
Immer, wenn große Pressekonferenzen in den vergangenen zwei Jahren anstanden, egal ob Lockdown-Verkündigungen oder weitreichende Lockerungen, zog es mich in die Berge, in den Wald, hauptsache weg von der Zivilisation. Seit dem ersten Lockdown waren die Beschlüsse eher zum Weinen. Der zweite Lockdown kam zu spät, der dritte Lockdown auch und kam nur im Osten. Der vierte Lockdown wäre beinahe gar nicht gekommen, weil die ÖVP am Narrativ, dass die Pandemie für Geimpfte vorbei sein würde, unbedingt festhalten wollte. Obwohl OMICRON auch Dreifachgeimpfte anstecken und infektiös machen kann, werden Dreifachgeimpfte weiterhin von vielen Regeln ausgenommen und gefährden damit ungeimpfte Kinder und generell Menschen, die trotz Impfung nur unzureichenden Impfschutz aufgebaut haben.
Seit Welle 1 wird von der Bundesregierung immer wieder der gleiche Fehler gemacht: Man orientiert sich nicht an Inzidenzen, sondern gibt ein festes Datum vor, an dem gelockert werden soll. Dieses Mal ist es der 5. März. Zwar wurde der Leerdenkerbegriff nicht verwendet, aber de fakto ist es ein Zugeständnis an Impfgegner und Leerdenker, ein “Freedomsday”. Folgende Aussagen stammen nicht etwa von FPÖ-Chef Kickl, sondern vom amtierenden Bundeskanzler Nehammer (ÖVP):
“Wir holen uns die Freiheit wieder, die uns das Virus genommen hat”
“Ab dem 5. März wird ein Großteil der Einschränkungen, welche die Menschen so beschweren, wegfallen”
Kickl hätte ”Virus” durch ”Corona-Diktatur” ersetzt und damit die Regierung gemeint, das Ergebnis bleibt aber dasselbe: Österreichs Regierung entscheidet, wann die Pandemie zu Ende ist, nicht die Realität.
Virologin von Laer: „Ich hoffe, dass das Virus sich an den Zeitplan der Regierung hält.“ (ZiB2)
Meine Haltung zur österreichischen Pandemiepolitik ist bekannt. Darum möchte ich hier nur im Einzelnen darauf eingehen, was gelockert wird und welche Folgen hat.
Lockerung der Maskenpflicht in den Schulen
Die Maskenpflicht fällt (zuerst) am Sitzplatz weg. Wie wir seit 1,5 Jahren wissen, bilden geschlossene Unterrichtsräume mit durchschnittlich 30 Schülern ideale Voraussetzungen für Superspreadingereignisse. Die Maskenpflicht fiel zuerst bei den Volksschülern, wo die Impfrate am niedrigsten ist. Bei höheren Altersgruppen ist die Durchimpfungsrate je nach Region, Schule oder Klasse sehr unterschiedlich. Wir wissen ebenfalls, dass das Virus über die Schulen in die Haushalte kommt, wie bei allen anderen Atemwegsinfekten auch. So gefährdet die gelockerte Maskenpflicht nicht nur die ungeimpften Kinder, sondern auch “Schattenfamilien” mit Kindern, Geschwistern oder Eltern der Hochrisikogruppe. Sie gefährdet Gesundheitspersonal und Pflegepersonal, das mit Hochrisikopatienten arbeitet.
Selbst die Direktoren sind für die Beibehaltung der Maskenpflicht.
Wegfall der FFP2-Maskenpflicht abseits von lebensnotwendigen Geschäften und öffentliche Verkehrsmittel
“I never understood why masks are so stigmatized here in the U.S. I’m from Japan where we have been regularly masking since before the pandemic—when feeling a tickle in our throats, during flu season, on crowded trains, etc. Masking is our way of showing kindness to others.”
Risa Hoshino, japanische Kinderärztin, in den USA lebend
Wenn selbst die häufig widersprüchlich argumentierenden Umweltmediziner Hans-Peter Hutter und Great-Barrington-Vertreter Infektiologe Weiss irritiert sind, dass die Maskenpflicht so weitreichend fällt, dann wird umso deutlicher, dass es sich um eine politische Entscheidung gehandelt hat.
