Die verdrängte Pandemie – von Frédéric Valin und Paul Schuberth

Die Autoren verweisen zu Recht auf die soziale Ungerechtigkeit in der Pandemie, die sich weiter verschärft hat. Zu Beginn der Pandemie hieß es ja so schön, dass ein Brennglas auf die Mehrklassengesellschaft geworfen werde. Doch statt etwas daran zu ändern, wurde nur geklatscht. Eine Gratwanderung sind die Aussagen im Buch immer dann, wenn es um die virologische und medizinische Entwicklung der Pandemie geht. Dem Internisten Wolfgang Hagen, der auf einer von zwei Abteilungen in Wien stationiert war, die sich in der Pandemie um Akutpatienten gekümmert haben, gelingt dieser Spagat. Er verweist explizit auf die Erfolge durch die Impfung, mit der schwere Verläufe heute “zur Rarität” geworden sind und auch das Risiko für Spätfolgen “signifikant” reduziert wird [Seite 33ff].

An vielen Stellen verweist Schuberth von einem politischen, medialen, gesellschaftlichen Ende der Pandemie, und dass die WHO zwar den Internationalen Gesundheitsnotstand beendet habe, nicht aber die Pandemie. Offenbar haben sich bisher die wenigsten damit befasst, wie die WHO Pandemien ausruft und wie sie zu Ende gehen.

In fundamentalen Positionen der Autoren, die vor allem den Ausblick auf die kommenden Jahre und den Ist-Zustand der Gefährdung durch das Virus betreffen, komme ich heute zu einer anderen Einschätzung als noch vor zwei, drei Jahren, als ich mich angeboten hatte, einen Beitrag zum Buch zu verfassen, aber vor allem aus Zeitgründen zurückzog, zugleiche stimme ich aber der gesellschaftskritischen Analyse großteils zu – wenngleich ich mir weniger ideologischen Unterbau erhofft hätte.

Das Virus war nicht mehr auszurotten.

“Der Geist kam nicht mehr in die Flasche zurück.” (zur Beendigung von ZeroCovid in China, Seite 23)

An mehreren Stellen wird kritisiert, man hätte sich darauf geeinigt, das Virus nicht zu eliminieren oder besser zu kontrollieren und stattdessen den Weg der Durchseuchung gewählt [z.b. Seite 10, 14, 23, 65, 68, 82, 102, 110/111]. Ich schließe mich heute der Mehrheitsmeinung der Virologen an, dass ab dem Zeitpunkt, wo das Virus Chinas Grenzen verlassen hatte, eine Auslöschung (Eradikation) nicht mehr möglich war. Die einzige Erkrankung, die man bis heute ausgelöscht hat, sind Pocken (1979). Dank Reiseverkehr (Flugverkehr) und wirtschaftlicher Verflechtungen (siehe China und erste Fälle in Norditalien) konnte sich das Virus schneeballartig ausbreiten. Das Hauptproblem war aber, dass das Virus sehr ansteckend war und übertragen wurde, bevor erste Symptome auftraten. Damit unterschied es sich von SARS-CoV1 und anderen Viren, wo die Viruslast mit den ersten Symptomen am höchsten ist.

Ab dem Moment war mir klar: Das Virus marschiert durch“, sagte Virologin von Laer in einem Interview mit der “Wiener Zeitung” am 23. Mai 2020. Kontrolle und Containment wurden sehr wohl in vielen Ländern angestrebt, mit unterschiedlichen Reaktionszeiten. Österreich vertuschte Ischgl, bis es nicht mehr zu leugnen war und reagierte dann mit einem strengen Lockdown. Andere Länder zogen nach. Mit dem Präventionsparaxodon begannen die Zweifel an den strengen Maßnahmen und die Opposition distanzierte sich von der anfänglichen Zusammenarbeit zur Bekämpfung der Pandemie. Die Regierungen sahen die Wählerstimmen davonschwimmen und weichten die Maßnahmen auf.

Auf Seite 65 behauptet Schuberth, dass die Eindämmung, nicht nur Abschwächung der Pandemie, im späten Frühling 2020 möglich schien, als die Reproduktionszahl in vielen Ländern weit unter eins lag. Er übersieht dabei, dass viele bevölkerungsreiche Staaten nicht mitzogen: USA (vor allem Red States), Brasilien, Indien und (Süd-) Afrika. Über Afrika wurde erst später bekannt, dass sie keine Insel der Glückseligen waren, sondern ebenso unter (hoher) Übersterblichkeit litten. In den angesprochenen Ländern entwickelten sich bald die ersten Fluchtvarianten (Beta in Südafrika, Gamma in Brasilien), aus Indien kam Delta und aus Großbritannien Alpha. Es reichte eben nicht aus, die Pandemie einzudämmen, wenn ein paar Länder, die aber rund ein Fünftel der Weltbevölkerung ausmachten, nicht mitzogen. Alle hätten mitziehen müssen, einschließlich Russland und anderer Schurkenstaaten, auch Osteuropa mit seinem Niedriglohnnniveau und schlechten Arbeitsbedingungen.

