Warnungen und Fakten wurden längst zu Meinungen degradiert. Ein Problem, das längst nicht nur mehr die SARS-CoV2-Pandemie und ihre langfristigen Folgen betrifft, sondern alle Gesellschaftsbereiche. Natürlich hat es das schon immer gegeben, aber durch Social Media und Kontrolle der Medien wurde die Unlogik noch nie so tiefgreifend zur Staatsräson erhoben wie jetzt durch die Pandemie sichtbar wurde. Der Journalismus ist in einer globalen Krise mit schwerwiegenden Folgen und Österreich ist davon besonders stark betroffen. Die Presseförderung bzw. Förderung mit politischen Inseraten begünstigt überproportional Boulevardmedien, die es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Nischenmedien für Migranten wie OktoTV, DasBiber oder “DaStandard” werden eingestellt, Magazine für Menschen mit Behinderungen wie Anderererseits kämpfen ums Überleben.
Die Regierungen nützen die Journalismuskrise eiskalt aus für ihre Ziele, die Botschaften ihres Regierungsprogramm möglichst mundgerecht und kritiklos an die Wähler zu bringen. Im Fall der Pandemie lauten sie: Wir haben alles unter Kontrolle, es gibt keinen Grund zur Panik, eine neuerliche Überlastung der Spitäler ist nicht zu erwarten, daher besteht keine Veranlassung für neue freiheitsbeschränkende Maßnahmen. Die österreichische Regierung hat aber nicht nur die Kontrolle darüber, was geschrieben wird (Stichwort: Intervention in der Redaktion), sondern sie gibt auch nur jene Daten preis, die sie nicht in Misskredit bringen. So haben wir in Österreich seit dem Fall der Meldepflicht eben keine aktuellen Mortalitätsdaten mehr zu SARS-CoV2, wir haben eine Surveillance-Datenbank zu Hospitalisierungen mit “schweren Atemwegserkrankungen”, das etwa vier Wochen hintenliegt und eine große Zahl unbekannter Erreger ausweist – weil routinemäßig nicht mehr getestet wird, wir haben ein Abwassermonitoring mit unterbrochenen Zeitreihen und auf bestimmte Regionen beschränkte Messungen, das 1-2 Wochen hintenliegt und keine Informationen auf Bezirksebene liefert, ausgenommen in Vorarlberg und Tirol. Mit Verweis auf Datenschutz und Amtsgeheimnis verweigert man der Wissenschaft den Zugang zu einer “Plattform zur gemeinsamen Sekundärnutzung von Daten aus dem Gesundheitsbereich”. So waren und sind etwa keine Verknüpfung von Berufsgruppen mit erhöhtem Infektions- und Hospitalisierungsrisiko erforschbar und wir müssen uns mit Daten aus anderen Ländern begnügen, die hierzulande aber nicht beachtet oder journalistisch thematisiert werden.
Wenn man wichtige Daten vorenthält, ist das genauso Datenfälschung (durch Unvollständigkeit) – im wissenschaftlichen Kontext ein absolutes No-Go, weil man so einseitige Schlussfolgerungen fördert. Es ist aber auch für die Eigenverantwortung ein No-Go, denn wenn mir wichtige Informationen fehlen, passe ich mitunter mein Verhalten falsch oder gar nicht an. Wenn ich den Wetterbericht nicht lese und mir keine Gedanken zur Tourenplanung im hochalpinen Gelände im Spätherbst mache, dann werde ich vom “Wintereinbruch” überrascht werden. Ich kann noch so viele Vorträge zum Risikomanagement halten, aber sich Informationen zu beschaffen, ist letztendlich Aufgabe des Bergsteigers. Dabei würde es hier ausreichend Daten und Prognosen geben, angefangen von täglichen Wetterberichten, Alpenvereinswetter, Anruf bei einer nahegelegenen Hütte, Webcams bis hin zu Daten von Lawinenwarndiensten. Mit diesen Informationen wird es in den meisten Fällen gelingen, eine sichere Tourenplanung durchzuführen und bei unsicheren Bedingungen eben abzusagen.
Im Fall des Infektionsrisikos durch SARS-CoV2, unabhängig davon, ob man es nun pandemisch oder endemisch nennt, haben wir diese Fülle an Daten nicht – wobei man hier differenzieren muss: Wissenschaftler, durchaus auch Politiker und interessierte Bürger haben detaillierte Kenntnisse über die Folgen einer SARS-CoV2-Infektion, zu LongCOVID, zu Krankenständen, zu den Folgen für das Gesundheitssystem, welche die Allgemeinbevölkerung nicht hat. Es ist nicht die Aufgabe der Allgemeinbevölkerung, ihr eigenes Informationsdefizit aufzuholen. Das ist Aufgabe des Staates und es ist Aufgabe eines funktionierenden Journalismus, die Lücken aufzufüllen und Kritik an der Datenqualität und den Schlussfolgerungen zu üben. Was aber noch schlimmer wiegt, ist, dass die Bevölkerung nicht darüber aufgeklärt wird, wer eigentlich vulnerabel ist (“alle”) und dass eine Gesellschaft wie ineinander geschwungene Zahnräder funktioniert. Es kann sich nicht eine Gruppe herausnehmen und glauben, das Getriebe läuft von alleine weiter. Jetzt haben nicht einmal jene, die wissen, dass sie vulnerabel sind und sich schützen wollen oder müssen, genügend Daten zur Verfügung, dies eigenverantwortlich zu tun.
