Mythos: “Das Virus wurde milder”

Stephen Griffin, SAGE (26.07.23):

Über längere Zeit gesehen nimmt die Krankheitsschwere ab. Wir sehen das auch bei Covid19. Doch der Unterschied ist, dass es sich bei Covid19 um die Krankheit handelt und SARS-CoV2 das Virus ist. Jedes Mal, wenn wir krank sind, handelt es sich um eine Mischung des Pathogens und wie krankmachend das Virus ist, und die Resilienz unseres Immunsystems durch Impfungen und – unglücklicherweise – auch durch vorhergehende Infektionen. Und dann gibt es umgebende Faktoren wie Medikamente, Vorerkrankungen, Immundefizite, dann wird es uns wahrscheinlich schlechter gehen. Alter und Gebrechlichkeit spielen natürlich ebenfalls eine Rolle. Dem Virus ist die Krankheitsschwere egal, nachdem es uns infiziert und sich auf den nächsten Wirt übertragen hat. Nun hat man wahrscheinlich gehört, dass manche SARS-CoV2-Varianten eher auf die oberen als auf die unteren Atemwege gehen. Das ist ein schwieriger Ort, um Selektionsdruck aufzubauen, aber andererseits passt sich das Virus auch den ersten Stadien der Immunantwort an. Wir sehen die tatsächliche Krankheitsschwere nur in der Bevölkerung, die bisher keinen Viruskontakt hatte, leider etwa nach der Aufgabe von ZeroCovid in China (2023), in Hong Kong 2022. Man sah es in Indien mit einer neuen Variante. Das bedeutet leider, dass Menschen weiterhin sehr schwer erkranken können, und ähnlich wie bei Masern fürchte ich, wenn wir aufhören zu impfen, dann kann uns das Virus weiterhin sehr krank machen. Covid verringert das Risiko dank der Impfung schwer zu erkranken, aber das Virus sicherlich nicht.

Virologe Florian Krammer (06.02.24, Twitter)

„Ich versteh auch nicht warum die Leute der Geschichte vom ‘milden’ Omicron aufsitzen. Was das ‘milde’ Omicron in Hong Kong in der ungeimpften alten Bevoelkerungsschicht angerichtet hat steht den anderen Varianten um nichts nach.”

Epidemiologe Robert Zangerle (16.02.22, Seuchenkolumne)

„Dass das Virus keinen Übertragungsvorteil hätte, wenn es den Wirt töte, ist bei SARS-CoV-2 unzutreffend, vor allem weil die meisten Übertragungen Tage bis Wochen, also relativ knapp vor dem Tod passieren.“

Molekularbiologe Ulrich Elling (16.02.22, Twitter)

„Das Virus hat keinerlei „Interesse“ (=Selektionsvorteil) milder zu werden, denn Ansteckung passiert sowieso präsymptomatisch.“

NERVTAG (10.02.22, UK SAGE):

„The loss of virulence as viruses evolve is a common misconception“

Hintergrund der Hypothese:

Der Bakteriologe Dr. Theobald Smith hat in den späten 1800er Jahren die Theorie aufgestellt, dass Infektionen mit der Zeit weniger tödlich werden. Dieses “Gesetz der abnehmenden Virulenz” (Méthot 2012) basierte darauf, dass Pathogene sich dahingehend entwickeln, ihre menschlichen Wirte nicht mehr umzubringen, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Mit milderen Verläufen würden Menschen weiter aktiv sein und andere anstecken können.

In den letzten hundert Jahren haben Virologen aber gelernt, dass die Virusentwicklung viel chaotischer ist und vor allem auf evolutionärem Druck basiert. Denn das Virus ist kein “denkendes und strategisch planendes Lebewesen”. Vielmehr liegt es an multiplen Faktoren wie die Zahl der empfänglichen Wirte, wie lange die Menschen nach einer Infektion leben, die Reaktion des Immunsystems und die Inkubationszeit. Viele SARS-CoV2-Varianten entwickeln keinen Wachstumsvorteil gegenüber etablierten Varianten und sterben aus. Andere sammeln eine oder mehrere entscheidende Mutationen auf, die einen Fitnessvorteil verschaffen und eine neue Welle auslösen können. Besser übertragbare Virusvarianten sind aber nicht zwingend harmloser als vorherige Varianten. Das hängt maßgeblich davon ab, wie gut die Immunabwehr des Wirts das Virus bekämpfen kann.

Trifft das allgemein auf Viren zu?

  • Es gibt derzeit über 60 verschiedene Typen von humanen Adenoviren, neuartige Typen sorgen für tödliche Infektionen (Robinson et al. 2013)
  • Influenza fordert jährlich 290 000 bis 650 000 Tote und ist ein gutes Beispiel für ein Virus, das durch regelmäßige Zirkulation nicht harmloser geworden ist. 19% der Influenzatoten unter 5 Jahren geschehen in Entwicklungsländern (mehr Infos bei der WHO).
  • Eine Virusentwicklung hin zu harmloseren Verläufen ist bei RSV nicht bekannt – es gilt weiterhin als das tödlichste Virus für Kleinkinder, mit weltweit rund 60 000 Toten (Giallonardo et al. 2018)
  • Das Rhinovirus besteht aus 100 verschiedenen Subtypen und kann bis in die Antike zurückverfolgt werden. Bei keuchenden Kleinkindern ist es das zweithäufigste Virus nach RSV und kann schwerere Verläufe bis hin zu Asthma auslösen.
  • Masern sind seit tausenden von Jahren bekannt – es gibt keine Entwicklung hin zu einem milderen Pathogen. Das Virus mutiert kaum, daher passt der Impfstoff sehr gut und es wäre leicht, die Masern vollständig auszurotten.

