
Über Wunschdenken (Tag 683) und Gaslighting (Tag 688) habe ich bereits geschrieben. Ich glaube, die grundsätzliche Frage, die sich derzeit viele vernunftgesteuerte Menschen stellen ist, seit wann zur Hölle es für selbstverständlich erklärt wurde, dass “jeder die Infektion kriegen werde.” und sich “jeder das Infektionsrisiko als Lebensrisiko akzeptieren sollte“, um wieder “zur Herde dazuzugehören“?
Im ersten Pandemiejahr teilten wir unsere Angst vor einer Ansteckung, im zweiten Pandemiejahr teilten wir unser Bedürfnis, sich impfen zu lassen. Doch seit der Impfung haben viele Menschen nicht mitbekommen, dass die neuen Virusvarianten die durch die Impfung (und Infektion) erworbene Immunität unterlaufen, sie leben seitdem ihr Leben als wäre die Pandemie vorbei. Solange es noch keine Impfung gab, galt der Schutz der Älteren und Vulnerablen als gesellschaftliches Ziel. Viele Menschen ist nicht von der Regierung nicht kommuniziert worden, dass die Impfung grundsätzlich bei immungeschwächten Menschen nicht so gut wirken könnte wie bei gesunden Menschen. Das wäre der Sinn der Herdenimmunität gewesen. Die Kinder zu impfen ist der Schlüssel zur Beendigung der Pandemie – das weiß man seit spätestens Mai 2020. Übrigens soll jetzt eine Impfung der unter Säuglinge (ab 6 Monate) und Kleinkinder (bis 4 Jahre) zugelassen werden. Dabei handelt es sich um Menschen, die ihr ganzes Leben noch vor sich haben, viele hoffentlich gesunde Jahrzehnte. Ich hätte, obwohl ich keine Kinder habe, mich weiter so lange eingeschränkt, bis bei Kindern eine hohe Durchimpfungsrate erzielt worden wäre. Stattdessen entschied man sich, die Kinder zu durchseuchen und auf diesem Weg eine Herdenimmunität zu erreichen, die schon zum Zeitpunkt der Durchseuchung zweifelhaft und moralisch falsch war. LongCOVID, unbekannte Spätfolgen wie jetzt das verdächtigte Hepatitis, erneute Infektionen mit Gefahr schwerer Akutverläufe, aber auch Eltern, die sich bei ihren Kindern anstecken und nachfolgend schwer oder chronisch erkranken. Die absurde Debatte darüber, dass Lockdowns Hepatitisfälle auslösen würden (in Melbourne, das monatelang im Lockdown war, ist keine Hepatitis-Häufung bei Kindern bekannt), aber eine Masseninfektion keinerlei Folgen erwarten ließe, setzt die Krone auf die aktuelle Verleugnung auf.
Vor einem Jahr haben sich jene ausgegrenzt gefühlt, die “Recht am eigenen Körper” über die Solidarität gegenüber Schwächeren gestellt haben. Jetzt werden die ausgegrenzt, die keine Infektion in Kauf nehmen wollen, “um dazu zu gehören”, während die “mit dem Virus leben”-Fraktion ungetestet und ohne Maske Schwächere gefährdet.
Absurd.
Die Varianten machen den Unterschied
Die Regierung und von ihnen abhängige ExpertInnen haben versäumt zu kommunizieren, dass DELTA die Spiegelregeln geändert hat (z.B. Tag 516) und Geimpfte wieder Teil des Pandemiegeschehens sind. Im dritten Pandemiejahr wurde OMICRON als “Weihnachtsgeschenk” (Tag 656) tituliert, als Ticket in die Endemie (Tag 685), obwohl die Voraussetzungen dafür nicht passen (Tag 740), denn OMICRON ist gar nicht mild, die LongCOVID-Rate bei Geimpften ist gestiegen, für Ungeimpfte ist es ähnlich gefährlich wie bei DELTA, vor allem für ältere und immungeschwächte Personen, bei Kindern ist die Hospitalisierungsrate gestiegen, Kleinkinder leiden häufiger unter Croup-ähnlichen Husten, und die Reinfektionsrate ist hinaufgeschnellt. Betroffen sind vor allem ungeimpfte Kinder, die sich teils schon 3-4x infiziert haben. Erneute Infektionen verlaufen nicht zwingend milder als die Erstinfektion. OMICRON hat eine kürzere Generationszeit als die vorherigen Varianten und hätte daher besser eingedämmt werden können, nicht schlechter. Die weltweit hohen Infektionszahlen haben – no na – SARS-CoV2 reichlich Gelegenheit gegeben, zu zahlreichen Subvarianten weiter zu mutieren, die im dritten Pandemiejahr wohl die großen Reinfektionswellen bringen werden. Saisonalität ist dabei eher zweitrangig, maximal dämpfend, aber ohne Tests, Masken und Boosterimpfungen steigt die Dunkelziffer und heben wir zum Blindflug ab – wie bereits im Frühling 2021 (Tag 411).
