Kolumne 04/12: Die vergessenen Kinder

Ergebnisse der Pisa-Studie: In Schweden, wo die Schulen immer offen waren, war der Rückgang der Bildungsleistung größer als im OECD-Durchschnitt. Österreich schnitt besser ab. Wenn die Zahlen eines mit Gewissheit zeigen, dann, dass es keinen klaren Zusammenhang zwischen Schulschließungen und Lerndefiziten gibt (siehe Bericht im Schweizer Tagesspiegel, 05.12.23)

Die wichtigste Schlussfolgerung aus der aktuellen Pisa-Studie: Es gibt keine “uneinholbaren” Bildungsverluste durch notwendige Schutzmaßnahmen in den ersten Pandemiejahren. Im Gegenteil, erst ohne jeden Schutz entstehen so viele krankheitsbedingten Fehlzeiten, sowohl durch Lehrermangel als auch durch krankheitsbedingt wiederholt abwesende Kinder, sodass der Schulstoff kaum noch nachgeholt werden kann. Kinder mit LongCOVID verlieren am meisten, nicht nur Bildung, sondern auch ihr soziales Umfeld und vor allem gesunde Lebensjahre und -jahrzehnte. Es verlieren aber auch “Schattenkinder”, die aufgrund schwerer Grunderkrankungen nun ganzjährig aufpassen müssen, nicht nur in der kalten “Jahreszeit”. Dabei sind saisonale Erkrankungen nur deswegen saisonal, weil wir in der kalten Jahreszeit nichts tun, Innenräume infektionssicher zu machen.

In der jetzigen Welle wird zwar wieder ans Maske tragen in den Öffis appelliert, nicht aber in den Bildungseinrichtungen und überhaupt, kranke Kinder zuhause zu lassen. Hat man sich vorher zurecht über die überfüllten Kinderpsychiatrien entrüstet, spielt die Psyche der Kinder jetzt anscheinend keine Rolle mehr – in einem Land, wo jeder dritte Schüler regelmäßig gemobbt wird, das war schon vor der Pandemie signifikant. PädagogInnen zählen neben Gesundheitspersonal zu den am meist gefährdesten Berufsgruppen für wiederholte Infektionen und LongCOVID, das ergaben Untersuchungen u.a. aus Schweden und Neuseeland, zwei Ländern mit lange gegensätzlicher Pandemiepolitik.

Ich bitte vorab um Verzeihung, dass der Beitrag wieder etwas länger wurde als beabsichtigt. Aus Zeitgründen schaff ich es derzeit nicht, mehrere Beiträge aus einem zu machen.

Die gewollte Durchseuchung der Kinder – aus wirtschaftlichen und epidemiologischen Gründen

Wenn wir zu den Anfängen der Pandemie zurückblicken, dann wurde bereits mit Ende Februar 2020, also noch rund zwei Wochen vor dem ersten Lockdown in Österreich, angedeutet, dass infizierte Kinder sehr wohl übertragen können (Branswell and Thielking, STATNEWS 2020). Kindergärten und Schulen blieben im ersten Lockdown geschlossen. Weil wir durch sowohl durch die schnelle, harte Reaktion als auch durch drastische Risikokommunikation so effektiv Übertragungen unterbunden haben, gab es … erraten, nicht nur bei den Erwachsenen, sondern auch bei Kindern kaum Übertragungen.

Schulcluster wurden mit der originellen AGES-Definition, dass alle Folgeinfektionen, auch wenn sie von der Schule ausgingen, als “Haushaltscluster” gezählt wurden, heruntergespielt. Kinder würden keine Rolle im Infektionsgeschehen spielen, war und ist der einhellige Chor. Mit Ankunft der Erwachsenenimpfung entfielen sukzessive die Schutzmaßnahmen bei den Kindern und wurden schließlich sang- und klanglos ganz abgeschafft.

Rückblickend betrachtet war die erste Welle geradezu winzig im Vergleich zu den Wellen ab 2022. Ältere Kinder wurden jedoch erst mit Beginn des Schulmonitorings durch die “Allesgurgelt”-Initiative in Wien ab März 2021 häufiger getestet, wobei das Stadt-Land-Gefälle im gesamten Pandemiezeitraum erhalten blieb. Volksschulen blieben bei meist wenig sensitiven Antigentests und hatten sicherlich eine hohe Dunkelziffer an unentdeckten Infektionen während aller Wellen.

