Kolumne 11/01: Verrat statt Solidarität

Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) im STANDARD-Interview (10. März 2022) während der starken BA.2-Welle

Start eines (zusätzlichen) Formats im Form einer regelmäßigen Kolumne, mit dem ich den Blog hier weiterführe. Auf coronafakten erscheinen weiterhin ausführliche Hintergrundrecherchen. Hier mehr Text zu gesellschaftlichen Entwicklungen und persönliche Interpretation. Die Kolumne hat noch keinen Namen, vielleicht fällt mir noch etwas ein.

Das Eis der Zivilisationsdecke ist sehr sehr dünn geworden. Wir erleben das in den Krisen weltweit, wir sehen es mit der Entwicklung der Pandemie. Waren es zu Beginn schon die Solidaritätsverweigerer, die sich trotz strengem Lockdown in der Garage, zu Wohnungspartys oder im Hinterzimmer der Lokale getroffen haben, sind es jetzt hauptberuflichen Helfer in der Not, die sich nicht mehr darum scheren, ob sie den Menschen, die um Hilfe ansuchen, eine potentiell folgenreiche Krankheit anhängen. Die Politik hat für wenige Monate ihre Pflicht erledigt, im Glauben, die Krise wäre damit ausgestanden. Seitdem regiert die viel propagierte Eigenverantwortung. Zwischen den vielen Wahlterminen der letzten Jahre blieb nicht viel Platz für vernunftgesteuerte Vorschläge, geschweige den Umsetzungen. Mit der Festlegung auf die Intensivbettenkapazitäten als einzig relevanten Indikator einer Überlastung wurde die Öffentliche Gesundheit zu Grabe getragen. Der Untergang der niedergelassenen Ärzte interessiert niemanden.

Zu Beginn wurde das Bild vermittelt, dass wir alle in einem Boot sitzen: Die gesunde Mehrheit schützt die vulnerable Minderheit durch Verzicht auf ihren gewohnten Alltag und Bequemlichkeit. Es hat nicht lange gedauert, bis sich herausstellte, dass dieses Boot die Titanic ist. In der ersten Klasse sitzen Priviligierte mit Zugang zu Information, Homeoffice, Privatärzten und hochwertigen Masken und Luftfiltern. In der Klasse darunter eine breite Mehrheit, die darauf angewiesen war, was Priviligierte an Almosenschutz anboten, an Maßnahmen beschlossen, die sie selbst ehestmöglich umgehen konnten. In der dritten Klasse sitzen bis heute die Vulnerablen, darunter Armutsbetroffene, Pflegebedürftige, all jene, die regelmäßig zum Arzt oder ins Spital müssen, prekär arbeitende ohne jeden Schutz am Arbeitsplatz oder in den Schulen, ohne Zugang zu Medikamenten, guten Masken oder Luftreinigern. Das Leck durch die Eisbergkollision lässt den Vulnerablen längst das Wasser bis zum Hals stehen, doch man hat die Aufgänge versperrt, es hört niemand zu. Die Notsprechanlagen wurden schon lange abgedreht. Der größte Teil des Eisbergs liegt unter Wasser, LongCOVID und MECFS, sichtbar sind nur die Schnupfen- und Hustensymptome der ersten und zweiten Klasse, die häufig glimpflich abgehen. Sollte es hier und da bleibende Schäden geben, wird nicht darüber geredet – man möchte unter den Passagieren keine Panik auslösen.

Im vierten Jahr der Pandemie, die nach allen Daten und Fakten ohne Zweifel so genannt werden muss, profitieren gesunde Menschen überproportional von der epidemiologisch spürbaren Abschwächung der Krankheitslast. Obwohl wir uns diesen Herbst in der wahrscheinlich größten Welle seit Pandemiebeginn befinden, liegen im Verhältnis zur Delta-Welle deutlich weniger Kranke auf den Intensivstationen und es kommen weniger mit Atemnot ins Spital. Wer jedoch immunsupprimiert ist oder zu den neuen Vulnerablen zählt, weil das Immunsystem oder Organe durch Covid-Infektionen geschädigt wurden, für den ist die neue Normalität viel gefährlicher geworden als noch zu Pandemiebeginn. Dann enden Spitalsaufenthalte mit einer Verschlechterung ihrer Grunderkrankungen, mit neuen chronischen Symptomen oder tödlich.

Und die Lebensrealitäten driften immer weiter auseinander. Für die Mehrheit ist es weniger gefährlich als vorher, daher gibt es auch im Spital keine Maßnahmen mehr und gefährdet akut Menschen, die ein Recht auf Gesundheitsschutz haben. Das hat übrigens jeder, auch eine breite Mehrheit, die ihre Gesundheit gefährdet, weil man ihnen eingeredet hat, dass regelmäßige Infektionen notwendig sind, jedenfalls nicht schädlich – ein schwerwiegender Irrtum, der in allen Diskussionen und Debatten zwei wesentliche Aspekte kontinuierlich ignoriert: LongCOVID und Infektionsprävention. Wir werden keine Chance haben, die breite Mehrheit davon zu überzeugen, sich weiterhin für eine Minderheit einzusetzen, wenn der Faktor Solidarität nicht zieht. Dann geht es nur über den Eigennutzen, seine eigene Gesundheit zu schützen und als Kollateralnutzen die der Schwächeren mit. “Vulnerable zu schützen” hat nie funktioniert – es handelte sich um eine Strohmann-Forderung der “Great-Barrington-Declaration”-Vertreter, um den Schwedischen Weg der Health Supremacy solidarisch mit den Schwächeren erscheinen zu lassen.

Am schwersten wirkt der Verrat im engsten Umfeld. Wenn Partnerschaften auseinandergehen, wenn ein Riss durch die Belegschaft geht, wenn Freundschaften zerbrechen, weil eine Person mehr Wert auf ihre Gesundheit legt als die andere. Nicht nur das. Wenn man sich wie ein Bittsteller vorkommt, seine Gesundheit erhalten zu wollen – oder seinen status quo einer chronischen Erkrankung nicht zu verschlechtern. Das macht die veränderte Lebensrealität zwischenmenschlich noch viel schwieriger als der Alltag ohnehin abverlangt. Der Verlust an Empathie ist enorm. Glauben die Menschen im Umfeld denn ernsthaft, man würde dem früheren Leben nicht hinterhertrauern, man würde nichts vermissen, wenn man sich aus allen sozialen Anlässen zurückzieht und jeden Abend alleine zuhause sitzt? Wenn dieser Gedanke nur einmal käme, und sich die Frage daran anschließen würde: Warum verzichtet ihr noch immer, was glaubt ihr denn zu wissen, was ich nicht weiß? Könnte daran am Ende etwas dran sein? Dann wären wir schon weiter.

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