Saisonalität

„Seasonality, a periodic surge in disease incidence corresponding to seasons or other calendar periods.“ (David Fisman 2007)

„In broad terms, seasonality represents oscillation in pathogens‘ effective reproductive number, which, in turn, must reflect oscillatory changes in infectiousness, contact patterns, pathogen survival, or host susceptibility.“

(David Fisman 2012)

Eine Infektionskrankheit ist dann saisonal, wenn sie zu bestimmten Jahreszeiten oder Kalenderperioden wiederkehrt. Das muss nicht zwingend in der kalten Jahreszeit der Fall sein. FMSE und Borreliose treten z.B. verstärkt im Frühjahr auf, wenn die übertragenden Käfer und Insekten besonders aktiv sind. Bei den von Mensch zu Mensch übertragbaren Krankheiten kommt es zu Häufungen in der kalten Jahreszeit, weil sich die Menschen dann vermehrt in schlecht belüfteten geschlossenen Räumen aufhalten. Die Lufttemperatur im Freien ist ein Faktor, der die Immunabwehr beeinflusst, aber nicht der Wichtigste. Nachlassende Immunität,, Schulferien und Reiseverkehr spielen die wichtigere Rolle. Auch eine anfällige Immunabwehr wird nur überwunden, wenn Virus zirkuliert.

Gesamt-Übersicht

Mit PCR-Tests bestätigte Coronafälle in Österreich von Pandemiebeginn bis Mai 2023 (Quelle: OWID)
Abwasserwerte ab BA.1-Welle Anfang 2022 (Quelle: AGES)

Chronik: Einfluss der Jahreszeit und der Varianten auf die bisherigen Infektionswellen in Österreich

2020: Wildtyp

Das Virus zirkulierte bereits im Dezember 2019 in den USA, die ersten bestätigten Fälle gab es in Österreich im Februar 2020. Mit dem strengen Lockdown im März und April 2020 sank die Infektionsrate deutlich ab. Mit Fall der Maskenpflicht Mitte Juni 2020 stiegen die Infektionszahlen wieder an. Der Höhepunkt wurde im Dezember 2020 erreicht, ehe der zweite Lockdown wirksam wurde.

2021: Alpha und Delta

Im Dezember 2020 setzte sich in Großbritannien die Alpha-Variante durch, die im März und April 2021 in Österreich die nächste Welle erzeugte. Der dritte Lockdown (im Osten) sowie die Impfkampagne flachten die Welle stark ab. Abermals wurde gelockert und ab Juli setzten Wiederanstiege mit der Delta-Variante ein, gefördert durch die nachgeholte EM im Juni. Der Höhepunkt der Delta-Welle fand im Dezember statt, ehe der vierte Lockdown griff.

2022: BA.1, BA.2, BA.5 und konvergente Varianten (Omicron)

Omicron entstand im Sommer der Südhalbkugel (Südafrika) und breitete sich rasch ab Ende November auf der Nordhalbkugel aus. In Österreich begann die BA.1-Welle durch die Nachwirkung des vierten Lockdowns verzögert, ehe sich die etwas infektiösere BA.2-Variante durchsetzte. Durch einen sogenannten Overshoot (so viele Infektionen gleichzeitig, dass das Virus keine empfänglicheren Wirte mehr findet) flachte die Welle von selbst im April ab. Trotz Sommerferien gab es aber eine große BA.5-Welle im Juli und August. Völlig anachronistisch zur Virusentwicklung begann der im März 2022 angelobte Gesundheitsminister Rauch von der „Vorbereitung für den Herbst“ zu reden, während BA.2 und BA.5 durchs Land zogen. Im Herbst geschah natürlich nichts. BA.5 sorgte mit Schulbeginn erneut für eine (kleinere) Welle. Im Dezember konnte sich keine Variante durchsetzen, dafür sorgte eine starke Influenzawelle für hohe Übersterblichkeit. Der atypische Verlauf der Wellen war insgesamt stark geprägt vom Auftreten neuer Varianten und Rekombinationen.

2023: XBB.1.5, EG.5.1 und JN.1

Im Februar und März dominierte die Rekombinante XBB.1.5, die von mir befürchtete XBB.1.16-Welle blieb jedoch aus. Mit Aufhebung der Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln in Wien flachte die Welle nur langsam ab. Ab Juli (Ende der Meldepflicht) stiegen die Abwasserwerte über den Sommer hinweg langsam wieder mit EG.5.1 an. Im Spätherbst breitete sich die Saltation Variant (Evolutionärer Sprung) JN.1 rasend schnell aus und verursachte eine große Infektionswelle.

2024: FLiRT, KP.3.1.1 und XEC

Ein ruhiges Jahr nach Abflachen der JN.1-Welle mit langer Flaute zwischen Februar und September. Ab Mai stiegen die Fallzahlen durch FLiRT (F456L und R346T) langsam wieder an. Im Oktober wurde mit KP.3.1.1 der Höhepunkt erreicht. Mitte Dezember folgte eine kleine Welle mit der Rekombinante XEC.

