Infektionen vermeiden ist kein Wettbewerb

Die Löffeltheorie angewandt auf Menschen im Autismus-Spektrum – begrenzte Energie im Alltag

Manchmal würde ich mein über die letzten Jahre erlangtes Wissen gerne rückgängig machen. Es belastet, wenn man im Alltag nicht darüber reden kann oder darf. Es interessiert niemanden und der Niveauunterschied in meinem Wissen zu Corona und dem der Mehrheitsbevölkerung ist inzwischen so groß, dass ich nicht einmal wüsste, wo ich anfangen soll zu erklären. Es scheitert oft schon daran, dass der Irrglaube an Zugluft und Immunsystem stärken so beharrlich vertreten wird, dass Widerspruch zwecklos ist. Was hindert mich am Versuch zu vergessen? Ich erlebe gerade jetzt wieder, wie sich Erstinfektionen bei immunkompetenten Menschen auswirken – die zwei Wochen und länger positiv testen und mehr oder weniger deutliche Symptome aufweisen. Ich erlebe mit, was es bedeutet, wenn die Longcovid-Symptome nicht mehr verschwinden und die Lebensqualität deutlich einschränken. Nicht nur den Alltag beeinträchtigen, sondern auch Pläne für die Zukunft zerstören. Zugleich weiß ich, dass ein Restrisiko immer bleiben wird, solange dieses Virus dauerhaft zirkuliert.

Die Kontrollgruppe – scherzhaft sind damit jene unter uns gemeint, die sich noch nie nachweislich infiziert haben – wird mit jeder Welle kleiner. Ein harter Kern an “covidbewussten Menschen” beobachtet diesen Trend mit Sorge und teilweise auch Unverständnis. Bringen die Schutzmaßnahmen nichts mehr oder sind die vorsichtigen Menschen unvorsichtig geworden? Und wenn ja, warum? Sie wissen doch, was ihnen blüht, wenn sie sich anstecken. Warum schützen sie sich dann nicht mehr? Ist es heuchlerisch zu sagen, man sei vorsichtig, wenn man zwar Maske in den Öffis trägt, aber dann doch zur Geburtstagsfeier ins Restaurant mitgeht? Ist man eine schlechte Mutter, wenn das Kind mit anderen Kindern drinnen spielen darf, aber dabei keine Maske trägt?

Infektionsschutz durchsetzen braucht einen sehr langen Atem

Trauriger Fakt im Herbst 2024 ist leider, dass ein starker Gewöhnungseffekt an die zusätzlichen Krankenstände herrscht, die SARS-CoV2 zu den bestehenden Infektionskrankheiten verursacht. Nach wie vor ist es weder gesellschaftlich noch politisch möglich, wieder Schutzmaßnahmen einzuführen – egal wie gelinde und behutsam diese vorgetragen werden. Es ist nicht absehbar, ob und wann sich diese Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Gesundheit und der von Dritten wieder ändert. Die Situation mit der sauberen Luft in Innenräumen ist alles andere als zufriedenstellend. Wenn man aber an den Nichtraucherschutz zurückdenkt, dann hat es auch Jahrzehnte gedauert, sich gegen die Tabaklobby durchzusetzen. Bis heute ist es selbstverständlich, dass im öffentlichen Raum geraucht wird – an Haltestellen, vor öffentlichen Gebäuden oder im Gastgarten. Zigarettenautomaten sind nach wie vor nicht aus der Öffentlichkeit verschwunden. Die kurzzeitige Regelung mit getrennten Raucherbereichen zwang die Gaststätten, in gute Lüftungsanlagen zu investieren. Diese würden jetzt erneut gebraucht – und mit Überwachung durch CO2-Messgeräte könnte man für saubere Luft in Innenräumen sorgen, in denen man sich wieder gerne und sicher aufhalten kann. Doch das ist ein Langfristprojekt und nicht jeder von uns hat den langen Atem dafür, sich bis zur Durchsetzung von Infektionsschutz massiv einzuschränken, sein Leben dauerhaft auf den Kopf zu stellen, zu vereinsamen oder seinen Job zu riskieren.

