et al. 2022, preprint), was heißt, dass sie nicht weniger infektiös als die bisherigen Varianten sind. Zudem entstehen bei einer Infektion mit den neuen Varianten verhältnismäßig mehr “falsche” Antikörpertypen, die sich zwar eng an das Virus binden, aber seine Fähigkeit, Zellen zu infizieren, nicht dämpfen.
BA.4.6 ist in den USA bereits für über 12% der Fälle verantwortlich, die Arg346-Mutation, die auch viele neue Varianten haben, lässt es leichter der Immunantwort entkommen als BA.5, es ist gegen Evusheld resistent und Reinfektionen nach einer BA.5-Infektion sind wahrscheinlicher (Jian et al., 27.09.22).
BA.2.75 tut sich bisher schwer in den Ländern Boden zu gewinnen, wo es zuvor eine große BA.5-Welle gab, doch könnten das sowohl BA.2.75.2 als auch BQ.1.1 ändern, da sie teilweise die BA.5-induzierte Immunität überwinden können. Das zeigen auch die Ausbreitungsmodelle von Biologe Tom Wenseleers.
Virologe Björn Meyer erläutert in diesem Thread, wie die konvergente Entwicklung der Virusvarianten zustande kommt und was das für unsere Impfstrategie bedeutet. Nach derzeitigem Stand raten alle seriöse Experten zum BA.5-Boosterimpfstoff. Wer wie ich aus terminlichen Gründen nicht bis zur Verfügbarkeit des BA.5-Impfstoffs warten konnte und mit dem BA.1-Booster Vorlieb nehmen musste, ist aber nicht zwingend so viel schlechter dran – beide Impfstoffe werden die ganzen Varianten, die auf BA.2, BA.4 oder BA.5 basieren, abdecken – doch was kommt dann? Die Hoffnung ist derzeit, dass die kommenden Varianten aus den vorausgegangenen hervorgehen und nicht mehr wild hochspringen wie OMICRON (BA.x) nach DELTA – was zielgerichtete, effektive Impfstoffanpassungen erleichtern würde.
OMICRON entwickelt sich weiter
Zwischen BA.1 und BA.5 findet man mit rund 40 Mutationen ähnlich viele genetische Veränderungen wie zwischen DELTA und dem Wildtyp (rund 45). Zwischen Wildtyp, BA.1 (ca. 50), BA.2 (ca. 70) und BA.5 (ca. 90) liegen evolutionär schon Welten. Die meisten Mutationen gibt es im Spike-Protein (mehr Infos in Sigrid Neuhausers Thread). Obwohl es riesige Unterschiede zwischen BA.1 und BA.5 gibt, spricht die WHO weiterhin nur von OMICRON – eine Nomenklatur, die natürlich die Regierungen wohlwollend übernehmen, weil sie mit dem falschen Narrativ, dass OMICRON …
- mild sein würde
- die Pandemie beenden würde
- das Ticket in den endemischen Zustand sein würde
- mit den vorhandenen Impfstoffen und Medikamenten “gut behandelbar” sein würde
nichts weiter tun müssen und wollen und die kollektive Verdrängung der weiterhin präsenten Pandemie und ihrer Folgen ihnen in die Hände spielt – ja immer noch.
Situation in Österreich
In Österreich macht Stand letzte Septemberwoche 2022 BA.5 95% aller sequenzierten Fälle aus, zudem nimmt die BA.5-Subvariante mit R346T-Mutation an Boden. Besagte Mutation bedeutet stärkere Immunflucht und Dämpfung der Wirkung von Evusheld.

Was bedeutet was für den weiteren Verlauf der Herbstwelle? Dazu ein Klassiker:

Erstmals seit dem Wildtyp (Wuhan) haben wir es wieder mit zwei Infektionswellen derselben Variante zu tun. Das Ausmaß der Sommerwelle durch BA.5 fiel nicht nur dem stark reduzierten Testangebot zum Opfer, sondern auch den Schulferien und allgemeiner Urlaubszeit. Seit Schulbeginn (ohne Maßnahmen) kann sich das Virus ungehindert verbreiten. Es gibt keine relevanten Maßnahmen mehr an den Orten, wo Superspreading stattfinden kann: Kindergarten, Schule, Arbeitsplatz, Konferenzen, Volksfeste, Hochzeitsfeiern, Busreisen, Gastronomie, v.a. Disco und Nachtclubs. In allen Bezirken mit kürzlichen Großveranstaltungen steigen die Infektionszahlen stark (auch in München nach dem Oktoberfest).
Niedrigste Inzidenz mit 346 hat derzeit Rust im Burgenland, Wien liegt bei 721 im Mittelfeld, 22 Bezirke haben eine Inzidenz über 1000, davon liegen 12 in Oberösterreich. Spitzenreiter ist Schärding mit 1558.