Inzidenzen (PCR getestet!) nach Altersgruppen ab Beginn bis Ende der Meldepflicht in Österreich, Quelle: Erich Neuwirth, Statistiker

Das Präventionsparadoxon schlug im Sommer 2020 eiskalt zu: Dank Maßnahmen gab es nicht die große Welle mit hunderttausend Toten und nach der ersten Welle kannte auch nicht jeder jemanden, der an Corona gestorben war. Überhaupt hatten sich bis dahin noch sehr wenige infiziert, am häufigsten Skiurlauber vor dem Lockdown. Schulschließungen waren die effektivste Maßnahme, um die Ausbreitung zu stoppen, konstatierte damals ein internationales Forscherteam der Uni Wien. Der Grund dafür ist so glasklar für jeden, der selbst Kinder hat, aber auch für alle, die sich an ihre eigene Schulzeit erinnern können. Vom Kindergarten an schleppen Kinder ständig Infektionskrankheiten nach Hause, stecken ihre Eltern an, die wiederum ihre Arbeitskollegen anstecken, die ihre Kinder anstecken – ein ewiger Kreislauf. Die Schulschließungen zwangen viele Eltern ins Homeoffice – so waren beide Ansteckungsquellen unterbrochen.

“Hysterische Ansätze, die Kinder bei jedem Anzeichen von Schnupfen zu Hause zu lassen, da sage ich auch aus Sicht der Frauen: Das ist definitiv keine Möglichkeit.”

Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger, Kleine Zeitung (07.09.20)

Sie vorher wenigstens zu testen, wäre damals, als außer Corona kaum andere Viren zirkulierten, richtig und wichtig gewesen, und im Fall eines negativen Tests trotzdem Maske zu tragen, aber ….

“Kinder spielen im gesamten Infektionsgeschehen, weder als Erkrankte noch als Überträger, […] keine Rolle. Daher wird empfohlen Kinder unter 10 Jahren nicht zu testen.”

Infektiologin und Beraterin von Ex-Bildungsminister Faßmann (ÖVP), Petra Apfalter, Ärztekammer Oberösterreich in der Aussendung zum “Das ist keine zweite Welle, sondern ein technischer Labor-Tsunami.”, 18.09.20

… genau das wurde unterbunden.

Arbeitende Eltern sollten den Wirtschaftskreislauf am Leben erhalten. Das konnten sie nicht mit Freistellung fürs Homeschooling oder Distance Learning. Bereits im ersten Lockdown formierte sich um bis heute tätige Wissenschaftler und Berater der Regierung eine Gruppierung (u.a. Allerberger, Apfalter, Schmid, Sprenger, Strauss), die nach schwedischem Vorbild über die Durchseuchung der Kinder Herdenimmunität glaubte, erreichen zu können. Mit aller Macht wurde daher versucht, das Risiko der Kinder für schwere Verläufe kleinzureden, ebenso die Weitergabe der Infektion.

Den Teufel für Kinder durch Schutzmaßnahmen an die Wand malen

Sie gingen aber noch einen Schritt weiter – und behaupteten, Maske tragen und Schulschließungen würden vorrangig psychische Schäden verursachen sowie uneinholbare Bildungsverluste. Zudem würden regelmäßige Infektionen im Kindesalter wichtig für ihr Immunsystem sein. Keine Partei und weder Kinderärzte noch Elternvereine widersprachen dieser massiven Desinformation, die sich seit dem Sommer 2020 bis heute durchzieht und durch die Medien verstärkt wird. Politiker, aber auch Wissenschaftler in Österreich und Deutschland bezeichneten wider besseren Wissens die Schließung von Kindergärten und Schulen abwechselnd als Fehler, der nicht wiederholt werden dürfte – und betreiben damit Geschichtsklitterung.

Dichtung und Wahrheit: Es gab keine steigenden Suizidraten durch Schutzmaßnahmen in den ersten beiden Pandemiejahren. Erst seit dem Ende der Maßnahmen steigen sie deutlich an.

Die Ergebnisse der Pisa-Studie widerlegen eindrucksvoll, dass die Länge der geschlossenen Schulen zwangsläufig mit höheren Bildungsverlusten einhergehen musste – wobei die Schulen in Österreich strenggenommen auch nie geschlossen waren, insbesondere im zweiten Lockdown wurde die Notbetreuung rege genutzt. Kindergärten sind ab Welle 2 überhaupt immer offen geblieben. Kinder konnten mit Maske tragen besser umgehen, wenn diese Maßnahme durch ihre Eltern positiv besetzt wurde.

Belastungsfaktoren in Zusammenhang mit depressiven Symptomen bei 14-24jährigen, die eine Schule oder Hochschule besuchen, Quelle: http://www.coronastress.ch – Die Ergebnisse in dieser Abbildung sind auch aus dem Ausland gestützt, die Kombination aus Schulalltag und Pandemiestress sorgte für erhöhte psychische Belastung, nicht Schulschließungen (Kim et al. 2023).