Leiterin im Gesundheitsministerium, Sektion Öffentliche Gesundheit, Katharina Reich: „Es kann ja jeder weiter Maske tragen, auch ohne Verpflichtung.“ (17.02.22, ORF-Morgenjournal)
Die Pandemie wird privatisiert und der Bevölkerung Eigenverantwortung aufgedrückt. Die hat ja auch so super funktioniert die letzten 2 Jahre. Genau genommen hat sie nur im ersten Lockdown funktioniert, auch wenn damals schon viele Sturschädeln Haus- und Garagenpartys gefeiert haben. Das hatte nur deswegen kaum Auswirkungen, weil die meisten Fälle in der ersten Welle im Westen stattfanden.
Geplantes Ende der Gratistests für Dreifachgeimpfte ohne Symptome
„Aber es ist zu hinterfragen, ob zum Beispiel geboosterte Menschen, die keine Symptome haben, wirklich dreimal in der Woche testen müssen.“ (Gesundheitsminister Mückstein, ZiB2, 16.02.22)
„Die Öffnung wird stattfinden und dann braucht es auch keine Gratistests mehr.“ (Finanzminister Brunner, ATV-Interview, 17.02.22)
Wir wissen seit Beginn der OMICRON-Welle weltweit, dass auch Dreifachgeimpfte sich anstecken und das Virus weitergeben können. Es gibt Belege für asymptomatische und präsymptomatische Übertragung. Die Infektionskette ist ganz einfach: Dreifachgeimpfter Pfleger oder Behindertenassistenz ist unbemerkt infiziert und steckt einen älteren Menschen mit nachlassender Immunität oder einen chronisch kranken Menschen mit eingeschränkter Atemfunktion an. Für die kann die Infektion lebensgefährlich verlaufen. All jene mit unzureichendem Immunschutz werden von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen (lesenswert: Ed Young: The Millions of People Stuck in Pandemic Limbo, 16.02.22) – es sei denn, jene, mit denen sie regelmäßig Kontakt haben, zahlen für ihre PCR-Tests, um möglichst sicher zu gehen, dass sie nicht infiziert sind. Zu den neuen Risikogruppen zählen auch LongCOVID-Betroffene, deren Gesundheitszustand sich mit Impfung verschlechtert hat und die anfälliger für Reinfektionen sein können.
Es ist gerade für Personen mit Immunschwäche überlebenswichtig zu wissen, ob bzw. wann sie Kontakt mit einem Infizierten hatten, um rechtzeitig antivirale Medikamente oder die noch verbliebenen wirksamen monoklonalen Antikörper zu erhalten. Jeder Tag zählt.
Sich vor dem Besuch der Eltern testen, geht dann nicht mehr. Wenn man Pech hat, ist man asymptomatisch und bringt sie um – zugespitzt.
Die Logik ist nicht nachvollziehbar: Wenn ich Symptome habe, bleibe ich ohnehin daheim. Wenn man keine Symptome hat, wäre es wichtig zu wissen, ob man infiziert ist, um auf Arbeit und in der Freizeit niemand unwissentlich anzusandeln. Das ist das ganze Wesen der Coronapandemie, warum wird das nach zwei Jahren wieder in Frage gestellt? Das ist unabhängig davon, dass OMICRON dank der vielen geimpften Menschen nicht so schwer wie DELTA verläuft. Die Übertragung ist davon aber ausgenommen.
Problematisch bleibt es außerdem für alle, die trotz Impfung LongCOVID bekommen und dies später vor den Krankenkassen oder dem Arbeitgeber beweisen müssen. Die Fälle sind zwar selten, aber sie kommen vor – und bei den riesigen Infektionszahlen sind das doch wieder nennenswert hohe absolute Zahlen (Ayoubkhani et al., 26.01.22), das trifft vor allem die Zweifachgeimpften (immerhin noch knapp 40% der Bevölkerung), aber mitunter auch Dreifachgeimpfte mit nachlassender Immunität und eventuell mit BA.2, die wieder mehr Immun Escape aufweist.
Wiedereinführung der 3G-Regel in der Gastronomie
Sie führt vor allem die Impfpflicht ad absurdum. Ins Gasthaus gehen zu können bedeutet für viele Menschen Lebensqualität (für mich auch). Seit DELTA und OMICRON sind die Gültigkeitszeiten für Antigen- und PCR-Test nicht mehr ausreichend.