Auf Seite 79 schreibt es Schuberth selbst: ZeroCovid oder allgemein Niedriginzidenzstrategien wären bis zur Durchimpfung sinnvoll gewesen, wie in Japan, Neuseeland oder Australien, oder auch einem repressivem Regime wie China. Zur Frage der Ausrottung verweist Schuberth auf einen Kommentar von Wilson et al. 2021. Diesen hab ich selbst am Blog verlinkt, aber offenbar nie richtig gelesen. Wilson et al. führen eben gerade jene erfolgreichen Insel- oder autoritären Staaten an, die oben genannt sind. Auch hier muss ich mich nachträglich korrigieren: Auf Inselstaaten gelingt es viel leichter, Einreisebeschränkungen zu praktizieren als in einem Binnenstaat.

Der Artikel wurde im August 2021 verfasst, während Delta, aber vor Omicron. Zu diesem Zeitpunkt herrschte bereits die im Buch angesprochene Impfstoffungerechtigkeit in Entwicklungsländern. Wilson et al stützen sich wiederum auf einen Correspondence Article von Burioni und Topol (2021), die davon ausgingen, dass das Virus irgendwann eine maximale Übertragbarkeit erreichen würde. Das Virus würde sich dann stabilisieren und eine finale Variante dominieren mit minimalen Veränderungen, worauf man die Impfstoffe anpassen könnte. Ja, der finale Hauptstrang scheint Omicron zu sein (BA*-Varianten), aber die Veränderungen waren und sind dennoch so tiefgreifend, dass ständig neue Impfstoffanpassungen notwendig sind. Diese verhindern temporär Infektionen, aber nicht bei allen, und reichen daher nicht aus, um Herdenimmunität zu erreichen.

Schuberth schränkt selbst ein: “Ob dazu die Voraussetzung eine gänzlich andere ökonomische und soziale Ordnung wäre oder sich das auch alles im Rahmen des Kapitalismus umsetzen ließe, dazu hat sich Rob Wallace im Interview für dieses Buch Gedanken gemacht” (-> [Seite 190ff]) – Rob Wallace ist Marxist, also möglicherweise keine mehrheitsfähigen Ideen in stockkonservativen Ländern mit hohem Rechtswähleranteil, wie in Österreich.

China musste die ZeroCovid-Strategie schließlich mit Omicron fallen lassen. Die Variante war zu ansteckend, um weiterhin strenge Lockdowns zu fahren. Problematisch war offenbar die zu niedrige Impfrate unter älteren Menschen zum Zeitpunkt der Durchseuchung, was nach manchen Schätzungen mehreren dutzend Millionen Menschen das Leben gekostet haben könnte. Offizielle Statistiken gibt es nicht.

Gab es eine Alternative zur Durchseuchung und Endemie?

in der die Bevölkerung mit kluger Kommunikation auf diese “neue Normalität” bis zur Durchimpfung hätte vorbereitet werden können” [Seite 76]

Das sind die Aussagen, wo sich die Autoren bisweilen zu widersprechen erscheinen: Wird eine dauerhafte Alternative gesucht oder hätte man eine Alternative zur Durchseuchung angestrebt, bis die Bevölkerung durchgeimpft war? Letzteres teile ich voll und ganz.

Dass die Politik der – wenn auch durch Impfung und infektionsbedingte Immunität abgeschwächten – unkontrollierten Durchseuchung ableistische und sozialdarwinistische Aspekte aufweist, muss wohl nicht erläutert werden.”

In meinen Augen ein Widerspruch: Durch die Impfung war die Durchseuchung kontrolliert, zumindest hat man sich politisch so gerechtfertigt. Ich geb dem Autor aber dahingehend recht, dass die Impfraten zu niedrig waren und man im Prozess der Durchseuchung trotzdem auf den Schutz der Mitmenschen hätte schauen müssen, etwa durch die Ausgabe von Gratis FFP2-Masken. Wer gefährdet ist, steht den Menschen selten auf der Stirn geschrieben – es sind nicht nur alte Menschen in Pflege- und Altenheimen, wie die Politik ständig Glauben machen wollte.