“Denn aus Sicht von Nehammer stehen „nun ausreichend Instrumente zur Verfügung, um dieses Virus zu bekämpfen, von der Impfung bis hin zu wirksamen Medikamenten. Jeder kann sich selbst schützen, dieser Schutz steht in der Eigenverantwortung der Menschen.“
15. Jänner 2023, Kronenzeitung
Seit 1. September 2023 haben erst 3,6% der Gesamtbevölkerung das XBB-Impfupdate erhalten, in der Gruppe der 65+ erst rund 20%. Paxlovid wird vielfach nicht verschrieben und wer es rechtzeitig bekommen will, möglichst vor oder um Symptombeginn herum, sollte sich testen, was aber nur bei den völlig überlasteten niedergelassenen Ärzten geht oder auf eigene Kosten. In Zeiten zunehmender Verarmung durch die hohe Inflation sind das Kosten, die sich längst nicht jeder leisten kann oder will. Selbstverständlich hat die Bundesregierung den Selbstschutz auf den Bürger abgewälzt – in einer Phase mit pandemische Ausmaße erreichenden Infektionszahlen ist das schlicht Arbeits- und Verantwortungsverweigerung des Staates (Stichwort: Fürsorgepflicht).
Wissenschaft und Fakten werden ausgerechnet von jenen, die die sie manipulieren – sei es durch Falschaussagen wie “steigende Suizidfälle durch Lockdowns” oder durch Weglassen relevanter Aspekte wie LongCOVID, oder auch durch Verharmlosungen wie “Atemwegserkrankungen” – angeführt, um sich selbst mit weißer Weste zu präsentieren, als Personen, die über den Fakten stehen, die eben Politik machen und Kompromisse eingehen müssen, während “die Wissenschaft” als realitätsfremd und kompromisslos dargestellt wird.
“Wissenschaft ist das eine, Fakten das andere”
Innenminister Karner (ÖVP), STANDARD, 26.08.22)
“Wie ich mein Handeln erklären kann, ist tatsächlich die Frage, die mich am meisten beschäftigt. Es ist extrem viel Vertrauen in die Politik verloren gegangen, und ich muss mich enorm anstrengen und faktenbasierte Überzeugungsarbeit leisten.”
Gesundheitsminister Rauch (Grüne), KURIER, 18.03.22
“Wissenschaftsfeindlichkeit ist in Österreich salonfähig – nicht zuletzt auch befeuert von Regierungen, die die Wissenschaft lächerlich gemacht haben.”
Rauch, STANDARD, 25.03.22
„Fakt ist: Ich bewege mich auf dem Fundament von Expertise (Wissenschaftlichkeit) und Verhältnismäßigkeit (Verfassungskonformität).”
Rauch, Tweet, 19.04.22
„Gezielte Falschinformation hat ein unvorstellbares Ausmaß erreicht.“
Rauch, Bluesky, 16.10.23
In Österreich gab es nie eine objektive, gesellschaftliche Debatte darüber, was Verhältnismäßigkeit für reale Auswirkungen auf die Bevölkerung haben wird. Wie viele Tote wir dauerhaft in Kauf nehmen werden, wie viele Langzeitkranke, die nicht mehr gesund werden, wie viel Arbeitskräftemangel, wie wir die Wirtschaft schädigen, aber auch die Zahl der gesundenen Lebensjahre der Kinder senken, so wie überhaupt die Lebenserwartung gesenkt wird, was nur geschieht, wenn jüngere Menschen vorzeitig sterben. Was bedeutet Verhältnismäßigkeit in einem demokratischen Rechtsstaat, wo mehrere hunderttausend Menschen seit Pandemiebeginn von sozialer Teilhabe ausgeschlossen wurden? Nach aktuellem Stand dauerhaft für den Rest ihres Lebens. Was heißt Verhältnismäßigkeit im Gesundheitswesen, wenn Patienten mit schweren chronischen Erkrankungen im Spital infiziert werden und kränker entlassen werden als sie hineingekommen sind, oder sogar infolgedessen versterben?
“Mit verpflichtenden Schutzmaßnahmen, etwa in Arztpraxen und Spitälern, ist angesichts der guten Immunität in der Bevölkerung sowie der aktuell kursierenden Varianten nicht zu rechnen.”