Äußere Zwänge verlangen Kompromisse

Gesundheit über alles im Leben stellen zu können ist ein Luxus, den sich nicht jeder leisten kann und ab einer bestimmten Schmerzgrenze auch nicht leisten will. Können es sich Armutsbetroffene leisten, ein gutes Jobangebot auszuschlagen oder ein Bewerbungsgespräch, wo Maske tragen nicht gut kommen würde? Können es sich Selbstständige leisten, Kunden zu verlieren, weil sie Maske tragen oder Mitarbeiter sagen, dass sie dann kündigen? Gerade Journalist*Innen haben besonders viele Kontakte und davon geht nun einmal nicht alles per Skype oder E-Mail. Hinzu kommen Pressekonferenzen und Vorträge. Wenn das Kleinkind keine Maske tragen kann, soll das Kind dann zuhause bleiben? Kann sich das eine alleinerziehende Mutter überhaupt leisten, die nebenher berufstätig ist? Wenn das Kind in der Schule mehrheitlich gemobbt wird wegen Maske tragen, soll man dann dem Kind die Verantwortung aufzwingen, die das Versagen der Erwachsenen ausbaden müssen? Soll man seine Sozialkontakte nurmehr auf Menschen beschränken, die genauso vorsichtig sind wie man selbst, auch wenn man damit zwei Drittel seines Freundes- und Bekanntenkreis kübeln muss – darunter auch den lieben Freund, den man schon seit Jahren kennt, aber sich seine Infos vor allem aus dem ORF und anderen Nachrichtensendungen holt, die in jeder Coronawelle verharmlosen? Was macht man, wenn der Partner nicht mitspielt und ständig Druck ausübt? Was macht man, wenn die Großeltern bei der Kinderbetreuung nicht mitspielen? Was macht man, wenn man Single ist und ohnehin nur wenige Freunde? Was macht man, wenn der Aufwand, sich in jeder Situation möglichst gut zu schützen, den Erholungs/Nutzwert bei weitem übersteigt und man nurmehr gestresst ist, weil man so viel durchplanen muss?

Die Löffel-Theorie

Christine Miserandino, die an Lupus erkrankt ist, beschrieb die daraus folgende Erschöpfung und begrenzten Handlungsradius mit der “Spoon Theory”:

Kranke Menschen müssen Entscheidungen treffen oder bewusst über Dinge nachdenken, die gesunde Mitmenschen nicht tun müssen. Die meisten Menschen, vor allem junge Leute, beginnen den Tag mit einer unbegrenzten Menge an Möglichkeiten und Energie um das zu tun, was immer sie begehren. Meist müssen sie nicht über die Auswirkungen ihrer Handlungen nachdenken. Als gesunder Mensch habe man einen unbegrenzten Nachschub an “Löffeln”. Wenn man nun seinen Tag planen muss, muss man genau wissen, wie viele Löffeln verfügbar sind. Jede Aktion geht auf Kosten eines Löffels, selbst vermeintlich leichte Alltagsfertigkeiten wie Aufstehen, sich zurechtmachen, Frühstück machen, etc… am Ende bleiben nur wenige Löffel für den restlichen Tag übrig. Wenn man sich einen Löffel vom Folgetag leiht, bleibt entsprechend weniger Energie übrig. Man läuft ständig Gefahr, in eine ernste Situation zu geraten, weshalb es ratsam ist, immer einen Löffelvorrat zu haben. Folglich bleiben zu Tagesende kaum Löffel übrig und Essen machen ist zwar noch möglich, nicht aber mehr der Abwasch.

Die Löffeltheorie ist eine Metapher dafür, was man als kranker Mensch tun kann und was nicht. Und das gilt nicht nur für Lupus sondern für jede Art der Behinderung oder Krankheit.

Das kann etwa bei Autismus bedeuten, dass man genügend Energie für Sport oder Spezialinteressen hat, nicht aber für gesellschaftliche Aktivitäten oder Urlaub planen.

Ich fand Urlaub planen schon vor der Pandemie mühsam. Reisen mit dem Flugzeug sind für mich zum Beispiel extrem stressig, aber auch das tägliche Essen planen zu müssen. Die Reise mit dem Zug fand ich nie mühsam, außer man muss häufig umsteigen. Ich fürchte mich mit meiner FFP3-Maske auch nicht vor Ansteckungen, egal wie voll der Zug ist. Doch die Nahrungsaufnahme ist mit der Pandemie zur Blackbox geworden. Wie viel Aufwand will ich betreiben, um sicher essen zu können? Ich könnte nun sagen, ich esse ausnahmslos zuhause oder draußen, aber was mache ich im Urlaub, wenn es regnet oder kalt ist, und man draußen nicht mehr sitzen kann? Ich könnte bestellen, doch dafür muss ich anrufen, was mir wieder Löffel zieht. Zudem hat mir bisher in den seltensten Fällen bestelltes Essen wirklich geschmeckt. Ich gehe übrigens gerne essen und kann es mir auch leisten – schätze zudem, wenn ich wenigstens in meinem Urlaub keinen extra Aufwand für Kochen und Geschirr spülen betreiben muss. Letztendlich nutze ich jede Gelegenheit, um draußen zu essen – aber wenn sich keine Alternative auftut, dann ist das eben das Risiko, das zu umgehen sonst zu viele Löffel zieht.

