Mythen rund um die “Erkältungszeit” – Folge 3: Das Immunsystem braucht kein Training durch Infektionen

Anzahl der Keuchhusten-Fälle, die seit 2011 der ECDC gemeldet wurden, Stand 31.03.24

Das Immunsystem ist kein Bankkonto, in das man ständig Infektionen einzahlen muss, um keine Immunschulden anzuhäufen. Es ist auch kein Muskel, der ständig in Kontakt mit Viren und Bakterien kommen muss, um stark zu bleiben. Nach dem sukzessiven Ende aller Schutzmaßnahmen kamen die saisonalen und ganzjährigen Infektionskrankheiten zurück in die Mitte der Gesellschaft. Ein Umstand, der eindrucksvoll aufzeigt, dass Schutzmaßnahmen wie Kontaktbeschränkungen, Masken und etwa telefonische Krankmeldungen funktioniert haben. Leider fallen die Rückbetrachtungen zur Pandemie häufig vernichtend zu jenen Schutzmaßnahmen aus, die hunderttausenden von Menschen das Leben gerettet haben – darunter befinden sich auch Schulschließungen oder die Maskenpflicht im Gesundheits-, Bildungs- und öffentlichen Verkehrswesen. Genervte, empörte oder durch Verschwörungserzählungen allgemein verlorene Mitbürger verdrängen die Fakten und empfangen unwissenschaftliche Behauptungen, die Schutzmaßnahmen in Frage stellen, mit offenen Armen.

  • “Ich bin jetzt ständig krank, weil ich jahrelang Maske getragen habe.” höre ich dann von jenen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die die Maske meist widerwillig und so selten wie nur möglich getragen haben.
  • “Das Immunsystem ist nach den jahrelangen Lockdowns untrainiert”, behaupten selbst Hausärzte und Apotheker, aber auch so manche Infektiologen im Fernsehen, und ermuntern die Mitbürger dazu, sich achtlos erhöhtem Infektionsrisiko auszusetzen.
  • “Das sind alles Nachholeffekte, weil es in den Jahren mit Maßnahmen kaum Infektionen gab.” sagen Epidemiologen, und lassen einen damit im Unklaren, ob man diese Infektionen jetzt aktiv nachholen sollte, oder ob sich einfach mehr Menschen infizieren, aber man selbst könnte auf diese Infektionsrunde einfach verzichten und würde damit nichts verlieren.

Das Immunsystem ist ständig aktiv.

Selbst in den ersten beiden Pandemiejahren, wo lange, aber nicht durchgehend Kontaktbeschränkungen galten, war das Immunsystem ständig aktiv. Es ist täglich zig Millionen Mikroben ausgesetzt. Manche Krankheitserreger nisten sich lebenslang im Körper ein, wie Herpesviren oder bestimmte Magendarmbakterien. So bleibt das Immunsystem ständig auf Trab. Eher führt der jahrezehntelange Kampf etwa mit dem Herpesvirus Zytomegalovirus zur Erlahmung des Immunsystems mit zunehmenden Alter.

Wenn Kinder im Sandkasten spielen oder am Bauernhof aufwachsen, dann kommen sie ständig mit Mikroorganismen in der Natur in Kontakt. Die sind meistens unschädlicher als Mikroorganismen im Haushalt. Hygiene im Haushalt wirkt sich daher nicht negativ auf das Immunsystem aus (Rock et al. 2021).

ZiB2-Anchor Martin Thür: “Haben wir unter Corona andere Infektionen zu lange vermieden?“

Epidemiologin Schernhammer, MedUni Wien:

„Das wird sicherlich eine Rolle spielen. So ein bisschen ein Aufholeffekt, den wir jetzt sehen, weil der Körper sehr dynamisch reagiert auf Infektionen, Immunsystem aufbaut, aber das auch wieder abbauen kann. Man kennt das zum Beispiel, wenn man als Arzt in ein Spital kommt und dort neu zu arbeiten beginnt, dann muss man sich diesen neuen Viren und Bakterien, die dort vorhanden sind, einmal aussetzen. Und erwirbt dann im Laufe von ein paar Monaten eine bessere Immunität und so ähnlich ist es auch mit der Pandemie. Wir haben uns bewusst sehr geschützt und jetzt muss der Körper wieder ein bisschen aufholen und das erleben wir gerade. Aber Gott sei Dank gibt es eine Influenzaimpfung, die heuer sehr, sehr gut hilft und die man nur jedem empfehlen kann.“ (28.12.2022, ZiB2)

