
Österreich führt derzeit nicht nur in Europa, sondern weltweit die Infektionszahlen an. Laut den Gensequenzen von Bergthaler und Elling wird die aktuelle Welle zu 95% von BA.5+R456T getrieben. R456T ist eine Spike-Mutation, die auch bei anderen Varianten (z.B. BA.4.6) auftritt und mit Immunflucht verbunden ist. Die ohnehin hochinfektiöse BA.5-Virusvariante, die auch zu einem gewissen Teil für Reinfektionen bei jenen sorgt, die im Frühjahr BA.1 oder BA.2 hatten, kann damit noch leichter den Antikörperschutz durch Infektion und/oder Impfung umgehen.
Warum gerade Österreich? Immerhin wird nicht nur viel getestet im Vergleich zu anderen Ländern, sondern auch die Positivraten schießen durch die Decke. Epidemiologe Zangerle hat sich dieser Frage bereits in seiner letzten Seuchenkolumne gewidmet. Mein Senf dazu wäre: Die verharmlosende Saat aller (!) Parteien in Österreich ist aufgegangen. Die weiterhin obrigkeitshörige Bevölkerung hinterfragt die Maßnahmenpolitik nicht. Wenn ab Wiener Stadtgrenze stadtauswärts keine Maskenpflicht mehr gilt, kann man sie auch im Wienerwaldtunnel schon abnehmen. Die roten Gewerkschaften schweigen, am Land hat die Pandemie nie existiert. Unverhältnismäßig viele Menschen sind trotz Symptomen ohne Maske unterwegs und gefährden andere. Davon sind wahrscheinlich viele ungetestet, auch mangels PCR-Testmöglichkeit abseits von Wien. Dass erneute Covid19-Infektionen auftreten können, ist ebenso unbekannt wie das LongCOVID-Risiko nach Impfung und Infektion. Meiner Beobachtung nach ignorieren auch viele ältere Menschen, die man zur vulnerablen Gruppe zählen würde, ihr eigenes Erkrankungsrisiko, leben und verhalten sich wie vor der Pandemie. Problematisch sind hier vor allem die mageren Impffortschritte bei der vierten Impfung. Viele Dreifachgeimpfte, die es bis hierher ohne Infektion geschafft haben, infizieren sich gerade kurz vor ihrem BA.5-Variantenboostertermin. Zudem ist auch bei Kindern und Jugendlichen die Durchimpfungsrate weiterhin gering – sie verharrt seit Monaten bei 22% für zwei Stiche und sogar nur bei 6,5% für drei Stiche. Ohne jegliche Schutzmaßnahmen wird sich ihre Impfrate auch kaum erhöhen, weil sie sich in kürzeren Intervallen erneut infizieren. Das treibende Bundesland in Österreich ist derzeit Oberösterreich, wo jeder zweite bis dritte PCR- und Antigentest positiv ausfällt. Dort ist das Schwurbeltum besonders ausgeprägt, Sprenger tourt mit rechtsextremen TV-Sendern, aber auch mit der SPÖ durchs Bundesland.
Obwohl nicht nur die Infektionszahlen rasch steigen, sondern auch die Spitalszahlen, kommen keine neuen Maßnahmen. Der Grund ist so banal wie opportunistisch: Am 9. Oktober ist die Wahl des neuen (alten) Bundespräsidenten. Nächstes Jahr finden außerdem in Niederösterreich Landtagswahlen statt, die ÖVP könnte die absolute Mehrheit verlieren und die Schwurbelpartei MFG einziehen. Polaschek und Rauch haben seit Amtsantritt offenbar beide beschlossen, die Pandemiewellen auszusitzen und machen einfach nichts. Zum Sinneswandel von Rauch vor und nach Amtsantritt habe ich am 21.06.22 gebloggt. Zum mangelnden Vertrauen in die Politik schrieb Jurist Nikolaus Forgó am 06.10.22 einen Gastbeitrag im STANDARD.
Mit oder wegen Corona im Spital: Weshalb es unerheblich ist.

Nicht nur die Antworten sind entlarvend, auch die Fragen. Thür, der dieses Jahr mit dem Robert-Hochner-Preis für “akribische Arbeit, persönlichen Mut und konsequent geführte Interviews” ausgezeichnet wurde, nimmt Rauch die Antwort vorweg: Die Immunität sei eine andere, sagt er. Fakt ist, das Virus hat sich weiter entwickelt – zwischen Wildtyp und BA.5 liegen mit 90 Mutationen evolutionär Welten und SARS-CoV2 ist längst nicht am Ende des Mutationsspielraums angelangt. Unser bis letzten Monat verimpfter Impfstoff wurde für den Wildtyp entwickelt. Die neuen Virusvarianten bedrohen auch Menschen mit Immunschwäche, weil weder der Prophylaxe-Antikörpercocktail Evusheld noch therapeutische Antikörper das Virus neutralisieren können. Der Antikörperschutz der Impfungen lässt nach – bei älteren Menschen noch schneller – das ist bekannt. Bei Kindern sind, wie oben geschrieben, 78% noch gar nicht geimpft. Weshalb es sinnvoll ist, Kinder auch nach einer Infektion noch zu impfen, zeigen die Hospitalisierungsraten und der Vergleich mit Influenza (Tso et al. 2022). Zudem schützen sie damit auch ihre Klassenkameraden, denn Kinder mit Immunschwäche habe ein höheres Sterberisiko. Überhaupt – LongCOVID wurde im Interview völlig ausgeklammert.