Gesundheitsministerium auf orf.at-Anfrage, 23.11.23
Wie kann man diese Aussage anders interpretieren als eine gezielte Falschmeldung, als faktenwidrig und ohne Expertise? Wir reden hier nicht einmal vom Alltag vulnerabler Menschen, die – auch das seit Pandemiebeginn eine gezielte Falschinformation – die nicht nur in Heimen leben, sondern mitten in der Gesellschaft unter uns leben, in die Schule gehen, ins Theater, im Büro sitzen, an der Supermarktkasse oder als Reinigungskraft im Spital. Wir reden hier vom Gesundheitswesen, einem Ort, den man sich nicht aussuchen kann, in Zeiten akuten Ärztemangels schon gar nicht, und in Zeiten eines medizinischen Notfalls erst Recht nicht. Nicht einmal dort will man Patienten schützen – verweist auf eine Immunität der Gesamtbevölkerung, die eben gerade auf vulnerable Patienten NICHT zutrifft, und auf die aktuellen Varianten, die trotz Update der Impfung für symptomatische Verläufe sorgen, die durchaus milder verlaufen, aber eben nicht immer. Die Mehrzahl der momentan behandelten CoV2-Patienten im Spital hat das Impfupdate nicht erhalten und wurde zuvor nicht mit Paxlovid behandelt – ein klares Versagen des Staates in der Aufklärung der Bevölkerung, aber auch der Ärzte, in die Patienten notgedrungen ihr Vertrauen setzen müssen.
Dann wundern sich WissenschaftlerInnen, die in der Öffentlichkeit LongCOVID niemals erwähnen darüber, dass ihre Appelle zum freiwilligen Maske tragen nicht fruchten.
Auch wenn die Pandemie offiziell vorbei ist, „das Virus bleibt”, sagt Virologin Redlberger-Fritz. Sie rät Personen,die Symptome haben, sich zu testen, zu Hause bleiben und wieder Masken zu tragen. „Derzeit beobachte ich in den Straßenbahnen leider nicht, dass das auch passiert.
FALTER Newsletter, 24.11.23
Das meine ich mit unvollständigen Informationen. Aus allen Kanälen hören wir derzeit “Experten sind entspannt/gelassen”, “kein Grund zur Beunruhigung”, “kein Grund zur übertriebenen Sorge”, “alles milde Verläufe”, “Vulnerable sollen ihre Impfung auffrischen”. Das Resultat ist klar: Der Durchschnittsbürger sieht sich nicht als vulnerabel: “Mich betrifft das nicht.” – warum sollte er sich dann eine Maske aufsetzen?
Ein Problem ist natürlich auch die Art, WIE Wissenschaftler kommunizieren, mit vorauseilendem Gehorsam vor der Politik. Im eher spannungsarmen Film “St. Helens” (1981), der die Tage von den ersten Anzeichen für einen Vulkanausbruch bis zum Tag der Katastrophe schildert, fiel mir besonders eine Szene auf. Der Vulkanologe David Jackson ließ sich auf riskante Weise zum Vulkankrater fliegen, um entscheidende Proben zu sammeln, die einen unmittelbar bevorstehenden großen Ausbruch beweisen sollten. Sein Vorgesetzter Lloyd kritisierte danach sein Vorgehen als rücksichtslos und unverantwortlich. Bei einer Bürgerversammlung zuvor hatte Jackson die dramatischen Folgen eines drohenden Ausbruchs geschildert, aber Lloyd hat diese heruntergespielt und behauptet es würde keine Beweise geben. Daraufhin unterschrieben die meisten eine Verzichtungserklärung (waiver), dass sie sich nicht evakulieren lassen würden.
David: “What about those waivers you’d advised people to sign?”
Lloyd: “I advised no one to sign anything, David!“
David: “Because you’ve become a politician, Lloyd! You risked the life of every single person in this community with your damn crock of shit at that meeting. You knew the bulge was growing. 5 feet a day. But you didn’t say anything. So don’t talk to me about irresponsibility. As far as I’m concerned I have a chance of a lifetime here to watch a dormant volcano awaken. And that’s what I gonna do. I wanna watch it, all of it. Because I’m a scientist Lloyd. I really don’t know what you are.”
This pretty much sums the shit up.
Wenn die eigene Popularität (“wie ich mein Handeln erklären kann…”) wichtiger wird als die Bereitstellung aller notwendigen Daten und Fakten, auf deren Basis man zur Eigenverantwortung erziehen kann, dann wird diese Strategie immer Schiffbruch erleiden. Wenn es Pflichten nicht dort gibt, wo das Risiko der Nichteinsicht zu hoch ist, wie im Gesundheitswesen oder in der Arbeit mit Kindern, dann werden die Folgen immer unverhältnismäßig sein – nämlich vermeidbare gesundheitliche Schäden der Bevölkerung, die sich bei Kindern, die viele gesunde Lebensjahrzehnte vor sich hätten, ungleich schwerwiegender auswirken, in der momentanen öffentlichen Diskussion um erneute freiwillige Maßnahmen aber nahezu völlig ignoriert werden. Solange die Folgen der Nichteinsicht nicht thematisiert werden: Ich stecke eine Person an, die daraufhin einen schweren Verlauf hat und stirbt, oder einen leichten Verlauf, aber LongCOVID bekommt, solange wird man die Bevölkerung nicht dazu bewegen können, auf andere und auf sich selbst aufzupassen – in einem Ausmaß, dass es die Infektionswelle tatsächlich bremst und den Peak verringert. Und da kommen Influenza, RSV, die Mycoplasma-Lungenentzündungen und andere Infekte noch hinzu.
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