Lange Rede, kurzer Sinn: Die Pandemie ist nicht vorbei, nur weil etliche Staaten sie für beendet erklären wollen. In Dänemark ist die Übersterblichkeit angestiegen, in Großbritannien und Schottland gibt es teilweise die höchsten Hospitalisierungsraten seit Pandemiebeginn, gleichzeitig fehlt Personal an allen Ecken und Enden, und die Haus- und Fachärzte können sich vor LongCOVID-Patient kaum retten. Das Gesundheitssystem ist in vielen europäischen Staaten nicht mehr so robust wie vor der Pandemie – mit jeder Welle wird das Personal weniger, durch LongCOVID, Burnout und frustbedingter Umorientierung. Das bedeutet, wenn keine Maßnahmen mehr vorhanden sind, bringt schon der Alltag das Gesundheitswesen schneller an die Grenzen als vorher. Weitere pandemische Wellen oder Doppelwellen mit Influenza sind da nicht eingerechnet.
Wer jetzt so tut, als könne man mit dem Virus leben, indem man so tut, als ob es nicht mehr existiert, der betreibt Realitätsverweigerung. Das kann man als Privatsache betrieben, aber sobald man in Kontakt mit anderen Menschen ist, hat man die Pflicht als Teil der Gesellschaft, auf Schwächere Rücksicht zu nehmen. Weil man normalerweise nicht erkennt, wer zu den “vulnerablen Personengruppen” zählt, weil nicht alle alt sind, eine sichtbare Behinderung haben oder nicht geimpft werden konnten, sollte man sich auch allen Menschen gegenüber rücksichtsvoll verhalten.
Politik der Ewigkeit
Dieser ganze Prozess der Massenverleugnung erinnert mich an Timothy Snyders postulierte “Politik der Ewigkeit” (in seinem Buch “Weg zur Unfreiheit”). Dieser besteht in einem aufgezwungenen Fatalismus (“Es gibt keine Alternativen, daher kann man nichts tun, die Ereignisse zu verhindern.”). Wir erinnern uns an Franz Allerbergers “Jeder wird es kriegen” (Oktober 2020), an Günter Weiss’ “Die Varianten werden sich so oder so ausbreiten” (Februar 2020) und an Wolfgang Mücksteins besonders perfide Aussage “Wenn nicht alle OMICRON auf natürlichem Wege bekommen, wird es neue Varianten geben.” (Dezember 2021). Die Handlungsfähigkeit der Regierung und der Bevölkerung, den Kurs der Pandemie aktiv mitzubestimmen, wird dadurch in Frage gestellt. Der globale Reiseverkehr, vor der Pandemie ein akutes Problem durch overtourism, hat aus Chinas Epidemie erst eine Pandemie gemacht. Dazu die wirtschaftliche Verflechtung, einhergehend mit Businessreisen, die man – wie man jetzt gesehen hat – in vielen Bereichen durch Online-Meetings ersetzen kann. Wir hätten Masken tragen können wie in China, aber auch in Singapur, in Kuba, in Chile oder in Italien, die aus der verheerenden ersten Welle augenscheinlich gelernt haben. Wir hätten viel höhere Impfraten erreichen können, vor allem unter Kindern, und wir hätten das Testsystem flächendeckend ausbauen statt ständig zurückfahren können. Infektionsvermeidung hätte mit Anreizen belohnt werden können, etwa finanzielle Förderungen oder prominente Werbeplätze für Betriebe und Tourismus.