Der deutsche Intensiv- und Palliativmediziner Matthias Thöns etwa sprach sich ab 2020 gegen die intensivmedizinische Behandlung von älteren Covid19-Patienten aus, u.a. mit dem Argument, dass Überlebende nach der Behandlung oft schwerbehindert seien.” [Seite 95]

Das ganze Interview klingt doch weitaus differenzierter als hier dargestellt (Quelle). Außerdem betraf das die Akutphase zu Beginn, als man noch einen Mangel an Schutzmaterial hatte und nicht wusste, wie man die Patienten effektiv behandeln konnte (siehe Hagen-Beitrag: Auf den Bauch drehen, damit sie leichter atmen konnten).

Es ist aber nicht nur von Durchseuchung die Rede, sondern von Mehrfachdurchseuchung. Das ist meines Wissens kein medizinischer Begriff. Mit Durchseuchung wird ein Zustand beschrieben, in welchem Umfang ein Erreger in der Bevölkerung zirkuliert. Durchseuchung heißt, es wurde Immunität gegen den Erreger aufgebaut, durch Impfung und Infektionen. Reinfektionen sind für Erkältungsviren normal, sie verbreitern das Immungedächtnis gegen den Erreger, aber der Wirt fängt nicht jedes Mal bei Null an. Deswegen spricht man heute nicht mehr von einer (Mehrfach-)Durchseuchung. Deswegen war für Virologe Drosten die Pandemie ab dem Zeitpunkt zu Ende, wo die Bevölkerung nicht mehr immun-naiv war. Das war etwa Mitte 2023 der Fall.

Die Durchseuchung mit Wildtyp bis Delta haben die Schutzmaßnahmen erfolgreich verhindert – hätte man nicht jedes Mal gezögert, sie zu verschärfen, hätten viel mehr Menschen gerettet werden können. Die Durchseuchung begann daher erst mit Omicron, aber bis genügend Menschen immunisiert waren, hat es mehrere Omicron-Wellen gedauert. Erst dann sank die Krankheitslast spürbar und nachhaltig ab. Dass SARS-CoV2 wie die vier saisonalen Coronaviren weiterhin zirkuliert, lässt sich aber nicht verhindern. Das Virus pflanzt sich durch Mutationen fort. Bestenfalls schwächt man die Erkrankung durch einen angepassten Booster ab. Viele Infektionen werden heute auch völlig symptomfrei verlaufen, das heißt, man bekommt gar nicht mit, dass man sich angesteckt hat. Das ist auch bei anderen respiratorischen Virusinfektionen der Fall, die sogar mehrheitlich symptomfrei verlaufen “stille Feiung” (Galanti et al. 2019).

Erhöhen Reinfektionen das Long Covid Risiko?

Die Schlüsselfrage, weshalb nach Alternativen zur Mehrfachdurchseuchung gesucht wird, ist die Aussage, dass Reinfektionen das Long Covid-Risiko erhöhen würden [Seite 64, 70, 110, 129, 130ff., 132]. Leider fehlen zu diesen Aussagen häufig Quellenangaben. Später werden in Zusammenhang mit Folgeschäden bei Kindern vier rezente Studien zitiert (Peng et al. 2025, Zhang et al. 2025, Li et al. 2025, Lind et al. 2025), – allerdings ohne darauf einzugehen, wie die Ergebnisse zu interpretieren sind. Ich habe die letzten Jahre gelernt, dass es meist komplizierter ist als in den Überschriften suggeriert wird. Die Qualität von Studien hängt stark von der Methodik, der Auswahl und Repräsentativität der Studienteilnehmer (Selection Bias) und dem Zeitraum statt, wo die Studien ausgeführt wurden. Bei Peng et al 2025 wurden z.B. nur 19 Kinder untersucht, die statistische Aussagekraft scheint begrenzt – mehr kann ich dazu aber auch nichts sagen.

Epidemiologe Health Nerd, übrigens an anderer Stelle von Schuberth im Buch zitiert, schrieb auf seinem Blog bereits 2023 zur Zukunft von Long Covid. Ein rezentes Preprint fand ein geringeres LC-Risiko nach Reinfektion (Carazo et al. 2025). Das kumulative Risiko steigt, wie bei jeder Virusinfektion allerdings. Oder wie es ein Bekannter, selbst Longcovid-Betroffener, lapidar ausdrückte: “Wenn ich zehn Mal über den Graben hüpfe, falle ich halt beim elften Mal hinein.” Bestenfalls schützt man sich mit regelmäßigen Auffrischimpfungen. Lufthygiene und Maske tragen kann das Infektionsrisiko verringern, wo viele Menschen zusammenkommen – Null Risiko gibt es aber nicht. Immunologe Veldhoen kritisiert wiederholt die genannten Zahlen zur Long Covid Inzidenz, sowohl für Kinder als auch Erwachsene (siehe z.B. diesen Thread mit Beispielen). Ein Umstand, den auch Long Covid Spezialisten selbst wiederholt kritisiert haben: Zu breite Definitionen, bereits vorhandene Symptome vor der Erkrankung werden nicht berücksichtigt, Auswahlkriterien erlauben solche Schlussfolgerungen nicht.