Wir wissen heute, dass Belastungsfaktoren nicht nur durch geschlossene Bildungseinrichtungen entstehen, sondern primär durch den hohen Leistungsdruck, der von den Eltern an Kinder weitervermittelt wird: “Du kannst wegen Kopf- und Halsweh jetzt nicht zuhause bleiben, sondern musst in die Schule, den Stoff lernen, sonst versagst Du bei der Schularbeit.”

Das Immunsystem lässt sich nicht durch pathogene Erreger trainieren

Ebenso wurde die Hypothese “Regelmäßige Infektionen sind notwendig, um sein Immunsystem zu trainieren” lange widerlegt, bzw. gilt das nicht für pathogene Viren wie SARS-CoV2, RSV oder Influenza, aber auch nicht für Bakterien wie Streptokokken, Mycoplasmen oder Pilzinfektionen. Es gibt keine “Immunschuld”.

Das ist insgesamt vielleicht gar nicht so schlecht, wenn man so auf natürliche Weise in jungen Jahren eine Immunität erwirbt, denn wir sehen ja, dass die Kinder an und für sich eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit haben, schwer zu erkranken.”

Epidemiologin Eva Schernhammer, früher in der Arbeitsgruppe Schule in der Expertenkommission GECKO und u.a. Beraterin des Ex-Tiroler Landeshauptkamms Platter (ÖVP), STANDARD (14.06.21)

Vor der Impfung und vor Omicron trat das Multientzündungssyndrom MISC noch gehäuft auf, es betraf zur Hälfte auch zuvor gesunde Kinder. Wenn die Erstinfektion mit der Delta-Variante stattfand, trat mit der Zweitinfektion durch Omicron häufiger LongCOVID auf (Ertesvag et al. 2023), überhaupt erhöhen Reinfektionen auch bei Kindern und Jugendlichen das LongCOVID-Risiko (Pereira et al. 2023).

Verschiedene Studien zeigen erhöhte Risiken für Folgeerkrankungen nach einer Covid19-Infektion, z.b. Roessler et al. (2022) oder Kompaniyets et al. (2022). Gestiegen ist vor allem das Risiko für akute Lungenembolie, Herzmuskelentzündung, venöse Thrombosen, Nierenversagen und Diabetes-Typ-1. Es kommt seit der Pandemie zu einem Anstieg von Typ-I- und II-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen (D’Souza et al. 2021Weiss et al. 2023), wobei genetisch vorbelastete Kleinkinder ein deutlich erhöhtes Diabetes-Risiko aufweisen (Lugar et al. 2023), das Risiko für neue chronische (neurologische) Erkrankungen steigt durch eine Infektion um 78% (Chiara et al. 2023).

Beunruhigend sind auch pathogene Veränderungen selbst nach asymptomatischen oder leichten Verläufen, darunter ..

Ein höheres Sterberisiko haben Kinder mit Immunschwäche (Abolhassani et al. 2022) und Downsyndrom (Clift et al. 2020). Das heißt im Umkehrschluss: Ohne Schutzmaßnahmen in Bildungseinrichtigungen schließt man kranke und behinderte Kinder vom Sozialleben aus. Bei Schulschließungen wird gerne mit psychischen Schäden durch mangelnde Sozialkontakte gesprochen. Wer denkt an die Kinder, die seit dem politischen Pandemieende dauerhaft von sozialen Aktivitäten ausgeschlossen wurden? In England starben 70 Kinder an den Folgen einer Covid19-Infektion, besonders betroffen sind Kinder von ethnischen Minderheiten (Wilde et al. 2023), in Österreich sind bis November 2022 15 Todesfälle dokumentiert (Zurl und Strenger 2023).

Was man dagegen machen könnte: Saubere Luft in Innenräumen und mehr Verantwortungsbewusstsein

Ich hab mich entschieden, auch den zweiten Punkt mit hineinzunehmen. Denn Studien haben gezeigt, dass es etwa in Kindergärten bei niedriger Hintergrundinzidenz (sprich, generell weniger Infektionen) auch weniger Übertragungen gibt (Hoehl et al. 2020). Im Kindergarten wird man mit Maskenpflicht nicht weit kommen. Hier bleiben de facto nur Maßnahmen wie “kranke Kinder zuhause lassen”, regelmäßig testen, viel lüften, viel im Freien machen und versuchen, mit Lüftungsanlagen und Luftfiltern die Anzahl der Übertragungen zu reduzieren. Aufgrund des häufig engen Kontakts von Kindern ist ein geringes Übertragungsrisiko nicht garantiert.

