Wissenschaft funktioniert so nicht.

Ich lass die Namen der Akteure zunächst mal weg. Wer auf X oder Bluesky aktiv ist, weiß, um wen es sich handelt. Aber es betrifft nicht nur diese, sondern es lässt sich verallgemeinern, wie die “Debatte” um Covid und Long Covid im Jahr 2025 auf Social Media meist abläuft.

User A postet ohne weiteren Kommentar eine Studie über “T-Zellen Exhaustion” nach einer Covid-Infektion. Die Studie ist im Journal Frontiers erschienen. Frontiers hat ebenso wie MPDI einen schlechten Ruf unter Wissenschaftlern – es wird auch als Predatory Journal bezeichnet – das heißt, Autoren müssen für die Veröffentlichung Gebühren zahlen, aber die Artikel werden nicht auf Qualität und Legimitation geprüft. Eine frühere Reviewierin und Mitglied im Redaktionsbeirat von Frontiers kündigte dort wegen dem “sehr armseligen Review-Prozess, der viel zu bereitwillig unveröffentlichbare Arbeiten akzeptierte“. User B, ein Professor für Immunologie, ist relativ erbost darüber, dass so etwas veröffentlicht wird, denn die Autoren hätten den “umgangssprachlichen” Begriff verwendet und bisher nicht über T-Zellen publiziert. Die Reviewer auch nicht. Ein Autor hätte noch nie etwas publiziert!

Ich poste das Zitat von B unter A. Eine weitere (anonyme) Immunologin C pflichtet B bei: Sie hätte bisher noch keine signifikante T-Zellen-Erschöpfung bei den Projekten gesehen, an denen sie (mit)arbeitet. Es sei kein Thema.

A postet einen (präpandemischen) Artikel, der T-Zellen-Exhaustion definiert (Blank et al. 2019). C bleibt dabei: Es würde keinen Grund zur Beunruhigung unter Immunologen geben. Entweder handelt es sich um ein Longcovid-Paper, und damit nicht post-infection (sondern anhaltende Infektion) oder es ist so schlecht gemacht, dass es wertlos ist. Die Literatur sei diesbezüglich sehr klar.

User A beharrt auf Immundysfunktion nach SARS-CoV2-Infektion – das würden Fachartikel zeigen, die in vielen hochrangigen Journals veröffentlicht werden. Das zitierte Frontierpaper würde solche Studien zitieren. Immundysfunktion nach Covid-Infektion sei gut bekannt. User B widerspricht und verweist auf einen eigenen Substack-Artikel, der insgesamt 40 Studien enthält und zu Beginn klarstellt, dass Lymphophenie vorwiegend bei schweren Verläufen auftritt und bei der Genesung reversibel sei. Bei milden oder moderaten Verläufen bleibt die Anzahl und Funktion der Lymphoztyten großteils intakt. Langzeitstudien zeigen, dass zelluläre und humorale Immunität sich erholen und mit der Zeit reifen. Impfungen verbreitern die Immunantwort, insbesondere Hybrid-Immunität. A macht sich über B lustig, Substack sei kein wissenschaftlicher Arikel.

B fragt nach, was “exhaustion” sei und dass man Tpex berücksichtigen soll, und den Nobelpreis 2018. A betont, dass sie keine Behauptung aufgestellt habe, sondern nur einen Artikel teilte und zur Diskussion stellte. Er müsse die Autoren mit Kritik konfrontieren, nicht sie (A).

B wird diese Reaktion später als “JAQing” bezeichnen “Just asking questions” – als Pseudoscience. Wenn man etwas behauptet, kann man es untermauern. Wenn man nur mit leeren Worten oder Beleidigungen reagiere, sei klar, dass eine Diskussion niemals beabsichtigt war. A behauptet weiterhin, Immundysfunktion nach Covid-Infektion sei gut bekannt und dokumentiert, deshalb werde Alarm geschlagen und debattiert. Der Unwillen, über die Forschung zu debattieren, sei beunruhigend. Auf die 40 Publikationen im Substack-Artikel geht sie nicht ein.

Ein anonymer Account D unterstützt A, B sei nicht interessiert, jegliche Wissenschaft zu diskutieren, es ginge ihm nur ums Recht haben, und verweist auf eine Studie, um das zu bekräftigen (Lage et al. 2025 preprint). Von B gibt es dazu bereits einen Thread (soviel zur Behauptung, er sei nicht interessiert). A bedankt sich bei D. Sie habe allerdings den Eindruck, die Unterhaltung war nicht fruchtbar, da von manchen Accounts kein Willen gegeben war, sich an einer offenen Debatte zu beteiligen. D postet eine Studie, die nahelegt, dass Covid für die starke RSV-Welle bei Kindern 2022/23 verantwortlich gewesen sein soll (Wang et 2023). B bezeichnet es als Korrelation, nicht Kausalität, und kritisiert das Journal, in dem das Paper veröffentlicht wurde, als “obscure” (Family Medicine and Community Health), auf Nachfrage als fachfremd, weder Immunologie noch Infektiologie oder Epidemiologie.

Succus:

Ich hab diese fruchtlose Diskussion ausgelöst, indem ich das Zitat von B unter A gepostet habe und damit B und seine FollowerInnen auf A aufmerksam machte. Jetzt habe ich die Identität von B enthüllt und damit kann ich auch nennen, dass es sich bei A um jene Betroffene aus der ersten Welle handelt, die den Begriff Long Covid geprägt hat. Ihr Fachgebiet ist allerdings Archäologie, nicht Immunologie.