Hagen führt übrigens zwei Artikel an, die zeigen, dass das absolute Risiko nach Reinfektionen sinkt, aber das relative Risiko immer noch zwei Drittel so hoch sind [Seite 48]. Ich war in Statistik noch nie eine Leuchte und glaube, es ist für den Laien schwer zu verstehen, was der Unterschied zwischen relativem und absoluten Risiko ist. Das absolute Risiko ist entscheidend, das relative Risiko vergleicht zwei Gruppen. Für die Aussage “einer von hundert Personen wird erkranken” ist das absolute Risiko heranzuziehen, und das sinkt eben pro Infektion und liegt nurmehr im einstelligen Prozentbereich, bei Kindern im Tausendstelbereich (~ 0,1%), siehe Zhang et al. 2025.

T. Ryan Gregory hätte den Begriff “Slow Covid” für schleichende Verschlechterung der Gesundheit über Jahre hinweg kreiert [Seite 49]

Gregory ist Theorieprofessor und Experte für Spinnmilben. Seit Jahren benennt er neue Varianten mit Nicknames, selbst wenn sie gar nicht zu großen Infektionswellen führen. Medien greifen diese Fantasienamen auf und dichten neue Symptome oder schwerere Verläufe hinzu. Zu “Slow Covid”: Über Jahre hinweg kann man andere Ursachen oder Umweltfaktoren gar nicht ausschließen. Der Beweis is schwer zu führen, dass hinter allem Covid steckt. Ich halte den Begriff für fragwürdig, nach eigener Aussage von Gregory jedenfalls nur eine Hypothese.

An anderer Stelle behauptete Gregory, die schwere Influenzasaison in den USA 2023/204 sei auf Covid-geschwächte Immunsysteme zurückzuführen, ebenso dass gehäufte Zirkulation anderer Pathogene darauf zurückzuführen sei. Mycoplasmen (Lungenentzündung auslösende Bakterien) etwa sorgen alle 1-3 Jahre für Epidemien in Europa (Beeton et al. 2020), zuletzt unmittelbar vor dem ersten Lockdown (Sauteur et al. 2022). Bei Streptokokken zirkulieren unabhängig der Pandemie ebenfalls invasive Gruppen (iGAS), die schwere Verläufe auslösen ((Johannesen et al. 2023).

Die Risiken durch SARS-CoV2 mit anderen, längst normalisierten Lebensrisiken gegenzurechnen, ist nicht nachvollziehbar.” [Seite 88]

Hier würde ich differenzieren zwischen der Periode vor und nach der Impfung. Vor der Grundimmunisierung war es für mich auch absurd, das Risiko einer schweren oder chronischen Erkrankung etwa mit dem Risiko eines Autounfalls gegenzurechnen. Mittlerweile ist das Risiko aber so gering geworden, dass – auch mittel- und langfristig gesehen andere Risiken dominieren, etwa durch die Zunahme an Hitzewellen, die Sparpolitik an der Gesundheit oder, wenn man noch etwas weiterschaut, die Gefahr eines direkten Krieges mit Russland. Es könnte auch das Risiko gegenüber Covid sowie gegen andere impfbare Erkrankungen wieder (weiter) steigen, zumindest in der Gesamtbevölkerung, wenn eine FPÖ-geführte Regierung ab 2030 den Zugang zu Impfstoffen stark begrenzt nach Vorbild Trumps.

Die Bevölkerungsimmunität steigt, sie sinkt nicht.

“Weitere große Wellen sind denkbar. Zu beachten sei die Abnahme des Immunisierungsniveaus.” [Seite 22]

Die Daten zeigen eindeutig, dass die Anzahl der Covid-Patienten mit jeder Welle zurückgeht. Ich würde einmal wohlwollend davon ausgehen, dass Spitalsärzte bei Patienten, die mit akuten Atemwegssymptomen eingeliefert haben, ein genuines Interesse an einer korrekten Diagnose haben. Es macht eben sehr wohl einen Unterschied, ob man einen Influenzapatienten vor sich hat, der etwa mit Tamiflu behandelt werden kann, oder einen Covid-Patienten – wobei eine späte Medikamentengabe weniger effektiv ist als gleich mit den ersten Symptomen verabreicht. Antivirale Medikamente wirken im Frühstadium am besten.