Es gibt dann auch Situationen, wo nicht mitzugehen um die wertvollen Gespräche und Infos bringen würde, weswegen man überhaupt mitgeht – wie bei Fortbildungen. Meine langjährige Erfahrung ist, dass die Fortbildungen vor allem bei den Pausengesprächen und Abendgestaltung stattfindet, nicht beim Frontalunterricht. Sich ausgerechnet da immer zu verabschieden, weil es einem zu riskant ist, ist sehr bitter auf Dauer – da geht es nicht nur um entgangene Infos, sondern mitunter auch berufliche Kontakte, die einem einmal sehr nützlich sein können. Ich betreibe ja nach wie vor einen gewissen Aufwand, mit CO2-Messungen und kleinem Luftfilter, baue Käsescheiben ein, aber bin nicht bereit alles aufzugeben, bis in fünf, zehn oder zwanzig Jahren die Gesellschaft soweit ist, ihren Egoismus dem Wohlergehen aller Menschen unterzuordnen.

Diese Schmerzgrenze ist höchst individuell, ebenso die Zahl der Risikosituationen pro Jahr, die man zulässt, weil es ein wichtiger beruflicher Anlass ist, weil man einen Freund das erste Mal seit Jahren wieder sieht, oder andere Situationen. Genauso kann man sehr konsequent sein, wenn die immunsupprimierte Partnerin darum bittet, oder wenn man seinen herzkranken Sohn schützen will. Warum schützt sich der 90jährige Opa nicht? Weil er nicht weiß, wie lange er überhaupt noch am Sozialleben teilhaben kann. Warum geht die junge immunsupprimierte Frau auf die Party? Weil sie nicht weiß, wie lange es ihre Krankheit überhaupt noch zulässt, aus dem Haus zu gehen. Sie alle gehen Risiken ein, was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, denn eine Covid-Infektion könnte den Krankheitsverlauf beschleunigen. Aber manchmal ist es auch ein Wettlauf mit der Zeit, und es nicht mehr erleben zu können, wiegt in ihren Augen schwerer als ewig zu verzichten, aber dann nicht mehr zu können. Das kann man nicht für andere entscheiden, sofern die Risiken bewusst sind und es keine aufgezwungener Willen ist. Vielen Wirtshausbesuchern mit 50+ in den ersten Pandemiejahren war nicht bewusst, wie gefährlich Covid wirklich für sie ist. Relevant ist die eigene Vulnerabilität, wie oft man impfen geht, ob man Kinder hat, wie die Kinder zurechtkommen, berufliche Gegebenheiten und Spielraum zum Scheitern oder Zurückstecken.

Ich habe mich entschieden, nicht über das zu gehen, was mein Energieniveau (“Löffel”) mir vorgibt. Das heißt nicht, leichtsinnig in Risikosituationen zu gehen, aber auch nicht täglich stundenlang darüber grübeln zu müssen, wie ich Risikosituationen aus dem Weg gehen kann. Das Restrisiko bleibt – auch für andere Viren, wie ich gemerkt habe. Mit hCoV-OC43, Rhinovirus und Parainfluenzavirus habe ich in 2 Jahren bereits drei Virusinfektionen hinter mir, auf die ich gerne verzichtet hätte, aber was wäre die Alternative gewesen? Die Eltern nicht an Weihnachten besuchen? Mit dem alten Studienfreund nicht wegzugehen? Auf das Abendessen mit einem Freund zu verzichten? Meine Anzahl an Sozialkontakten, mit denen ich mich face to face unterhalte, war ohnehin schon immer gering und wurde durch die Pandemie noch geringer.

An manchen Schrauben kann man sicher drehen, besser vorausplanen, aber nochmal: Es gibt ein Restrisiko – mir selbst den Anspruch auf 0% Risiko zu geben, würde mir Dauerstress verursachen – zusätzlich zu dem bestehenden Stress als Autist in einer neurotypischen Welt. Ich glaube, als abschließendes Fazit, darf auch einmal stehen bleiben, dass es keine perfekte Lösung gibt – dass ich nicht zufrieden bin mit dem status quo, dass ich Kompromisse eingehen muss und im Vergleich zu vor der Pandemie bestimmte Dinge nicht mehr bereit bin zu tun, wie Indoor-Konzerte, Übernachtungen auf Hütten, Gruppenreisen oder regelmäßig mit den Kollegen Bier trinken. All das ist ein Rückschritt für mich und ich habe teilweise viele Jahre gebraucht, etwas zu tun, was für andere selbstverständlich ist. Man darf das betrauern, und man darf es gelegentlich auch austesten und betrauern, wenn man es schiefgeht.