Warum? Nach zweieinhalb Jahren Pandemie hat ein “akribisch arbeitender” Journalist in meinen Augen die Pflicht und Verantwortung, den Gesundheitsminister darauf festzunageln: “Weltweit zeigen immer mehr Studien, wie verheerend sich LongCOVID auf die Wirtschaft auswirkt und den Staat langfristig Milliarden Euro kosten kann. Ich habe mit LongCOVID-Spezialisten gesprochen, sie berichten von monatelangen Wartezeiten für das Erstgespräch. Die Zahl der LongCOVID-Fälle steigt schneller als die Aus- und Weiterbildung der Ärzte in Österreich nachkommt, um genügend Anlaufstellen zu schaffen. Sollte die Regierung nicht in besseren Infektionsschutz investieren, um künftige LongCOVID-Erkrankungen zu vermeiden?“
Stattdessen wurde LongCOVID nicht thematisiert und Querdenkersprech bemüht:

So einen steilen Anstieg gab es nicht einmal bei DELTA, den Peak der Sommerwelle haben wir bereits übertroffen und die Infektionszahlen steigen weiter an. Selbst unter der Annahme, das der Peak der BA.5-Welle bald erreicht ist, baut sich im Hintergrund bereits die Welle der konvergenten Varianten (BQ.1.1, XBB usw.) auf. Zudem kann die Influenzawelle heuer stärker ausfallen, weil die Reisetätigkeit fast wieder Normalniveau erreicht hat und die letzten Jahre kaum Influenzafälle aufgetreten sind.

Wozu haben zweieinhalb Jahre Pandemie ohne längere Inzidenzpausen geführt? In Österreich lässt sich das aufgrund stark gestiegener Überlastungsanzeigen und wenigen Medienberichten nur erahnen, in Deutschland werden Informationen, welche Spitäler noch Kapazitäten haben, für andere Spitäler einsehbar gesammelt – hier ein Screenshot eines hessischen Notarzts, er schreibt dazu auf Twitter: “Eine Lungenentzündung ist in Hessen praktisch nicht mehr behandelbar. Wir wissen nicht, wie das noch weitergehen soll.”

So sieht das Leben, besser gesagt Sterben mit SARS-CoV2″ aus – es trifft dann nämlich alle Menschen, auch jene, die immer behaupten “es gibt nicht nur Covid!”, denn egal, welche Krankheit, Ärzte- und Pflegemangel verschlechtert die Gesundheitsversorgung und führt zu vermeidbaren Todesfällen, wenn der Patient im Stau der Rettungswägen vor der Ambulanz stirbt.
An oder mit?
- Mehr positiv getestete Patienten, egal ob mit oder wegen COVID19, erfordern Isolierungsmaßnahmen, die wieder Bettenkapazitäten für Nichtcovid-Patienten in Beschlag nehmen. Denn man möchte natürlich verhindern, dass sich Risikogruppen, die wegen einer Grunderkrankung oder auch einem banalen Knochenbruch im Krankenhaus befinden, anstecken und sich ihr Zustand rapide verschlechtert.
- Wenn die Inzidenzen so hoch sind, dass immer mehr Patienten “zufällig” auf COVID19 getestet werden, nimmt auch die Zahl der erkrankten Mitarbeiter zu: Weniger Personal, weniger Betten, die benutzt werden können. Selbst bei reduzierter Krankheitslast müssen also OPs verschoben werden. Das schafft wenig Puffer, sollte eine neue Virusvariante wieder schwerere Verläufe machen oder sich der Altersdurchschnitt der Patienten erhöhen, was ebenfalls mit mehr Hospitalisierungen einhergeht.
- Stillfried et al., (17.02.22) stellen im ersten Bericht des deutschen Autopsieregisters fest, dass 86% aller Todesfälle direkt auf COVID-19 zurückzuführen sind und nur 14% auf COVID-19 als Begleiterkrankung.. Die häufigste Ursache war eine Schädigung der Lungenbläschen, gefolgt von Multiorganversagen.
