
“Eine Behandlung der Ursache gibt es nicht, nur die Symptome können therapiert werden. Die erste Prävention ist laut Vizerektor Enzinger ein gesunder Lebensstil, das stärke das Immunsystem. Die zweite Präventionsmaßnahme sei, „die Infektion selbst zu vermeiden und sich durch eine Impfung vor einer Infektion zu schützen.“
ORF Steiermark: Long Covid: Neue Maßnahmen angekündigt (21.11.24)
An sich ein guter und wichtiger Artikel, bis auf den letzten Absatz. Bekanntermaßen sind am häufigsten Menschen betroffen, die mitten im Leben stehen, mehrheitlich Frauen und darunter viele, die vor der Infektion mit SARS-CoV2 oder einem anderem Virus kerngesund waren. Am ungesunden Lebensstil kann es also nicht gelegen haben. Und wie soll man damit etwa als prekär lebender Mensch umgehen, der auf einen stressigen oder körperlich anstrengenden Job angewiesen ist, um durchzukommen? Die ersten beiden Aussagen wälzen die gesamtgesellschaftliche Verantwortung, Gesundheit zu ermöglichen und Viruszirkulation zu verringern, auf den Einzelnen ab. Nach den aktuellen Impfplänen wird die Impfung nur Risikogruppen eines schweren Verlaufs, nicht aber allgemein empfohlen. Zwar kann man sich impfen lassen, wird aber nicht explizit darauf hingewiesen, es zu tun. Diesen Winter gab es auch keine Alternative zu mRNA-Impfstoffen (Pfizer), der Proteinimpfstoff Novavax ist wahrscheinlich erst im Dezember verfügbar. Die Impfung schützt nach jetzigem Wissensstand höchstens wenige Wochen bis Monate vor einer Infektion, was bei einem jährlichen Impfrhythmus zu wenig ist, wenn man bedenkt, dass das Virus ganzjährig zirkuliert, so wie das vergleichsweise deutlich harmlosere Rhinovirus.
Ich hoffe, die künftigen Empfehlungen vom Vizerektor der MedUni Graz fallen zielgerichteter an die Politik und Gesellschaft, aber auch an die Gesundheitsbehörden und insbesondere die Gesundheitslandesrätinnen aus, denn das Umdenken kann in Österreich nur von oben herab erfolgen.
Am Anfang der Pandemie fürchtete ich mich vor einem schweren Verlauf mit Hospitalisierung, bzw. so schwer zu erkranken, dass ich mir zuhause nicht mehr selbst helfen könnte. Im Laufe des April und Mai 2020, als ich meinen Blog zunehmend mit wissenschaftlichen Informationen füllte, las ich die ersten Zeitungsberichte zu möglichen Spätfolgen. Im Sommer warnte ich bereits im Bekanntes- und Kollegenkreis, dass auch milde Infektionen folgenreich sein könnten.
“die einen sagen das, die anderen das“,
“man findet für alles eine Studie”,
“solange gibt es das Virus noch nicht, wie will man da etwas zu Langzeitfolgen wissen“
Es war frustrierend, aber ich war und bin in erster Linie Meteorologe und kein Mediziner, warum hätte man auf mich hören sollen? Ich hab mich seit dem Sommer 2020 vor allem geschützt, weil ich Longcovid fürchtete. Insbesondere jene Verläufe, die mit ausgeprägter Fatigue und Bettlägerigkeit geendet haben, aber auch mit Graustufen dazwischen hätte es das Ende meiner Wanderleidenschaft bedeuten können.
Vier Jahre später wird SARS-CoV2 in der Bevölkerung weiterhin als Viruserkrankung betrachtet, die “sich zu den anderen harmlosen Erkältungskrankheiten” hinzugesellt. Das Lebensrisikoportfolio wurde um ein weiteres Virus erweitert – ein Risiko, wie vom Auto überfahren zu werden? Diese Darstellung ist eine Verharmlosung und Irreführung der Öffentlichkeit. So ist das Risiko als Mensch mit intaktem Immunsystem, durch eine saisonale Erkältungskrankheit (z.B. saisonale Coronaviren, RSV) dauerhaft behindert zu werden, so niedrig, dass es neben anderen Risiken toleriert werden kann. So haben wir vor der Pandemie die meiste Zeit gelebt, sofern wir uns regelmäßig gegen Influenza geimpft haben.
Bei SARS-CoV2 ist dieses Risiko aber ungleich höher. Insgesamt wurden 672 Erkrankungen, die mit erhöhtem Risiko für schwere Verläufe verbunden sind und/oder 72 Erkrankungen mit erhöhtem Risiko für LongCovid gefunden (Pietzner et al. 2024). Was ist, wenn man nicht weiß, eine dieser Erkrankungen zu haben?
Es macht einen fundamentalen Unterschied zwischen
“Ich könnte an X erkranken, aber dann gibt es gute Therapien und die Lebensqualität kann aufrechterhalten werden.”
und
“Wenn ich Long COVID bekomme, gibt es keine Standardtherapie, nur Off-Label, die man womöglich selbst zahlen muss, und Gesundheitsbehörden, Versicherungen, Arbeitsamt weigern sich, meinen (schlechten) Gesundheitszustand anzuerkennen. Ich gelte dann womöglich als arbeitsfähig, bekomme keinen Pflegegrad, obwohl ich hausgebunden oder bettlägerig bin.”