Der Schlüssel zur Pandemiebekämpfung ist jedoch die health literacy innerhalb der Bevölkerung. Wie frei zugänglich sind seriöse wissenschaftliche Informationen, wie gut die wissenschaftliche Bildung? Ein Beispiel: Der Wildwuchs an Apotheken, die homöopathische Mittel anpreisen und für Kombipräparate werben, damit man krank zur Arbeit gehen kann, fördert nicht die health literacy. In Asien ist die Health Literacy besonders gut ausgeprägt, hier setzt man auf Prävention durch Maskentragen. Denn wer das Virus nicht weitergeben kann, trägt aktiv zur Infektionsvermeidung bei – insbesondere dann, wenn er (noch) keine Symptome aufweist.
Die Regierung wälzt die Pandemiebekämpfung weitgehend durch Eigenverantwortung an die Bevölkerung ab. Mangels seriöser Informationen ist diese aber nicht in der Lage, im Sinne der Mehrheitsgesellschaft zu entscheiden. So erscheint seit zwei Jahren durch den Willen der Bevölkerung alias durch eine lautstarke Minderheit legitimiert, wenn die Regierung Schutzmaßnahmen lockert. Masken werden als einschränkend empfunden, obwohl sie uns trotz Pandemie einen großen Bewegungsradius geben. (PCR-) Testen wird als lästig empfunden, obwohl man froh sein sollte, dass man bei uns vielfach kostenfrei feststellen kann, ob man mit hoher Wahrscheinlichkeit infiziert oder nicht infiziert ist. Impfen wird angesichts der zahlreichen Durchbruchsinfektionen in Frage gestellt, obwohl die Korrelation eindeutig ist und immer noch wesentlich weniger geimpfte als ungeimpfte Menschen im Spital landen. Ein schwerer Verlauf erhöht auch die Risiken für Organ- und Folgeschäden ganz erheblich.
Narrative mit “Täter-Opfer”-Umkehr
Mit “Täter” meine ich jene, die die Schwere der Infektion herabspielen und vom Gegenüber erwarten, dass er sein Schicksal annehmen müsste, das da lautet: Du wirst Dich irgendwann anstecken, Du kannst Dich nicht ewig einsperren, sei endlich so wie wir und betrachte Covid19 als selbstverständliches Risiko im Leben wie alle anderen auch.
“Er hatte doch Vorerkrankungen!”
Personen aus der Risikogruppe wurde wiederholt gesagt, sie sollten sich eigenverantwortlich schützen (in einer Umgebung, die das unmöglich macht) und sind oft Ziel versteckter Andeutungen wie dass ihre Vorerkrankung “ihre Schuld” wäre und “sie hätten ihre Zeit gehabt.” Es teilt die Gesellschaft in zwei Gruppen auf: “Ihr seid eine Belastung” und alle anderen. Niemand will den anderen zur Last fallen, daher lehnen manchmal selbst Personen mit erhöhtem Risiko Schutzmaßnahmen ab, oder leugnen ihr eigenes Risiko. Doch handelt es sich dabei um eine künstliche Unterteilung.
Die “zur Last fallen”-Gruppe besteht aus Menschen, die aktive und wertvolle Mitglieder der Gesellschaft sind, die zur Kultur, Wissen, Wirtschaft beitragen, sich um andere sorgen. Sie sind nicht entbehrlich, sondern unverzichtbar. Wenn man also schwere Verläufe und Todesfälle nur als Problem einer künstlichen “zur Last fallen”-Gruppe sieht, und Schutzmaßnahmen als Gefallen gesehen wird, der von einer für die andere Gruppe getan wird, dann hat das weitreichende Folgen, z.B. die Fehler von Regierungen als entschuldbar sehen und zu ignorieren, wie viele Menschen tatsächlich schwer erkranken können, unabhängig von Vorerkrankungen und LongCOVID.