Eine ähnliche Argumentation höre ich von Apothekern, die die SARS-CoV2-Infektion gut weggesteckt hätten, weil sie durch ihre Arbeit jahrzehntelang Kontakt mit Mikroben gehabt hätten. Doch wie glaubwürdig sind diese Anekdoten? Wenig. Sie zeugen vor allem von Unwissenheit und Vergesslichkeit über den Pandemiebeginn: Da starben nämlich über 100 Ärzte alleine in Italien, die sich bei infizierten Patienten ansteckten. Wenn ein neuartiges Virus auf eine Bevölkerung trifft, deren Immunsystem noch nie mit diesem Virus Kontakt hatte, dann nützen einem die meisten* bisherigen Viren-, und Bakterienkontakte nichts. Mit dieser Logik hätte es auch kaum Opfer unter ErzieherInnen und Pädagogen geben müssen, sie zählen aber zu den vulnerabelsten Berufsgruppen neben dem Gesundheitspersonal (Vlachos et al. 2021, Bonde et al. 2023). Dort waren (und sind) übrigens überdurchschnittlich häufig medizinische Fachangestellte (Assistenten, Sprechstundenhilfe) infiziert und haben zudem ein erhöhtes LongCOVID-Risiko.

* mit der Ausnahme von humanen Coronaviren (NL63, OC43, etc.) , die Kreuzimmunität gegen SARS-CoV2 erzeugen können (Dugas et al. 2021, Lavell et al. 2022, Singh et al. 2023) Das funktioniert übrigens auch umgekehrt, an einem Impfstoff gegen alle Coronaviren wird bereits gearbeitet (Shepherd et al. 2024).

Das Immunsystem braucht Updates, kein Training

Das ungefährlichste Update ist für allermeisten Menschen eine (Auffrisch-) Impfung. Die enthält alle Bausteine, auf die das Immunsystem eine Immunantwort ausbilden kann, ohne die schädlichen Folgen einer Infektion in Kauf nehmen zu müssen. Der oben zitierte Arzt im Krankenhaus wird daher vor Dienstantritt hoffentlich sämtliche notwendige Impfungen absolviert haben statt mit einer schweren Influenza-Erkrankung selbst zum Patienten zu werden. Ärzte sind zudem nicht zwingend gesund, weil sie den Arztberuf gewählt haben, sondern haben selbst gehäuft Risikofaktoren für schwere Infektionsverläufe. Der Umstand, dass manche Ärzte oder Apotheker weniger schwer erkranken als andere, kann neben genetischen Faktoren, Kreuzimmunität durch gewöhnliche Coronaviren auch an der Menge der Viruslast liegen, der man bei der Infektion ausgesetzt war. Manche Menschen bilden nach der Impfung eine bessere Antikörperantwort aus als andere. Das ist individuell sehr verschieden.

Gegen SARS-CoV2, Masern, Keuchhusten, Influenza und RSV (teuer) besteht die Möglichkeit, sich impfen zu lassen. Das sind alles Viren, die man um jeden Preis vermeiden sollte. Sie erzeugen mitunter schwere Lungenverläufe, können aber im ganzen Körper randalieren (vor allem Masern, SARS-CoV2 und Influenza). Andere Viren, gegen die es keine Impfung gibt, sind deswegen nicht harmlos. Auch eine Infektion mit den häufigsten Erkältungsviren, den Rhinoviren sollte man vermeiden. Sie können ebenso wie RSV im Kleinkindalter später Asthma und Allergien auslösen. Bei Rhinoviren gibt es leider rund 100 Subtypen und keine nennenswerte Immunität gegen erneute Infektion – 3-4x im Jahr kann man sich mit ihnen anstecken.

Und die Nachholeffekte …?