Covid-Hospitalisierungsdaten 2023 bis 2025 (SARI-Dashboard)

Die Abnahme der schweren Verläufe sagt mir als Laien zumindest drei Aspekte der aktuellen Wellen:

  • Sie decken sich mit der Abnahme der Infektionslast in der Bevölkerung.
  • Es treten nicht anteilsmäßig mehr schwere Verläufe auf als vorher, sondern immer weniger.
  • Die Bevölkerungsimmunität nimmt vor allem durch Infektionen bzw. “trotz” Infektionen zu, denn nur rund 10% der Bevölkerung holt sich jährlich den Covid-Booster.

Das widerspricht der Annahme, dass stetige Infektionen das Immunsystem dauerhaft schwächen würden, ebenso widerspricht es der Annahme, dass die Immunität nur kurzlebig sei, sonst würden wir unverändert hohe Infektionswellen sehen. Tatsächlich ist schwer zu quantifizieren, wie häufig sich die Menschen im Durchschnitt noch mit Covid infizieren, aber wir sind deutlich näher an “alle 1-2 Jahre” als an “schon nach wenigen Wochen bis Monaten“. Das zeigt sich auch daran, dass die JN.1-Variante nun seit rund 23 Monaten dominiert – zum Vergleich: Delta war etwa fünf Monate dominant, XBB bereits 11 Monate. Die vor einigen Monaten erstmals detektierte, an mehreren Stellen stark mutierte BA.3.2-Variante hat es noch nicht geschafft, die vorherigen Varianten abzulösen. Das heißt, die Bevölkerungsimmunität ist so breit geworden, dass es neue Varianten immer schwerer haben, sich durchzusetzen. Ansteckungen mit derselben Variante sind extrem selten.

Mir ist das obige Zitat daher von der Aussage her nicht ganz klar. Die Anzahl neutralisierender Antikörper nimmt mit der Zeit wie bei jeder Infektion ab (“waning immunity”) und macht Platz für Antikörper gegen andere Erreger. Daher kommt es regelmäßig wie bei allen Infektionserregern zu neuen Infektionswellen. Doch die T-Zellen-Immunität bleibt erhalten, deswegen sinkt die Anzahl schwerer Verläufe, obwohl die Impfraten deprimierend niedrig bleiben. Sie Anzahl schwerer Verläufe wäre wahrscheinlich nochmals deutlich niedriger, wenn man in der hochvulnerablen Bevölkerungsgruppe eine hohe Impfrate erzielen könnte (Epidemiologe Zangerle führt diesbezüglich z.B. öfter England oder Dänemark an, die deutlich höhere Impfraten bei älteren Menschen erzielen). Hagen erwähnt in seinem Text auch, dass das Risiko für junge Menschen gering sei, der Booster-Effekt sei in dieser Altersgruppe kaum nachweisbar. Deshalb gibt es für sie auch keine Booster-Empfehlung mehr. NIG und Stiko halten sich hier streng an die Datenlage. Dass ein gewisser Schutz vor Long Covid besteht, spielt bei der StiKo keine Rolle, beim NIG wird es zumindest erwähnt.

Ist der Wunsch, ein normales Sozialleben haben zu wollen, illegitim?

„The entire pandemic response has been shaped around accommodating the distress
intolerance of privileged people.“
(LC-Betroffene und Datenanalystin Hannah E. Davis, 07. Mai 2022, Twitter)

Das Zitat von Davis halte ich bis heute für zutreffend und erinnert mich an Reaktionen im Umfeld, wo es bereits als unerträglich gesehen wurde, im Urlaubsflieger eine Maske tragen zu müssen. Solche egoistischen Auswüchse meine ich mit meiner Frage aber nicht, sondern der in meinen Augen legitime Wunsch nach Jahren der Einschränkungen im Sozialleben sich wieder unbeschwerter mit Menschen treffen zu können. Ich konnte dabei in der Pandemie immer nur für mich sprechen, auch wenn ich es oft für andere getan habe – nicht immer lag ich damit richtig. So konnte ich nicht für Eltern mit Kleinkindern oder schulpflichtigen Kindern sprechen, da ich deren individuelle Situation nicht kannte. Ich konnte aber auch nicht pauschal behaupten, dass sich Vulnerable, etwa Krebskranke oder aus anderen Gründen Immungeschwächte alle einsperren würden oder sollten, weil ich im Umfeld mitunter das Gegenteil beobachtete. Das wussten die Betroffene mit ihren eigenen Todesängsten meist selbst, wie sie für sich am besten damit umgingen und wo für sie die Prioritäten lagen.