Öffnung der Nachtgastronomie
„In die Diskothek muss nicht jeder gehen. Das ist ein Unterschied des Settings. Wichtig ist mir die Prognose auf den Normal- und Intensivstationen. Wenn wir hier kein Problem sehen und ist die Prognose heute oder gestern wieder gewesen, dann sind diese Eröffnungsschritte jetzt vertretbar, dann machen wir diese Settings auch auf.“ (Mückstein, ZiB2)
Hier werden Epidemiologie und medizinisches Risiko vermischt. Diskotheken sind gemeinsam mit Après-Ski-Bars die Prototypen für Superspreading-Events. Von Clustern ist auszugehen. Zudem fördert der Kontakt auf engstem Raum hohe Viruslasten, was neben anderen Faktoren ein Grund für schwerere Verläufe darstellen kann. So sorgt man für eine Erhöhung der Infektionszahlen und gefährdet allgemein alle, die nicht genug Immunantwort aufbauen konnten.
“Aber wir haben stabile Verhältnisse auf den Normal- und Intensivstationen” (Mückstein, ZiB2)

Definiere “stabil”.

Erfreulicherweise kein Anstieg durch OMICRON – BA.1, aber wenig Spielraum für die im Hintergrund sich aufbauende BA.2-Welle, die BA.1 gerade verdrängt und wieder stärker auf die Lunge geht, und zudem die monoklonalen Antikörpertherapien bei Risikopatienten unwirksamer macht (Yamasoba et al.,15.02.22). Nicht zu vergessen ist auch, dass der konstant hohe Belag mit Covid-Patienten für die Ärzte und Pfleger schwere körperliche Arbeit bedeutet, die in den “Wellentälern” verschobene OPs nachholen wie verrückt.
Geplante Verschiebung der Impfpflicht
Heute wurde die Impfpflichtverschiebungskommission ernannt, nachdem die Impfpflicht erst vor wenigen Wochen gesetzlich beschlossen wurde. In der Kommission sitzen mit Karl Stöger und Christine Wendehorst zwei Juristen, und mit Herwig Kollaritsch und Eva Schernhammer zwei Mediziner. Sowohl Schernhammer als auch Stöger hatten zuletzt betont, dass man die Impfpflicht als langfristiges Instrument sehen muss, weil immer wieder neue Varianten auftauchen können, die eine Auffrischimpfung notwendig machen können. Als die Impfpflicht im Dezember inmitten der DELTA-Welle beschlossen wurde, haben manche Politiker offenbar ernsthaft geglaubt, sie würde gegen OMICRON noch etwas nützen. Warum man sich ständig auf den Herbst versteift, kann ich nicht nachvollziehen.

Der Wiederanstieg im ersten Pandemiejahr 2020 fand bereits ab Mitte Juni statt, der Wiederanstieg im zweiten Pandemiejahr 2021 mit DELTA ebenfalls ab Mitte Juni, aber viel steiler. Eine ähnliche Entwicklung ist in UK beobachtbar. In Südafrika baute sich die OMICRON-Welle im Dezember auf, wenn auf der Südhalbkugel Sommer ist. Spekulationen zufolge könnte die Mutation N501Y in der rezeptorbindenden Domain den saisonalen Effekt eliminieren und sich daher besser an wärmere Klimazonen anpassen. DELTA und OMICRON beinhalten diese Mutation. Was wird nach BA.2 kommen?
Der saisonale Effekt – das sind vor allem wir. Statt Indoorveranstaltungen jetzt mit unbegrenzter Obergrenze wieder zuzulassen, könnten wir uns in den Frühling retten, wenn wir in Innenräumen weiterhin auf Masken setzen und dort, wo das nicht möglich ist (Indoor-Gastronomie), auf zusätzliche Käsescheiben wie PCR-Tests und – UND – bessere Lüftungsanlagen und CO2-Ampeln, wie es etwa das Innsbrucker Treibhaus auch umgesetzt hat.
In jedem Fall brauchen wir weiterhin die Impfpflicht, weil man sonst mit den nötigen Intervallen zwischen den einzelnen Impfstichen nicht bis Herbst die Zahl der Grundimmunisierungen steigert. Zudem könnte wahrscheinlich ein variantenspezifischer Booster nötig sein und irgendwann nasale Impfstoffe (die bei Mäusen schon funktionieren) und durch Stimulierung der Schleimhaut-Antikörper die Übertragung deutlich reduzieren.
Eine langfristige Strategie muss aber über Impfung und Impfpflicht hinausgehen. Eine Antwort bietet die Regierung diesbezüglich nicht.