Die spezifische Immunität gegen einen bestimmten Erreger lässt mit der Zeit nach. Bei den impfbaren Krankheiten wird es dann Zeit für eine Auffrischimpfung. Bei den nicht impfbaren Erregern kommen die Infektionen in Wellenzyklen. Es entsteht kein Schaden am Immunsystem, wenn man einen Zyklus auslässt. Denn jede Infektion birgt ein gewisses Risiko, bei Virusinfektionen häufig die gefürchteten bakteriellen Superinfektionen, wenn ein geschwächtes Immunsystem zum Einfallstor etwa von Streptokokken oder Pilzinfektionen wird.

Es liegt aber nüchtern gesehen auf der Hand, dass nach ein paar ausgelassenen Zyklen mehr empfängliche Personen zur Verfügung stehen als wenn jedes Jahr eine ähnliche Anzahl von Menschen infiziert wird. Nochmal: Diese Menschen müssten nicht zur Verfügung stehen, sie müssten nicht laut “Hier!” schreien, wenn die Viren zirkulieren. Sie tun es aber, weil es keine Maßnahmen mehr gibt und ihnen erfolgreich über Jahre hinweg eingeredet wurde, dass Infektionskrankheiten harmlos sind und nur für “Vulnerable” gefährlich, wobei viele an ihre 85jährige Oma denken und nicht an das Nachbarskind mit dem Herzfehler oder die Lehrerin mit der chronischen Darmentzündung. Daher zirkulieren wieder viele Pathogene, die auf eine empfängliche Bevölkerung treffen, die keinerlei Anstalten macht, diese Zirkulation einzudämmen und damit den generellen Exzess an Krankenständen einzudämmen.

Sofern es nicht im Kontext mit Immunsystem trainieren genannt wird, sind Nachholeffekte also eine diagnostische, wertfreie Aussage und keine Anstiftung, das Nachholen zu beschleunigen.

Zur Titelgrafik mit dem Keuchhusten: Da ist noch nicht ganz geklärt, was den extremen Anstieg derzeit auslöst. Mehr empfängliche Personen nach zwei Jahren mit weniger Infektionen, zu viele Impflücken, die durch Desinformation zugenommen haben und womöglich neue Erregervarianten, die auch zu vermehrten Impfdurchbrüchen führen können (Fu et al. 2024 preprint). Natürlich kann man auch hier nicht ausschließen, dass eine kürzliche SARS-CoV2-Infektion die Empfänglichkeit gegenüber Keuchhusten fördert.

Was passiert bei regelmäßigen Infektionen?

Das ist insgesamt vielleicht gar nicht so schlecht, wenn man so auf natürliche Weise in jungen Jahren eine Immunität erwirbt, denn wir sehen ja, dass die Kinder an und für sich eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit haben, schwer zu erkranken.”

Epidemiologin Schernhammer, 14. Juni 2021 (DerStandard)

versus

“Derzeit bekommen Immunologen Befunde, die suggerieren, dass diese Alterung des Immunsystems bei Kindern nach Coronainfektion viel fortgeschrittener ist, als man es erwarten würde. Man kann sich nun zugespitzt fragen, ob ein ungeimpftes Kind nach Infektion vielleicht mit 30 das Immunsystem eines 80-Jährigen haben wird. Die Durchseuchung der Kinder wäre dann ein riesiger Fehler gewesen. Das wäre ein extremes Szenario, das man aber mit erwägen muss. Allerdings haben wir keine Infektionskrankheit so gut erforscht wie Sars-Cov-2. Gut möglich, dass es sich bei anderen Infektionen auch so verhält und das Phänomen nach zwei, drei Jahren verschwindet, weil gerade junge Kinder noch naive Immunzellen nachproduzieren können. Wir wissen all dies noch nicht. Ich hatte aus Vorsicht immer für die Impfung und den Infektionsschutz von Kindern plädiert.”

Virologe Drosten, 27. Dezember 2022 (Tagesspiegel)

Mittlerweile häufen sich die Studien, wonach auch mit den Omicron-Varianten (ab Winter 2021) Reinfektionen das LongCOVID-Risiko erhöhen, auch bei Kindern (Marra et al. 2023, preprint, Pereira et al. 2024), speziell, wenn die Erstinfektion mit der Delta-Variante stattfand (Ertesvag et al. 2023). Besonders tragisch: Kinder sind aufgrund ihres Alters und den damit verbundenen Stereotypen von „doppelter Unsichtbarkeit“ betroffen (Wild et al. 2024).