Als kinderloser Mensch hatte ich einen langen Atem in der Pandemie. Ich war in keinem Verein und vermisste auch sonst regelmäßige, größere Zusammenkünfte nicht. Ich konnte es sehr lange aushalten, Treffen ausschließlich im Freien stattfinden zu lassen und sonst eine Vermeidungstaktik zu fahren (was das für mich persönlich bedeutet hat, dazu in einem anderen Beitrag mehr). Aber damit zählte ich zur Minderheit. Andere hatten gravierende finanzielle Ängste, es gab andere schwere Erkrankungen im Umfeld, oder man erlebte mit dem Angriffskrieg Russlands und der folgenden Flucht und Vertreibung von Millionen Ukrainern hautnah mit, was das für die Betroffenen bedeutete – und die Pandemie aus nachvollziehbaren Gründen in den Hintergrund trat. Mit anderen Worten: Prioritäten wurden unterschiedlich gesetzt und das war legitim, soweit man sich in den Grenzen der Vernunft und Rücksichtnahme bewegte.

Eine beeindruckende, unvorsehbare wissenschaftliche Meisterleistung ging der Entwicklung der Impfung voraus.” [Seite 129]

Beeindruckend und Meisterleistung ja, aber unvorhersehbar? Mit Impfstoffen hatte man schon gegen SARS-CoV1 begonnen und konnte daran anknüpfen (siehe Chronik).

Leider driften die Autoren, wie an vielen Stellen, ins Ideologische ab:

Natürlich erlebten viele Menschen nach dem ersten Lockdown […] die Öffnungen als einen Schritt Richtung Freiheit. Nach dreißig Jahren neoliberaler Indoktrinierung ist es auch nicht verwunderlich, die Rückkehr zum wirtschaftlichen Normalzustand als etwas zu empfinden, das genau den eigenen natürlichen Bedürfnissen entspricht.” [Seite 76]

Natürlich zwangen die Lockdowns – deren soziale Abfederung dürftig war – die Menschen dazu, sich nach einer Rückkehr in den vielleicht verhassten Job als der größtmöglichen Freiheit zu sehnen.” [Seite 119]

Die Impfung ermöglichte es, eine Form der ökonomisch notwendigen Durchseuchung in Angriff zu nehmen,die die Einzelnen nur so weit gefährdet, dass die Arbeitstüchtigkeit der Bevölkerung zumindest kurz- und mittelfristig nicht alarmierend eingeschränkt wird” [Seite 129]

Auch aus Sicht der kapitalistischen Vernunft liegt die Betonung auf Kurz- und Mittelfristigkeit, denn Langzeitprognosen in Bezug auf die Gefährdung durch wiederholte Reinfektionen sind nicht sicher zu geben.” [Seite 129]

Man könnte beinahe den Eindruck gewinnen, dass bedauert wird, dass die Impfung mittelfristig die Notwendigkeit der Kontaktbeschränkungen beendet hat. Die Impfung ermöglichte die Rückkehr in ein normales Sozialleben. Nicht sofort, nicht so schnell wie erhofft mit zwei, dann drei Impfdosen (siehe vierter Lockdown und dann Omicron), aber langfristig gesehen schon. Auch Vulnerable werden und wurden durch die Impfung geschützt, bekommen seltener Long Covid, erkranken viel seltener schwer. Die Impfung entlastete die Spitäler ganz wesentlich, sodass (ältere) PatientInnen mit anderen Erkrankungen nicht mehr fürchten müssen, triagiert zu werden. Es ist also ein Benefit für alle, zu wissen, dass die Gefahr, intubiert zu werden, mit der Impfung deutlich gesunken ist.

Die Pandemie betraf aber nicht nur die arbeitende Bevölkerung, wie hier an zahlreichen Stellen durchklingt, sondern auch Kinder, Studenten, chronisch Kranke, Arbeitslose und Pensionisten. Insbesondere in ländlichen Regionen, wo das einzige Wirtshaus der Gemeinde wochenlang geschlossen blieb und die Sozialkontakte ausblieben, war das ein großes Problem (siehe z.B. diesen Review von Pickering et al. 2023). Ich empfand ebenfalls große Erleichterung, spätestens als ich endlich öffentliche Verkehrsmittel wieder in der Freizeit benutzen durfte und die Bundesgärten ihre Pforten öffneten. Ich war aber auch erleichtert, als wieder so etwas wie Normalität am Arbeitsplatz einkehrte, was auch vom täglichen Schrecken der Pandemie abgelenkt hat. Gleiches gilt wohl für Schulen und Familien und für andere auch.

Handelt es sich um kollektive Verdrängung?