- Covid19 kann bestehende Grunderkrankungen verschlechtern und die Heilung verzögern
- Manche haben Probleme, die durch Covid verursacht worden sind, selbst wenn es nicht die Hauptdiagnose ist (z.B. Schlaganfälle)
Ganz unabhängig von semantischen Spitzfindigkeiten sollten Rauch, Thür, Wolf und alle anderen Journalisten und Politiker ihre Schreibtischperspektive einmal mit persönlichen Gesprächen mit Betroffenen tauschen: Mit PflegerInnen, ÄrztInnen, Angehörigen, aber auch Patienten, die die letzten Monate im Spital waren und berichten können, wie (un)rund das Radl läuft, deren OP ständig verschoben werden muss, ebenso mit chronisch kranken Menschen, die nicht mehr wissen, wie sie sich schützen sollen.
Wahrnehmungsstörungen
Der Catalogue of Bias der Univerität Oxford definiert Perception Bias so:
“The tendency to be subjective about people and events, causing biased information to be collected in a study or biased interpretation of a study’s results.”
Beispiele:
“Ich kenne nur Geimpfte ohne vorherige Infektion, die sich infiziert haben. Geimpfte sind also schlechter geschützt.”
“In meinem Umfeld haben alle ihre Covid19-Infektion gut überstanden. LongCOVID betrifft nur Einzelfälle.”
“Ich trage keine Maske mehr im Supermarkt, fahre ohne Maske im Zug und hab mich trotzdem nicht infiziert. Öffentliche Verkehrsmittel sind sicher.”
“Wenn es die Frau oder Sohn hat, kriegt es der Mann auch. Isolation ist sinnlos.”
“Ein paar Tage nach seiner Infektion wird er sagen, dass er eh nichts hatte. Wegen leichten Symptomen zuhause bleiben ist übertrieben.”
Das Problem dieser Wahrnehmung ist die anschließende unzulässige Generalisierung. Wenn es MIR so geht, muss es ALLEN so gehen. Es fußt nicht nur darauf, was man gerne hören WILL, sondern auch, in welcher Filterblase (Bubble) man sich bewegt. Ich kenne Leute, die immer noch keinen LongCOVID-Fall in ihrer Bubble haben – die glücklichen, aber bevor ich aufgrunddessen behaupte, dass Covid harmlos sein würde, schau ich in die Medienberichte und Studienlage – das Gegenteil ist der Fall.
Der Umstand, dass sich in meinem Umfeld überwiegend Geimpfte infizieren und nicht die bereits Geimpften plus Infizierten (erneut) infizieren, führt nur zu einem Teil auf den verbreiterten Immunschutz durch die Durchbruchsinfektion zurück. Es liegt natürlich auch am individuellen Risikoverhalten und der aktuellen Inzidenz. Wer sich bisher vorsichtig verhielt und daher noch keine Infektion hatte, dem verzeiht die hohe Inzidenz ohne jegliche Schutzmaßnahmen viel seltener Fehler, etwa das kurzzeitige Abnehmen der Maske zum Essen und Trinken während einer Zugfahrt voller (a)symptomatischer Menschen, die keine Maske tragen. Wessen Kind jetzt eingeschult wurde oder in der Kindergartengruppe kam, hat ebenfalls kaum Schutz vor einer nach Hause getragenen Infektion. Wer eine Ansteckung durch den infizierten Partner oder das Kind als gegeben ansieht, hat sich wahrscheinlich nie Gedanken darüber gemacht, wie man das verhindern könnte – und vor allem warum. Nun bewegen wir uns tendenziell in Kreisen von Menschen, die ähnlich denken – die Pandemie hat das verschärft, denn legitimerweise kann ich die Anwesenheit einer Person nurmehr schwer und nicht auf Dauer ertragen, die auf Vorsichtsmaßnahmen pfeift und mich gefährdet. Da ergeben sich allenfalls noch Telefonate oder Whatsapp-Austausch. Es ist eben mehr als nur eine politische Meinung oder Lifestyle-Frage. Ich kann keine andere “Meinung” in der Pandemie tolerieren, wenn das Gegenüber durch sein Handeln meine Gesundheit gefährdet.
Ich erlebe das leider immer wieder, dass von seiner eigenen privaten Stichprobe auf die Gesamtheit geschlossen wird. Der richtige Weg ist hingegen, über die eigene Filterblase hinaus zu recherchieren, sich zu informieren. Das habe ich getan und habe inzwischen hunderte Studien und Medienberichte z.B. zu LongCOVID ausgegraben, ebenso über Reinfektionen oder auch, wie man sich schützen kann, wenn ein Haushaltsmitglied positiv ist.
Für Österreich könnte auch man sagen: Die Suche nach der Wahrheit liegt oft im Ausland, denn dort dürfen Wissenschaftler offenbar unabhängig über die Pandemie reden, bzw. stellen Journalisten kritische Fragen.