Den stärksten Anstieg gibt es bei den Kinder und Jugendlichen zwischen 5 und 14 Jahren. Bei Kindergartenkindern und Säuglingen wird weniger getestet, aber auch höhere Altersgruppen holen stark aufgrund der angesprochenen Feste und Feiern. Die Elterngeneration wird bald nachziehen, sobald sie sich bei ihren Kindern (erneut) anstecken. Wegen der Abschaffung der Isolationspflicht verbreitet sich das Virus effektiv. Nach einer neuen Studie von Drain et al. (27.09. 2022) sind die meisten Erwachsenen nach 7-12 Tagen noch ansteckend. Neben der Vermeidung von weiteren Übertragungen schützte die ursprünglich 10 Tage Absonderungspflicht die infizierte Person auch vor LongCOVID – denn wer sich auch nach einer leichten Infektion nicht schont, sondern gleich wieder arbeiten geht oder Sport treibt, vergrößert sein individuelles LongCOVID-Risiko.
Die Folgen sind bekannt – nichts ist unerwartet.
- weitere tausende Tote diesen Herbst/Winter
- viele vermeidbare Langzeitkranke (LongCOVID) aller Altersgruppen
- viele vermeidbare Krankenstände von durchschnittlich 2-3 Wochen aufgrund der hochgradig symptomatischen Verläufe (nur rund 10% verlaufen rein asymptomatisch seit BA.5)
- Zusammenbruch von Bildungs- und Gesundheitswesen
- Erhebliche Probleme in der Infrastruktur (Verkehr, Müllabfuhr)
- Ohnehin durch hohe Energiekosten belastete Betriebe kommen durch Dauerkrankenstände weiter unter Druck
- Gastronomie mit Personalmangel, Krankenständen, Massenschließungen drohen (mangelnde Einnahmen kombiniert mit hohe Energiekosten)
Spekulation: Es steht zu befürchten, dass die BA.5-Herbstwelle nahtlos in eine durch die neuen hochevasiven Varianten getriebene Winterwelle übergehen könnte. Dann könnten auch jene, die sich im Sommer infiziert haben, erneut infiziert werden. Zwar schreibt das NIG in den aktuellen Empfehlungen mit Verweis auf 4 Studien, dass man mit einer OMICRON-Durchbruchsinfektion gut gegen BA.5-Reinfektion geschützt sein würde und die Auffrischimpfung daher bis 6 Monate hinauszögern kann (!), jedoch das zeigen weder Hall et al. (31.03.22, bezogen auf Reinfektion mit dem Wildtyp), Gruell et al. (19.01.22, vor BA.2, BA.5), Tartof et al. (2022, Zeitraum vor 06.02.22) noch das Statement der EMA als 4. Quelle.
Dilemma hier: Virologen empfehlen mindestens 4-6 Monate Abstand zur letzten Infektion/Impfung, damit die Antikörperbildung reifen kann. In kürzeren Abständen impfen bringt nichts. Problem ist aber, dass man sich in kürzeren Abständen als 6 Monaten erneut infizieren kann, speziell, mit Nachfolgevarianten von BA.5. Für all jene, die die 4-6 Monate Intervall also nicht erfüllen (d.h., sich nach April/Juni infiziert haben), ist es daher umso wichtiger, sich weiterhin konsequent vor einer Infektion zu schützen – mit Maskenpflicht, Vermeidung von Indoor-Aktivitäten ohne Maske, regelmäßigen Tests im Umfeld und mobilen Luftreinigern/regelmäßigem Lüften zuhause. Mehr Verhaltensempfehlungen hier.
Wie man es dreht und wendet – es ist Aufgabe und verdammt nochmal der Job von Gesundheits- und Bildungsminister, die Fallzahlen zu reduzieren, indem sie SCHUTZMASSNAHMEN einführen. Impfstoffe und Medikamente alleine führen uns nicht aus der Pandemie, das ist seit Moore et al., März 2021 bekannt.