So ist es in der aktuellen Situation einfacher, sich die Gefährdung schönzureden, als es bei relativ geringerer Gefährdung der Fall wäre.” [Seite 70]

Über die aktuelle Gefährdungslage ist Hagen an mehreren Stellen [z.B. Seite 33, 53, 54] eingegangen. Wichtig wären vor allem eine hohe Impfrate, ein niederschwelliger Zugang zu Paxlovid und die Entwicklung von Medikamenten, die auch multimorbiden und immungeschwächten Patienten nützen (Wechselwirkungen!), z.B. Ensitrelvir (Schilling et al. 2025), das in Japan bereits als Xocova zugelassen wurde.

Der Vorwurf des Schönredens mag auf Politiker zutreffen und auf Psychosomatik praktizierende Neurologen, aber nicht zwangsläufig auch auf Privatpersonen. Warum ist das so? Das ist mein wesentlicher Sinneswandel der letzten drei Jahre: Gesundheit besteht nicht nur aus der Abwesenheit von Covid. Gesundheit ist so viel mehr. Soziale Gesundheit. Sozialer Zusammenhalt. Deswegen muss man sich nicht um 180° drehen. Kann und soll weiterhin vorsichtig agieren, aber auch bedenken, was man opfert, wenn man alle Situationen meidet oder bis ins kleinste Detail kontrollieren will, um das Risiko auf Null zu senken. Das ist eine Illusion.

Ich kann das kaum so schreiben, ohne dass sich LC-Betroffene angesprochen fühlen und entgegnen werden, dass man mit der Krankheit, wenn man sie erst einmal hat, auch kein Sozialleben mehr hat. Das ist Abwägungssache, wie man dieses Risiko bewertet im Vergleich zu den anderen Lebensrisiken. Ich spreche hier nicht mehr von den Jahren 2020 und 2021, sondern vom Jahr 2025, wo das absolute Risiko, an Long Covid zu erkranken, verglichen mit Pandemiebeginn deutlich gesunken ist. Es ist eben individuell, wie man Risiken einschätzt – das ist soweit zu tolerieren, wie keine Mitmenschen wissentlich gefährdet werden.

Blogverweise

An mehreren Stellen verweist Schuberth auf meinen Blog (coronafakten.com). Das ist jetzt bedauerlich, dass dieser Blog kommendes Jahr eingestellt wird, aber das ist das Risiko mit Blogverweisen im Gegensatz zu Fachjournalen, Büchern oder Zeitungsartikeln.

  • [Seite 17] In Zusammenhang mit Verschleierung der Infektionsquelle Arbeitsplatz (aktualisierte Fassung auf coronawissen.com)
  • [Seite 94] In Zusammenhang mit Anders Tegnells Rolle bei der Great-Barrington Declaration (Blog-Hinweis, wird aktualisiert, wenn Beitrag auf coronawissen.com übertragen wurde)
  • [Seite 98] In Zusammenhang mit der WHO-Definition und Pandemieende (aktualisierte Fassung auf coronawissen.com) – hätte ich persönlich wohl an den Beginn des Buchs gestellt, bevor man mehrfach von einer noch laufenden Pandemie spricht. Mag aber dem geschuldet sein, dass es erst spät in der Recherche berücksichtigt wurde. In meinem Beitrag zeigte ich die Widersprüche der WHO in der Verwendung ihrer eigenen Definitionen und Direktiven auf, konkret kann die WHO keine Pandemie ausrufen und demzufolge auch nicht beenden. Nach der neuen Definition von “pandemic emergency” (2024) ist SARS-CoV2 schon länger keine Pandemie mehr.
  • [Seite 129] Ein Zitat aus meinem Blogartikel über Omicron. Mein Text bezog sich allerdings auf die frühen Omicron-Varianten im Jahr 2022, nicht mehr auf das Jahr 2025. Warum gehen die schweren Verläufe seitdem zurück? Bis Omicron war die Bevölkerung großteils noch immun-naiv bzw. hatte Antikörper gegen den Wildtyp (durch Impfung oder Infektion). Mit Omicron kam ein neuer Serotyp und stieg die Reinfektions- und Durchbruchsinfektionsrate erstmals deutlich an – bis zu einem Zeitpunkt, wo die Bevölkerung nicht mehr immunnaiv gegenüber Omicron war. Seitdem gehen die Infektionswellen kontinuierlich zurück und nehmen einen saisonalen Verlauf an.