4 thoughts on “Infektionen vermeiden ist kein Wettbewerb

  1. Ich hoffe es ist ok, noch ein Kommentar hinzuzufügen. Ich bleibe in meinem Fall beim FFP2 Maskentragen, und zum Glück habe ich nichts schlimmeres wie ein paar blöde Kommentare erlebt. Aber das Gefühl der Ausgrenzung ist sowohl schmerzhaft wie auch beängstigend. Und man erlebt es immer wieder, in allen möglichen Bereichen.

    https://bbc.com/news/articles/c87x2p535wqo

    Ich bin gerade über diesen Artikel gestolpert. Es geht in diesem Fall über Begleithunde. Einige denken vielleicht Mobbing passiert nur auf Spielplätzen unter Kleinkindern. Aber auch wenn man 100 Jahre alt wird, ist man nachwievor noch im Schulhof, wo sogar das Tragen eines etwas “anderen” Schulranzens zu Gewaltausbrüchen führen könnte. Ich kann da nicht wegschaun, und bin über Blogs wie diesen stets dankbar.

    Like

  2. Ein massives Dilemma auf den Punkt gebracht! Ein bisschen mehr zu sehen, was abläuft (in vieler Hinsicht), ist schwer erträglich. Aber einfach mitzurennen, hieße für mich, mich selbst zu verlieren. Mittlerweile kommt mir jeder Optimismus (auch in Bezug auf Klima, Politik usw.) wie lächerlicher Selbstbetrug vor. Was hilft, ist, Gleich-Fühlende zu haben. So ist dieser “Blog” für mich hilfreich. Danke!

    Liked by 1 person

  3. Als ich nach drei Wochen mit SARS COVID-19 wieder halbwegs Fit war und ein paar Leute getroffen habe, haben die so was ähnliches gesagt wie “hey, wilkommen im Club, ich weiss es war schlimm, aber jetzt bist du endlich immun!”

    Mein Gedanke war jetzt immun? Wirklich? Was ist mit den 5 Spritzen die ich bereits vorher schon hatte ihr Quatschköpfe? Aber meine Antwort war etwas höflicher, “na ja, für ein paar Monate wenigstens, zumindest gegen die jetzt gängige Variante/Sub-Variante.” Und die anderen haben irgendwie auf meine Antwort traurig nach unten geschaut.

    Ich stelle mir gerade vor ich wohne in Perth oder San Diego. Der UV-Index ist oft hoch. Viele Leute tragen im Freien Hüte, auch drinnen, weil man nicht immer drann denkt den Hut auf- und abzusetzen. Wen kümmerts auch? Und dann stelle ich mir vor ich wohne in Juneau oder Glasgow. Der UV-Index ist oft nicht so sehr hoch. Trotzdem tragen einige Hüte wenn sie wollen, auch eher Sonnenhüte als Winterkapuzen.

    Als abstrakter COVID-19 (oder auch allgemein für Atemwegserkrankungen) Vergleich bin ich vielleicht jetzt gerade in Melbourne. Es ist teils bewölkt. Ich laufe ohne jeglichen Sonnenschutz durch die Stadt, versuche aber möglichst viel im Schatten zu bleiben. Ich bewege mich aber richtung Westen, Nullarbor Plain, null Bäume, null Schatten. Der südliche Sommer kommt. Ich bin doch nicht blöd. Irgendwann setzt ich meinen Hut auf, benützte vielleicht auch Sonnencreme, was man halt tut um sich zu schützen (oder bei vielen auch nicht).

    Liked by 1 person

  4. Gut beschrieben.

    Ich finde mich in sehr vielen Punkten wieder. Abstriche an der Sicherheit mache ich nur sehr selten. Wenn man einmal die seltsame Tante ist, wird es egal.

    Das Löffelsystem trägt mich seit Jahren durch das Leben. Beneide jeden, der das nicht braucht. Jede Infektion klaut mir Löffel auf mehreren Ebenen. Und sie reichen eh schon nie aus.

    Zum Glück sind persönliche und berufliche Dinge recht passend. Bin sehr gerne allein, Urlaube können problemlos angepasst werden, Partner zieht mit, im Job hab ich den Stempel weg aber alle ignorieren es inzwischen.

    Sehr frustrierend ist es, niemanden mehr zu erreichen. Informationen werden aktiv abgelehnt, Solidarität für andere findet nur sehr selten statt.

    Besonders in meiner Berufsgruppe würde ich Wissendurst und Interesse für Wissenschaft und ihre Erfolge erwarten. Leider ist Beides kaum zu sehen.

    Deine Seite finde ich sehr unterstützend. Direkte Formulierungen, klare Infos, dabei viel Herz und Verstand.

    Dankeschön!

    Liked by 3 people

Leave a comment

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.