2025: LP.8.1., XFG* und BA.3.2.2*

Nach einer längeren Niedriginzidenzphase stiegen die Abwasserwerte ab Mai wieder an. Erst war noch LP.8.1. aktiv, dann die Rekombinante XFG (später auch NB.1.8.1, konnte sich aber nicht durchsetzen). In der noch Niedriginzidenzphase Juli hab ich mich das erste Mal angesteckt. Im Sommer und Herbst verdrängten XFG*-Varianten die meisten vorherigen Varianten. Am 16. November übernahm die AGES das Abwassermonitoring – statt Bundesländerdaten gibt es jetzt nurmehr die Kläranlagen selbst (ehrlicher), die alle ab Ende November einen klaren Wiederanstieg zeigen. Aufgrund der dünnen Datenqualität ist die Ursache für den Wiederanstieg nicht ganz eindeutig. Jetzt scheint die neue Variante BA.3.2.2, die sich in zahlreichen Mutationen von allen bisherigen Omicron-Varianten unterschiedet, zunehmend eine Rolle zu spielen.

Zusammenfassung

“COVID-19 has peaks in the winter and also at other times of the year, including the summer, driven by new variants and decreasing immunity from previous infections and vaccinations.“ (CDC: COVID-19 can surge throughout the year 03.07.24)

Weltweit gab es zwischen März 2020 und Dezember 2022 eine ausgeprägte Saisonalität von November bis April (Wiemken et al. 2023). Mit dem Wildtyp bezifferte man den Einfluss des saisonalen Effekts auf rund 40% (Gavenciak et al. 2022). 2023 ging man noch davon aus, dass es regelmäßig zu kleineren Wellen kommen wird, etwa alle 4 Monate durch nachlassende Immunität und neue Escape-Varianten (Ewen Callawy 2023, Markov et al. 2023), mittlerweile unregelmäßiger, aber weiterhin getrieben durch saisonales Forcing (klimatologische und gesellschaftliche Faktoren) im Winter sowie abnehmende Immunität, die Sommerwellen ermöglicht (Rubin et al. 2025 preprint, Update 16.7.25).

Bekannte Faktoren, die Auftreten und Länge von Infektionswellen beeinflussen

  • Schulen als Hauptfaktor, wo viele fremde Haushalte bei schlechter Luftqualität aufeinandertreffen -> Schulferien als unterbrechender Faktor
  • Single-Quote im Land (Spitzenreiter: Schweden)
  • Homeoffice-Quote im Land
  • Kündigungsschutz/Fortzahlung im Krankheitsfall (Osteuropa kaum)
  • Empfänglichkeit durch nachlassende Immunität und neue Varianten
  • Aufenthalt in geschlossenen Räumen (auch: bei Hitzewellen, Umluft statt Frischluft)
  • trockene Luft durch übertriebenes Heizen und durch Klimaanlage (Schleimhautreinigung der Atemwege stark beeinträchtigt)
  • kalte Luft: Aktivierung der zelleigenen Immunantwort bei 28°C deutlich verzögert, seltener gelüftet (Anstieg CO2-Werte begünstigt Übertragung direkt)
  • Reiseverkehr v.a. im Sommer (Davis et al. 2021)

Mit ausreichendem epidemiologischen Forcing (Force of Infection: FOI) kann selbst im Sommer Influenza oder RSV übertragen werden (Beispiel: Influenzawelle H3N2 subcl. K in Australien im Dezember 2025)

  • immunologisch naive Bevölkerung
  • Superspreading Events (z.B. mehrtägige Konzerte, große Sportevents wie EM oder Olympia)
  • erhöhte Empfänglichkeit (z.B. temporäre Schwächung der Immunabwehr)

Bei kalten Witterungsperioden ebenso wie bei Großveranstaltungen steigt das Risiko, auf infizierte oder empfängliche Menschen zu treffen. Andere Viren mutieren seltener, sind weniger ansteckend und brauchen entsprechend günstigere Bedingungen, etwa engen Kontakt, sodass sie überproportional in der kalten Jahreszeit vertreten sind. Influenzafälle im Sommer sind meistens reiseassoziiert.

Es gibt eine bemerkenswerte Stabilität der Winterwelle, die jedes Jahr um die gleiche Zeit startet und zur gleichen Zeit den Höhepunkt erreicht.

Saisonalität bedeutet NICHT, dass es außerhalb der Saison keine Übertragungen gibt.

Saisonaler Antrieb treibt vorhersagbares Verhalten.

Saisonalität bedeutet nicht, dass die gesamte Übertragung und Wellenpeaks nur im „saisonalen Fenster“ stattfinden müssen. Es ist wie beim Sport. Es gibt eine Fußballsaison, aber es wird auch im Sommer in Wettbewerben gespielt.

Es gibt auch eine sekundäre, kleinere Saison, ein paar Monate vor dem Winter-Peak – der Sommerpeak. Man vermutet dazu vor allem im Südosten der USA die Menschenansammlungen in klimatisierten Räumen, und weil die Südstaatler reisen und das Virus in die Nordstaaten transportieren.

Texas Medical Center

Starke saisonale Muster mit Winterpeak und großem Sommerpeak.

Abwasser in Massachusetts

Hier gibt es einen markanten Peak zu Jahresbeginn sowie zunehmende Übertragungen ab Oktober und kleinere Sommerpeaks. Hier sind die Sommer weniger heiß als in Texas, also häufiger wird gelüftet und die Menschen sind draußen.

Antriebe, die außerhalb der Saison für größere Wellen sorgen, sind z.B. eine signifikante Mutation, aber selbst dann kann man größere Wellen erwarten, sobald das „saisonale Fenster“ naht.

(Erklärungen von Epidemiologe und Immunologe Michael Mina)