Der Schlüssel zu offenen Schulen bei gleichzeitig möglichst niedrigem Infektionsrisiko ist daher saubere Luft in Innenräumen (Jendrossek et al. 2023). Wie kann man diese erreichen? Indem man entweder konstant über Durchlüftung Frischluft zuführt und die verbrauchte Luft verdünnt bzw. ersetzt, oder indem man infektiöse Aerosole aus dem Raum entfernt – mit Hilfe von modernen Lüftungsanlagen, die die kontaminierte Luft von Erregern befreien, oder mobilen Luftreinigern als befristete Lösung, bis die Lüftungsanlagen ausgetauscht bzw. eingebaut wurden. Frankreich hat als Obergrenze für verbrauchte Luft in Bildungseinrichtungen 800ppm verpflichtend beschlossen. Die Initiative Gesundes Österreich (IGÖ) fordert genau das seit ihrer Gründung 2021. Der Gedanke dahinter: Je niedriger der CO2-Gehalt gehalten werden kann, desto geringer das Übertragungsrisiko bei längerem Aufenthalt in geschlossenen Räumen. Überdies führen niedrige CO2-Werte, die durch effektive Frischluftzufuhr (mechanische Lüftungsanlagen und häufiges Querlüften/Dauerlüften) erreicht werden, auch zu einer besseren Konzentrationsfähigkeit im Unterricht.

Was kann der Einzelne machen?

In Gesprächen mit Eltern von Kindern, die noch in den Kindergärten oder in die Schule gehen, höre ich immer wieder heraus, dass man sowieso machtlos sein würde. Infektionen gehören eben zum Kindesalter dazu und wären eben nicht verhinderbar. Der Winter sei nun mal Erkältungszeit. Man könne die Kinder ja nicht ständig daheim einsperren. Ich bin davon überzeugt, dass zwischen 0 und 1 weitaus mehr Graustufen vorhanden sind, die vielleicht keinen 100%-Schutz, aber zumindest bessere Schutz garantieren als ohne jede Maßnahmen.

Der erste Schritt ist, nicht zu schweigen, sondern seine Stimme zu erheben. Bei Elternabenden, in Whatsappgruppen, auf Facebook, in Gesprächen mit Arbeitskollegen einfach auch mal ausdrücken, wie sehr es einen schon ankotzt, wenn die Kinder ständig krank sind und Unterricht ausfällt, weil Lehrer krank sind. Es wird fast immer weitere Elternteile geben, die das ähnlich oder genauso sehen, aber aus Resignation oder Furcht, mit einer Einzelmeinung dazustehen, nicht ansprechen.

Der zweite Schritt ist, sich Initiativen anzuschließen, die für eine Verbesserung der Situation eintreten – hier etwa das IGÖ, aber auch die Unabhängige Lehrergewerkschaft. Man kann auch bei seiner eigenen Gewerkschaft oder beim Betriebsrat Druck machen, dass das in der Prioritätenliste der Gewerkschaften weiter nach oben rutscht. Da ist nämlich gewaltig Beton angerührt und es herrscht vielfach kein Bewusstsein dafür, dass die Dauerkrankenstände zum Problem werden. Ebenso kann man als Parteimitglied aktiv werden und sollte vor allem eine gewisse Ausdauer mitbringen, was lästig bleiben betrifft.

Der dritte Schritt ist, selbst aktiv zu werden, hochwertige CO2-Messgeräte zu leihen oder zu kaufen, und die Luftqualität in den Bildungseinrichtungen regelmäßig zu testen. In der Schultasche des Kindes ist das Gerät effektiv und unauffällig platziert. Auch hier kann und sollte man lästig sein bei der Schuldirektion, und darauf beharren, dass Frischluftzufuhr und ggf. Luftreiniger zur Unterstützung durchgesetzt werden – insbesondere jetzt, wo aufgrund des Lehrermangels die Anzahl der Schüler pro Klasse weiterwächst und damit auch das Infektionsrisiko.

Es gibt sicherlich noch mehr, was man tun kann, aber aus psychologischer Sicht wäre es jetzt von besonders großer Wichtigkeit, dass Missstände offen ausgesprochen werden, dass man darüber reden kann statt den aktuellen Stand einfach zu ignorieren und Personen, die daraufhinweisen, noch niederzumachen (siehe letzte Kolumne).

One thought on “Kolumne 04/12: Die vergessenen Kinder

  1. In der letzten Wochenendausgabe vom STANDARD gibt es einen berührenden Bericht über zwei Jugendliche zu lesen, die wegen LongCovid auf Reha sind. Kein Hinweis, dass sie eventuell Vorerkrankungen haben und bedauernswert gab es in dem Artikel auch keinen Appell zu einfachen Vorsichtsmaßnahmen wie Maske oder Belüftung.

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