Mit regelmäßigen Virusinfektionen steigt auch das Risiko einer anhaltenden Immunschwäche, sprich, die Phasen zwischen den Infektionen, wo sich das Immunsystem erholen könnte, werden immer kürzer. Bei Kindern steigt damit das Risiko für schwere Streptokokken-Verläufe (Kvalsig et al. 2023). Bei gewöhnlichen Coronaviren weiß man schon länger, dass sie Streptokokken-Infektionen begünstigen (Golda et al. 2011). Lebensbedrohliche Pilzinfektionen haben allgemein seit der Pandemie zugenommen (Najeeb et al. 2022, Morton et al. 2022, Emily Henderson 2023), ein Zusammenhang mit SARS-CoV2 hat eine Arbeit kürzlich nachgewiesen (Alfaifi et al. 2024 preprint). Auch die schweren RSV-Wellen bei Kindern 2021 und 2022 gingen wahrscheinlich auf durch SARS-CoV2-Infektionen geschwächte Immunsysteme zurück (Wang et al. 2023). Etliche weitere bakterielle, teilweise virale Erkrankungen werden durch SARS-CoV2 begünstigt. Am häufigsten betroffen sind Kinder, weil sie durch die Virendrehscheibe Kindergarten und Schule am wahrscheinlichsten Kontakt mit den vielfältigen Erregern haben.

Zusammenfassung

Das Immunsystem braucht kein Training und auch keine Stärkung durch spezielle Nahrungsergänzungsmittel, außer es gibt einen expliziten Mangel, der genetisch oder medikamentös bedingt ist. Es ist ständig aktiv, ohne dass wir das zwingend bemerken. Das Immunsystem hat es daher auch gut verkraftet, dass wir ein paar Monate weitgehend auf Sozialkontakte verzichtet haben – und selbst das traf angesichts der abnehmenden Bereitschaft, mitzumachen, nur auf einen kleinen Teil der Gesamtbevölkerung zu. Jeder mit Familie hatte auch in der Lockdown-Zeit Kontakte zu anderen Menschen. Masken gab es zu Beginn gar nicht, dann Stoff- oder OP-Masken, die viele Mikroben durchlassen. In der warmen Jahreszeit war vieles wieder normal, erst zum Herbst und Winter hin gab es 2021 noch einmal Kontaktbeschränkungen und Maskenpflicht, aber nur für wenige Wochen. Bereits 2022 normalisierten sich Sozialkontakte wieder und 2023 lebte die Mehrheit wieder wie vor der Pandemie. Wir reden hier also über wenige Wochen bis Monate über zwei Jahre verteilt mit weniger Sozialkontakten.

In Bezug auf impfbare Erkrankungen sollte man seinen Impfpass regelmäßig kontrollieren lassen, um am aktuellen Stand zu bleiben. Das ist übrigens kein Eingriff in die Grundrechte, sondern wird spätestens dann fällig, wenn man ins Ausland verreist. Da gab es nie diesen Bahö um “Ich entscheide selbst, was ich meinem Körper zumute.” Kaum war es im eigenen Land notwendig, etwa weil wir gerade eine schwere Pandemie mit in Summe rund 20 Millionen Todesopfern und Millionen LongCOVID-Kranken hatten, nahm die Empörung der Impfgegner überhand.

In Bezug auf nicht impfbare Erkrankungen hilft nur konsequentes Maske tragen. Diese Maßnahme hat aber bei sozialen Anlässen, vom Familientreffen über die Weihnachtsfeier bis zum Ausgehabend, ihre Grenzen. Da hilft nur saubere Luft in Innenräumen durch häufiges Lüften und Luftreiniger, um die Menge an Pathogenen in der Luft generell zu verringern, und bei Symptomen zuhause zu bleiben, um andere nicht zu gefährden oder einen schönen geselligen Abend nachhaltig zu vermiesen – gilt genauso fürs Gesundheits- und Bildungswesen, um Kinder und deren Familienangehörige zu schützen und echte Inklusion zu ermöglichen.

Leave a comment

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.