Dort, wo ich herkomme, aus der Meteorologie, nennt man das übrigens ein “low probability, high impact scenario.”
Um eine Analogie aufzuzeigen: Als ich gefragt wurde, ob am Nachmittag des nächsten Tages noch Gewitter kommen, weil eine Veranstaltung mit 300 Teilnehmern im Freien stattfinden sollte, sagte ich, die Wahrscheinlichkeit ist zwar gering, aber wenn Gewitter kommen, fallen diese sehr heftig aus und es besteht akute Lebensgefahr. Die Fragestellerin zögerte nicht lange, sondern sagte die Veranstaltung daraufhin ab. Gekommen sind dann übrigens tatsächlich Gewitter, die zumindest in die Nähe des Veranstaltungsortes zogen.
Heißt das nun auf SARS-CoV2 übertragen, dass man gar keine Risiken mehr eingehen sollte, weil die Langzeitfolgen so eine schlechte Prognose haben und Spontanheilung eher der Glücksfall ist? Nein. In den meisten Fällen ist das mit dem Alltag einer Familie oder dem Beruf nicht vereinbar, geschweige denn mit dem sozialen Wesen Mensch. Das Verhalten muss man die Veränderung des Risikos angepasst werden, das nicht überall gleich ist. Für Familien ungleich schwieriger umzusetzen als für ein kinderloses Paar oder einen Single, der im Homeoffice arbeitet. Es gibt Berufe, wo Ansteckungsrisiken allgemein höher sind, wie beim Gesundheits- und Bildungspersonal, bei Busfahrern oder als DJ in einem Club, es gibt Anlässe, wo es höher ist, wie Feste, Feiern oder berufliche Treffen. Es gibt saisonale Höhepunkte von Erkrankungswellen und das Risiko steigt auch durch/nach einer Immunsuppression, etwa eine Krebserkrankung oder Transplantation, medikamentös bedingt oder nach einer Viruserkrankung.
Es war und ist bis heute meine tiefste Überzeugung, dass Long Covid immer in einem Atemzug mit Prävention und umgekehrt genannt werden muss. Das Bewusstsein, Infektionen zu vermeiden, würde sich nur dann in der Mehrheitsgesellschaft durchsetzen, wenn diese durch Infektionen ihre Lebensqualität bedroht sieht, wenn ihr geplanter Lebensweg, ihr Lebensstil dadurch gefährdet wäre. Ich verstand schon vor der zweiten Welle nicht, warum Spätfolgen kontinuierlich ausgeblendet wurden und nur von Intensivstationen die Rede war. In meinen Augen hätte man vor allem die jüngere Bevölkerung mit Aufklärung ins Boot holen können, für den Selbst- und Fremdschutz. Es bleibt daher ein Rätsel, weshalb der Vizerektor der MedUni, der zugleich Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie ist, nicht die Prävention im eigenen Hause anspricht – sprich, Empfehlungen oder besser noch Forderungen an das Gesundheitswesen, PatientInnen zu schützen, und eben an die Politik, generell mehr in Infektionsschutz zu investieren, etwas, das auch Arbeitgeber über die Fürsorgepflicht betrifft. Eine Gesellschaft besteht aus vielen kleinen Zahnrädchen, die miteinander verbunden sind. Wenn viele Räder blockieren, kann das einzelne Rad noch so große Anstrengungen unternehmen, es kommt letztendlich zu Reibungsverlusten und zum Verschleiß.
PS: Das ist der erste Beitrag unter neuem Blog-Titel. Der Inhalt ist derzeit noch im Aufbau.
Danke nochmal für die wertvollen Einblicke. Ich bin schon froh wenn ein Vizerektor überhaupt Long Covid als Problem anspricht und nicht nur versucht unter den Teppich zu kehren und zu verdrängen. Aber es ist ein bischen so als wenn man z.B. den Australiern sagen würde, du kannst ruhig den ganzen Tag von morgens bis abends ohne Sonnenschutz am Strand verbringen, solange du dich nicht nur von Chips ernährst und dich auch ein bischen bewegst. Das wäre das wichtigste. Aber wenns unbedingt sein muss kannst du auch nebenbei versuchen im Schatten zu bleiben, Hut und Sonnencreme verwenden…usw.
Seitdem es nun zwei bekannte Hautkrebsfälle in meiner Familie gibt, ist Sonnenschutz für mich zum Mantra geworden. Klar, wenn ich mich mit Sonnenbrand in einen Urlaubsflieger setze bin ich so natürlich nicht ansteckend, aber mit Corona schon.
Neulich habe ich jemanden im Reha Zentrum besucht. Ich war wirklich der einzige dort mit Maske. Lauter unterirdische enge Passagen, schlecht belüftet, enge Wartebereiche voll mit Patienten die guhustet und geniesst haben. Aber alle drei Meter gabs Desinfektionsmittelspender für die Hände mit einem Schild “Bleib gesund, Infektionen vermeiden” oder so was ähnliches.
LikeLiked by 1 person