In Österreich zeigt sich das etwa ab Mitte 2023, also zu dem Zeitpunkt, als die WHO den Internationalen Gesundheitsnotstand beendet hat. Die häufigen Wellen in kurzen Abständen waren Geschichte, seitdem gibt es nurmehr ein Peak pro Jahr, der in den Herbst hineinfällt. Im Gegensatz zur Influenza oder RSV ist SARS-CoV2 aber weiterhin ganzjährig aktiv (Ironie der Geschichte, dass meine Erstinfektion in eine Niedriginzidenzphase im Juli 2025 hineinfiel). Wer es aber über den Sommer schafft, wo man sich ohnehin mehr im Freien aufhält oder gut lüften kann ohne Murren der Mitmenschen, kann den Herbstbooster in Anspruch nehmen, bevor die nächste Welle kommt.

In Asien ist der Mutationsspielraum des Virus noch anders als in Europa, weil sie dank der strengen Kontaktbeschränkungen viel weniger Infektionen vom Wildtyp bis Delta durchgemacht haben. Daher verbreiteten sich bestimmte Varianten dort sehr gut, in Europa dafür weniger (z.B. XBB.1.16, NB.1.8.1, BA.3.2).

Zusammenfassung

Meine Analyse hier ist keine klassische Rezension, weil ich auf viele, durchaus gelungene Aspekte des Buchs gar nicht eingehe, sie auch gar nicht beurteilen kann. Ich finde z.B. die umfangreichen Passagen zum Umgang mit Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen hervorragend recherchiert, die sozialdarwinistischen Züge in der Akutphase der Pandemie sehr gut herausgearbeitet. Auch die Texte zu MECFS und den Versorgungsnotstand (siehe Wolfgang Hien, Seite 216ff und Dania Alasti, Seite 241ff) finde ich aus Sicht eines Laien, der 2020 erstmals von MECFS gehört hat, nicht nur gelungen, sondern auch von großer Wichtigkeit – auch im Hinblick auf die starke Dominanz von Psychosomatikern in den Neurologie-Gesellschaften von Deutschland und Österreich, die immer wieder Fortschritte in der Anerkennung und Versorgung von MECFS-Betroffenen blockieren. Dazu können aber andere, die viel länger mit der Materie befasst sind, mehr in die Tiefe gehen als ich, der aus Zeitgründen schlicht damit aufhören musste, täglich stundenlang zu recherchieren. Mit den häufigen Verweisen auf Marx und Engels in einigen Texten und der teilweise umständlichen Sprache konnte ich ehrlich gesagt weniger anfangen, aber ich bin auch Naturwissenschaftler und kein Geisteswissenschaftler. Eine Rezension kritisierte ebenfalls die “individuellen Schreibstimmen” der Autoren und mangelnde Verständlichkeit statt komplizierter Formulierungen. Wenn man sich daran nicht stört, findet man immer noch genügend wichtige und gut geschriebene Texte.

Meine obige Analyse betrifft vor allem den Umgang mit der Pandemie ab 2022 und den Ausblick, wo ich meine Meinung teilweise an neue Erkenntnisse angepasst habe – nicht einmal zwingend neuartige Erkenntnisse, sondern Fachartikel und Kommentare, die ich jahrelang ignoriert oder verdrängt habe, weil sie nicht in mein Weltbild passten. Das ist vielleicht zugleich auch mein Appell an andere, die nicht vom Fach sind: Es ist meist komplizierter als es scheint, und es ist durchaus legitim, etwas mit Fragezeichen zu formulieren – das gilt ganz besonders für die Medizin und seine Teilbereiche Virologie, Epidemiologie und Immunologie. So würde eine zu hohe Long Covid-Anzahl, die alleine dadurch zustande kommt, dass die Symptome sehr breit gefasst werden und fragwürdige Methodik eingesetzt wird, letztendlich den Betroffenen schaden, weil so keine vernünftigen Therapieansätze zustande kommen können, wenn die Ursachen der Symptome teilweise von anderen Erkrankungen stammen und mit den experimentellen Therapien oder Medikamenten nicht weggehen. Klare Definitionen sind hier sehr wichtig, wie man auch beim Beispiel PEM und aktivierender Reha sieht (Schiweck et al. 2025).

Meine Analyse betrifft weniger bis gar nicht die Politik vor 2022, wo ich zahlreiche Kritikpunkte teile und sehr viel Verbesserungspotential sehe. Es war zugleich auch der jeweiligen politischen Konstellation geschuldet, dass einfach nicht mehr gegangen ist. Mit einem rechtspopulistischen ÖVP-Kanzler Kurz, der nur seine eigene Agenda gefahren ist, war kein Staat (geschweige denn eine Pandemie) zu machen, und mit den Grünen hielt leider viel Esoterik Einzug. Auch die Opposition war durch die Bank schwach. Aber das wäre eine eigene Analyse wert.

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