Evolutionsbiologe Aris Katzourakis, Oxford (11.01.24, Twitter):

“Es ist keineswegs wissenschaftlich abgesichert, dass die Russische Grippe von einst von einem der vier gewöhnlichen Coronaviren ausgelöst wurde. Das ist lediglich eine Annahme und es gibt keinerlei Belege dafür. Viren werden mit der Zeit nicht harmloser, es gibt keine Belege dafür, dass dies bei SARS-CoV2 der Fall sein wird. Es gibt noch viel evolutionären Raum für dieses Virus zu entdecken, und man sollte sehr vorsichtig sein, wenn jemand glaubt, die Richtung von SARS-CoV2 vorhersagen zu können.“

Wie hat sich SARS-CoV2 entwickelt?

Omicron war zwar milder als Delta, aber schwerer als Alpha (Skizze von Virologe Björn Meyer, Infektionsmedizin Uniklinik Magdeburg, damals auf Twitter geteilt)

Im zweiten Pandemiejahr kamen die Varianten, erst mit Alpha, dann mit Delta und dann mit Omicron als neuem Serotyp. Dazwischen zirkulierten Beta vor allem in Südafrika (in Tirol im März 2021 eingedämmt) sowie Gamma in Brasilien – bei beiden Varianten handelte es sich bereits um solche, die die Neutralisierung der Antikörper deutlich reduzierten (Der Immunologe Marc Veldhoen kritisierte wiederholt den Begriff Immunflucht und empfiehlt “Reduktion der Neutralisation von Antikörpern”, da es sich um keine vollständige Flucht vor der Immunantwort handeln würde, selbst mit Omicron sei das nicht der Fall).

BA.1 sei ein virologisches Zufallsereignis gewesen, doch das britische Beratungsgremium NERVTAG warnte davor, dass die nächste Variante ähnlich schwere Verläufe versuchen würde wie vorhergehende Varianten.

Folgende Aussagen kann ich hier – ohne wirklich Ahnung von der Materie zu haben – nur andeuten, nämlich dass die Krankheitsschwere mit den frühen Omicron-Varianten zurückgegangen sei, aber später wieder anstieg (Ruis et al. 2023). Grund dafür seien u.a. Mutationen bei nicht-strukturellen Proteinen und dadurch verringerte Virusreplikation. (Ricciardi et al. 2022). Das könnte auch erklären, weshalb bei BA.1 geringere Abwasserlasten gemessen wurden als mit vorherigen Varianten (Baldovin et al. 2023, siehe Seuchenkolumne und Rector et al. 2023). Omicron infizierte zunächst die oberen Atemwege besser, aber in weiterem Verlauf wieder die Lunge. (Furnon et al. 2025).

Omicron ist intrinsisch milder als Delta, aber ähnlich schwer wie der Wildtyp (Strasser et al. 2022). Erste Analysen zeigten eine Schwere zwischen Alpha und Delta (Davies et al. 2022). Die Behauptung, dass SARS-CoV2 mit Omicron zu einem milderen Virus geworden sei, wurde schon im Januar 2022 infragestellt, z.B. von Alex Sigal oder Dr. David Glassman. Was sich etwa aber geändert hat, ist die Gefährdung der Kinder: So trat das Multientzündungssyndrom als gefürchtete Spätfolge mit Omicron deutlich seltener auf. Auch die sehr seltenen Fälle von schweren Hepatitiserkrankungen bei Kleinkindern wurden kaum noch beobachtet. Schwere Verläufe haben auch bei Erwachsenen abgenommen, wobei Omicron dafür deutlich ansteckender war als vorhergehende Varianten und die absolute Zahl der Erkrankten weiterhin hoch blieb.

Belegung der Normalbetten mit Schwellenwerten in den einzelnen Bundesländern, Stand 08.03.22

Omicron führte im März 2022 zu einer Überlastung der Normalstationen. Gleichzeitig infolge der Durchseuchung der Kinder und Jugendlichen zu einem akuten Ärzte- und Pflegemangel. Der Impffortschritt war zu diesem Zeitpunkt noch nicht weit genug, um die ersten Omicron-Wellen entscheidend abzufedern.

Konsequenz aus Überlastung + Personalmangel + Durchseuchung + zu geringe Impfrate:

Im Omicron-Jahr 2022 gab es fast so viele Todesfälle wie im ersten Pandemiejahr mit dem Wildtyp.

Todesssstatistik der Jahre 2016-22 (Quelle: Statistik Austria)
Todesfälle in Österreich: Jeder Punkt ist ein Todesfall auf der Zeitachse. Grafik: Erich Neuwirth (12.07.23)

Die zeitliche Verteilung der Todesfälle zeigt, dass in den ersten beiden Omicron-Wellen die meisten starben, aber auch die beiden BA.5-Wellen im Sommer und Herbst 2022 brachten zusammen nochmals ähnlich viele Todesfälle wie die erste Wildtyp-Welle. Bis dahin waren einige Maßnahmen bereits abgeschafft worden, etwa Maskenpflicht in den Bundesländern außerhalb von Wien oder Isolationspflicht.

Mit der JN.1-Welle im Herbst 2023 war die Übersterblichkeit in Österreich nochmals deutlich erhöht (20%), seitdem nimmt die Sterblichkeit weiter ab, erkennbar an den Hospitalisierungsraten mit jeder Welle.