Fatales Signal an Bevölkerung
Dazu ein Kommentar von Werner Reisinger in der “Augsburger Allgemeinen” (16.02.22)
Die Bevölkerung wird jetzt wieder in falscher Sicherheit gewogen, dass die Pandemie vorbei wäre, bzw. das OMICRON so mild wäre, dass eine Infektion in wenigen Tagen ausgestanden sei. Für viele trifft das zu, aber nicht für alle und es ist Russisch Roulette herauszufinden, ob man zu den Glücklichen zählt oder nicht. Ich seh da doch qualititative Unterschiede zu einer harmlosen Erkältung, die einem zwei, drei Mal im Jahr erwischt, aber von der in den allermeisten Fällen wieder vollständig genesen wird.
Ich weiß jetzt schon, dass sich manche nach Erleichterungen beim Masken tragen und Testen sehnen, obwohl es die niederschwelligsten und am wenigsten einschränkenden Maßnahmen sind. Es ist – wie schon oft geschrieben – noch zu früh dafür. Mit BA.1/BA.2 hat sich das Wesen der bisherigen Pandemieentwicklung verändert. Die vorhandenen Impfstoffe reichen alleine nicht aus, die ersehnte Herdenimmunität funktioniert nicht.
Fatal ist das Signal aber nicht nur wegen der Nachlässigkeit in der Bevölkerung, sich schon lange vor dem Freedoomsday sorgloser zu verhalten, während die BA.2-Welle anrollt und im Gegensatz zu Dänemark die Impfquote bei uns deutlich niedriger ist und dort Testen weiterhin gratis bleibt, es ist auch das falsche Signal an all jene Solidaritätsverweigerer, die seit Monaten zu tausenden auf die Straße gehen, Angestellte von Spitälern und niedergelassene Ärzte aggressiv nötigen und bereits Anschläge verübt haben. Bei ihnen sprach man in Zusammenhang mit den 2G-Regeln und der Impfpflicht von Spaltung der Gesellschaft – obwohl das Verhältnis der bereits Geimpften zu freiwillig Ungeimpften eher 80:20 ist. Jetzt lässt man die interolante Minderheit gewinnen, nachdem die tolerante Mehrheit zu leise ist. Das Vertrauen in den schützenden Staat, in die Demokratie, ist am Boden. Und über die vorsichtigen Menschen ergießen sich zunehmend Häme.
Vulnerable Menschen und all jene, die die LongCOVID-Folgen kennen und sich darum weiterhin schützen wollen, werden durch die “gewünschten Freiheiten” ausgeschlossen. Wissenschaftler warnen vor “endemischer Täuschung” – OMICRON ist keine Erkältung, die jeder kriegen sollte.
“I don’t particularly want to be in a future where I get COVID twice a year”
Zudem legitimiert es neoliberale, eugenische GreatBarrington-Ideologie – es wurde lediglich Herdenimmunität durch “Endemie” ersetzt – die Normalisierung andauernden Leids.
“Vulnerable schützen, der Rest soll möglichst leben wie früher.”
“our most important task is not to stop spread, which is all but futile, but to concentrate on giving the unfortunate victims optimal care” (Johan Giesecke, 2020)
“Now the strategy in the west is to let everyone get infected. The vulnerable? Those who can’t (or won’t) get vaccinated? They are, essentially, to be allowed to be infected, and if necessary die. Eventually – the “hope” is – everyone who is at risk of severe illness or death will be infected, and many will die. Everyone else will just get a “mild” version of Covid, with their vaccine and/or infection boosted immune system stopping them getting seriously ill.
That again – everyone who is at risk of severe illness or death is going to left to get infected, and either survive it, or die. There will be little effort to stop this. Healthcare workers – it’s up to you, and only you.” (David Steadson, Public Health Epidemiologe)
Wer zur jungen Risikogruppe zählt, lebt aber nicht im Heim und kann hermetisch vom Virus draußen abgeschirmt werden – was im Übrigen nicht auch nicht funktioniert, wenn der Pfleger nicht geimpft sein muss oder nicht getestet ist, der sich wiederum über seine Kindergarten- oder Schulkinder anstecken kann.
Darum – nochmal – brauchen wir die VaccinePlus-Strategie:
- SARS-CoV2 als Virus anerkennen, das über die Luft übertragen wird und Gegenmaßnahmen einleiten
- FFP2-Masken (weiterhin) in allen Indoor-Settings verwenden
- Effektive Lüftung und Luftfilteranlagen im öffentlichen Raum vorantreiben
- Effektives Testen, Contact Tracing und Isolation sind weiterhin notwendig, finanzielle Unterstützung bei Isolation
- globale Impfstoffgerechtigkeit