Letztendlich wird die “Debatte” zur Glaubensfrage. Glaubt man, dass Covid-Infektionen eine Immundysfunktion auslösen oder nicht? Je nach Argumentation werden Fachartikel dazu gesucht. Nun analysiert niemand auf Bluesky neue Artikel so penibel wie B, der gleichzeitig entkräftet, es würde sich um eine Immundysfunktion handeln. Darüber hinaus gibt es Graustufen, etwa Longcovid-Betroffene versus alle Infizierte, was aber gerne vermengt wird und dann zum häufigen Totschlagargument wird, dass “jeder” diese Dysfunktion entwickeln würde.

Ich bin nun als Citizen Journalist und Blogger in einer ähnlichen Position wie A – mein Fachgebiet ist Meteorologie, nicht Immunologie. Ich kann es schlicht nicht beurteilen, was stimmt und was nicht. Für mich klingt das, was B schreibt, schlüssig. Er geht auch auf Longcovid/MECFS Studien ein und arbeitet sich an Impfgegnern ab. Ganz besonders an der faschistischen US-Regierung. Verharmloser agieren anders in meinen Augen. Der Umstand, dass er keine Immundysfunktion nach Covid sieht, bedeutet nicht, dass er COVID oder Long Covid verharmlost. Insbesondere schwierig finde ich, wenn wir Laien uns dazu allzu sehr festlegen, denn Immunologie ist hochkomplex, unser Immunsystem ist hochkomplex. Wir sollten immer im Hinterkopf haben, dass wir uns irren könnten – das gilt freilich nicht nur hier, sondern für das Leben generell, Grundwerte ausgenommen.

Eine Diskussion wird auf diesem Weg auf Social Media nicht entstehen, dafür müssten beide Akteure auf Augenhöhe sein, was Expertise betrifft. Es reicht nicht, einzelne Studien zu zitieren, ohne auf den Inhalt einzugehen. Das ist Cherrypicking, was ich früher selbst praktiziert habe. Insbesondere habe ich nur Überschriften gelesen und den Inhalt nicht verstanden, geschweige denn Limitationen. Damit wird man Experten nicht überzeugen. Es ist sogar arrogant zu glauben, dass das ausreichen würde.

Ich weiß es nicht sicher und wahrscheinlich ist es komplizierter als es scheint“, schrieb mir ein Bekannter gestern.   

Dem kann ich mich nur anschließen.

Deswegen traue ich mich eigentlich auch nicht, den medizinischen Teil von COVID nochmal aufzugreifen.

Wer hier jetzt liest und verwirrt ist, ob Immundysfunktion nach Infektion nun existiert oder nicht, kann ich beruhigen – ich könnte alleine auf Basis von Social Media auch nicht entscheiden, wem man noch glauben kann. Daher ist wichtig, die Daten selbst anzuschauen und da zeigt sich, dass opportunistische Infektionen eben nicht zunehmen. Ebenso müssten, wenn durch millionenfache Covid-Infektionen Immunsysteme geschwächt wären (und das dauerhaft, da Covid ganzjährig zirkuliert), auch andere Viren und Bakterien ganzjährig zunehmen, also außerhalb ihrer Saison und/oder häufiger als normal zirkulieren. Doch die Mycoplasmen-Welle hat ebenso abgeebbt wie die anfangs starke und frühe RSV-Welle oder Strep-Welle – die es nebenbei auch in ZeroCovid-Ländern (Neuseeland, Japan) gab, nicht nur dort, wo “Mehrfachdurchseuchung” stattfand. Die Daten zeigen also die proklamierte Dysfunktion nicht, vor allem nicht nach JEDER Infektion, wie oft behauptet wird. Wenn Reinfektionen das Immunsystem weiter schwächen würden, dann müsste aufgrund der Menge an Reinfektionen längst ein derartiger Effekt messbar sein. Ich sehe ihn aber nicht in den Daten.

Deswegen bleiben nur vier Interpretationen übrig:

Die zitierten Studien zeigen keine Immundysfunktion, sondern einen normalen Verlauf einer Infektion

Oder es handelt sich um Studien mit Long Covid-Patienten, die bereits eine chronische Immunschwäche aufweisen – das ist aber nicht auf die Gesamtbevölkerung umlegbar.

Die dritte Möglichkeit ist, dass viele folgenlose asymptomatische oder sehr milde Infektionen übersehen werden.

Die vierte Möglichkeit ist natürlich, dass wir erst in fünf bis zehn Jahren einen Effekt sehen werden, aber die kontinuierliche Abnahme schwerer Verläufe spricht eher dagegen. Denn wenn Immunsysteme chronisch geschwächt würden mit jeder Reinfektion, würde man doch auch erwarten, dass schwere Verläufe zunehmen und nicht abnehmen? Warum sollten nur Longcovid-Fälle zunehmen?

Für mich passt das nicht zusammen und ich erlaube mir, die aufgestellten Narrative in Frage zu stellen. Das kann man als Sinneswandel titulieren – ich würds so eher sehen, dass ich meine Meinung dem aktuellen Wissensstand anpasse. Und der ändert sich halt mit der Zeit, und hängt wohl auch davon ab, wen und was man liest.

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