Gestörtes Verhältnis zu Krankheit und Behinderung
Steiner-Ideologie mit Ablehnung, Verdrängung und Ausgrenzung, Krankheit wird als Strafe oder persönliches Versagen instrumentalisiert. Am Anfang wollte man die junge, gesunde Bevölkerung beruhigen und wiederholte, dass “nur” Alte und Vorerkrankte gefährdet wären. Das hielt sich bis heute: Nur alte Menschen sterben, für junge Menschen und Kinder ist SARS-CoV2 nicht gefährlich. Menschen mit Behinderungen/Vorerkrankungen haben von Beginn an darüber aufgeklärt, dass es viele junge Menschen mit (schweren) Vorerkrankungen gibt, die mitten im Leben stehen, die arbeiten, die unterrichten, die studieren, die eine Regelschule besuchen. Vom Gesundheitsminister – erst Mückstein, dann Rauch – wurde aber, zuletzt bei der Änderung des Testregimes – kommuniziert, dass vulnerable Menschen nur in Alten- und Pflegeheimen leben. Menschen, denen man eine Behinderung nicht auf den ersten Blick ansieht, können also nicht “vulnerabel” sein. Die katastrophale Inklusionspolitik verstärkt das Bild, dass Menschen mit Behinderungen unsichtbar bleiben (“du bist zu jung/schön, um so krank zu sein”). Behinderungen und Krankheiten werden zum individuellen Problem, zu Einzelschicksalen degradiert, zur Eigenverantwortung “Du kannst ja weiter Maske tragen”, mit eugenischen Bezügen (“Wurde das vor der Geburt nicht entdeckt?”, “Ohne Covid wäre er halt an der Grippe gestorben”). Die Solidarität der Mehrheitsgesellschaft fehlt. Eine Covid-Infektion ist auch nicht individuell beeinflussbar. Es liegt eben nicht nur am “starken Immunsystem” oder am jungen Alter. Wer dann trotzdem LongCOVID bekommt, der muss etwas falsch gemacht haben, der hatte vielleicht doch Vorerkrankungen oder redet sich vieles nur ein, ein psychisches Problem [Zusammenfassung dieses Threads].
Pathologisierung von Vorsicht
Wer weiterhin vorsichtig ist, dem wird “krankhafte Angst” oder “Wahn” unterstellt. Mit den Gründen für diese Vorsicht muss man sich dann nicht weiter auseinandersetzen. Menschen wie ich, die weiterhin vorsichtig bleiben wollen, weil sie sich leider mit den Covid19-Risiken intensiv auseinandergesetzt haben und leider auch mehrere LongCOVID-Fälle im Umfeld haben und sich ohnmächtig fühlen, weil sie kaum oder gar nicht helfen können, haben eben Probleme, “zurück zur Normalität” zu finden. Dafür wird man ausgegrenzt und bemitleidet. Du bist herzlich eingeladen zur Feier zu kommen, dass Du nicht hingehen willst, weil sie drinnen stattfindet, tja, das ist eine andere Geschichte.
Der Psychotherapeut Axel Weiss (@AxelWeiss7) schreibt:
“Es gibt natürlich Menschen, die Probleme mit Angst haben. Die wegen der Pandemie notwendigen Einschränkungen sozialer Aktivitäten haben insbesondere Menschen mit sozialen Ängsten Übungsmöglichkeiten genommen und ihr Problem oft weiter verschärft. Diesen Menschen macht es aber noch mehr Probleme, wenn sie wegen angemessener Vorsicht zusätzlich ausgegrenzt werden. Das zeigt: das Narrativ von der Schwierigkeit in die „Normalität“ zurückzukehren hilft nicht Menschen, die mit Angst tatsächlich ein Problem haben, sondern dient dazu Vorsicht in den Zuständigkeitsbereich von Psychotherapeuten zu verschieben.”
Um zur Titelfrage zu kommen:
Wie haben wir es als Gesellschaft so weit kommen lassen, dass wir vorsichtige Menschen pathologisieren, während eine gefährliche Infektionskrankheit als selbstverständliches Lebensrisiko normalisiert wird?
Ich wiederhole immer und immer wieder, dass “Eigenverantwortung”, die erschreckender Weise bei so vielen fehlt, ein Schlüsselwort ist.
Es ist meine Entscheidung, egal was irgendwer zu mir sagt (ob das einer der mich in der Straßenbahn blöd angeht oder weils jemand aus der Regierung sagt) – ich trage eine FFP2 Maske. Sobald ich keinen Elefanten Abstand halten kann zu irgendwem. Es ist mir Pustekuchen ob das auf der Straße in der Innenstadt oder in den Öffis ist. Ob bei einer Besprechung oder dergleichen (selbst wenn die Anwesenden alle getestet sind), ist egal. Ich hab sie auf. Ja, man bekommt nicht so toll Luft. Aber ich habe auch 12h Dienste mit körperlicher Arbeit getätigt mit Maske und find es einfach nur lächerlich wenn ich auch nur irgendjemanden wegen ein paar Minuten Maske tragen aufführt als würde man ihm einen Polster aufs Gesicht drücken.
Dein Beitrag trifft es Mal wieder sehr auf den Punkt. Danke.
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