Wie schlimm wird die Herbstwelle?

Der Trend zeigt auf niedrigem Niveau weiter nach oben, liegt aber bereits über der Sohle vor der DELTA-Welle im Herbst 2021. (Quelle)

Wir sind im Blindflug. Für eine gute Surveillance durch Abwassermonitoring bräuchten wir 200 Anlagen in Österreich, wir haben nur 48, die rund 58% der Bevölkerung abdecken. Die Karte der Abwasseranlagen zeigt, dass die Ballungsräume zwar gut abgedeckt sind, aber etliche Touristenregionen fehlen, sowie einige Hochburgen von Rechtsextremen und Coronaleugnern bzw. Impfgegnern. In Tirol gibt es die Anlagen zum Glück einzeln verfügbar, bis auf Ostttirol – da stechen insbesondere Stubaital und Seefeld immer wieder heraus, auch in Vorarlberg gibt es aufgeschlüsselte Daten. Wien hat Proben der Zentralkläranlage mit 100% Abdeckung, Tirol erfasst über 90%, Dornbirn liefert seit Mitte Juli keine Daten mehr.

Seit letzter Woche gibt es jeden Dienstag die Anzahl der stationären Krankenhausaufnahmen mit SARI-Diagnosen im neuen SARI-Dashboard: Covid19 wurde also zum “schweren Atemwegsinfekt” degradiert, was nachweislich falsch ist, weil es sich um eine systemische Entzündung der Gefäße handelt. Damit findet also schon einmal eine Verharmlosung von Covid19 statt. Das Dashboard hat aber noch weitere Probleme:

  • die Daten der letzten zwei Wochen sind unvollständig
  • Covid, Influenza und RSV sind keine meldepflichtigen Erkrankungen
  • In der 29. Kalenderwoche betrug der Anteil “sonstige Atemwegsinfekte” 94%, die Aussagekraft ist also gering
  • bis Covid-Infizierte so krank werden, dass sie ins Spital müssen, vergehen Tage bis zu einer Woche nach der Infektion, darauf dann 2-3 Wochen verzögerte Nachmeldungen: ca. 1 Monat Zeitverlust

Sowohl mit Abwassermonitoring als auch SARI-Dashboard haben wir keine vernünftigen Frühwarnindikatoren. Da können wir nur (nicht) reagieren, wenn bereits viele Menschen krank sind.

Ungünstige Ausgangslage

  • weiterhin großer Medikamentenmangel, übrigens auch in Deutschland (Stand 13.08.23)
  • In Deutschland fürchten Kinderkliniken den Notstand, weil sie aktuell schon überlastet sind. In Österreich wissen wir es nicht, aber warum sollte es besser sein? Ärzte- und Pflegemangel gibt es überall.
  • niedrige Impfraten bei Auffrischimpfungen und bei Influenza und keine Werbung für Auffrischimpfungen abseits vulnerabler Gruppen und für Kinder im Gegensatz zum US-amerikanischen CDC, das die angepassten Impfstoffe für alle ab 6 Monaten aufwärts empfiehlt.
  • keinerlei Maßnahmen oder Bewusstsein für einfachste Maßnahmen
  • weniger Prävention als VOR der Pandemie: es gehen mehr krank zur Arbeit als vorher und in Spitälern werden keine Masken mehr getragen, nicht einmal bei Geburten
  • Der Flug- und Reiseverkehr hat nahezu das Niveau vor der Pandemie erreicht, dadurch können neue Varianten frei zirkulieren.

Sonst verläuft alles wie die letzten Jahre: Im August und Anfang September häufen sich die Covid-Fälle bei Reiserückkehrern, gleichzeitig finden noch Großveranstaltungen und Hochzeitsfeiern statt. Mit Schulbeginn verteilen die Kinder das Virus in die anderen Haushalte. Im Herbst verteilen Erwachsene durch Schulungen, Konferenzen und an schlecht gelüfteten Arbeitsplätzen das Virus ebenfalls in die Haushalte.

Wie gefährlich ist EG.5.1?

Am 19. Juli stufte die WHO EG.5.1. als “Variant of Monitoring” ein, seit 09. August als “Variant of Interest”. Die letzte “Variant of Concern” (VOC) war DELTA. Weshalb EG.5.1 wahrscheinlich keine VOC wird, hat die zuständige Task Force der WHO bereits bei XBB und BQ.1 begründet: Der Phänotyp unterscheidet sich nicht von anderen OMICRON-Linien und erfordert keine gesonderte Maßnahmen der Öffentlichen Gesundheit (WHO, 27.10.22).

In den Medien wird das gemeinhin so interpretiert, dass neue Varianten “harmlos” wären, “keine besondere Gefahr” bedeuten würden oder “die breite Immunisierung der Bevölkerung” weiterhin gut schützen würde. Aber ist das so? Zudem: LongCOVID spielt in der Berichterstattung keine Rolle.

Eine differenzierte Einschätzung kommt von Wissenschaftsjournalist Lars Fischer:

Covid-19 ist nach wie vor eine der gefährlichsten Infektionskrankheiten. Es gibt zwar tödlichere Seuchen, aber Sars-CoV-2 kann sich sehr schnell und weit verbreiten und ist dabei ein ganzes Stück gefährlicher als vergleichbar ansteckende Erreger. Das Virus macht viele Menschen ernsthaft krank, verursacht – sowohl individuell als auch gesellschaftlich – erhebliche Kosten und Einschränkungen und hat erschreckend oft ernste Langzeitfolgen von Fatigue bis Diabetes.

Im Moment erscheint deswegen so viel ungewiss, weil wir grad in so ner Art Twilight Zone sind. Die pandemische Situation selbst liegt zwar hinter uns, das Tempo der Erkenntnisse rund um Sars-CoV-2 hat rapide nachgelassen, und damit auch die mediale Berichterstattung. Aber Covid ist eben nicht vorbei. Und das langfristige Verhalten des Virus und unser Umgang damit sind aber noch nicht klar zu erkennen“.

Steigende Corona-Zahlen, neue Varianten und das Impf-Update (12.08.23)

EG.5.1. zeichnet sich gegenüber XBB.1.5. durch zwei zusätzliche Spike-Mutationen (F456L, Q52H) aus, insbesondere die Mutation 456L bewirkt erst einen Wachstumsvorteil, seit die Bevölkerung mit XBB.1.5/1.16 durchseucht wurde. Was wieder einmal zeigt: Durchseuchung beendet keine Pandemie, sondern verlängert sie.

Der Experte für Computerbiologie Cornelius Roemer gibt leichte Entwarnung, was die intrinsische Gefahr anbelangt, die von EG.5.1. ausgeht. Bisherige Daten (Kaku et al. 2023, preprint) zeigen, dass EG.5.1. weder infektiöser noch immunflüchtiger als vorherige Varianten ist. Sie breitet sich daher viel langsamer aus als etwa ALPHA, DELTA oder BA.1. Der Wachsumsvorteil reicht nicht aus, um aus eigenen Antrieb Wellen zu produzieren, es braucht weitere Faktoren wie nachlassender Immunschutz, Verhaltensänderungen, saisonale Faktoren. Das könnte man als einen Hinweis Richtung saisonales Virus betrachten.

Beunruhigender ist hingegen das Ergebnis, dass XBB-Durchbruchsinfektionen keine effektive Antikörperantwort mehr gegen XBB-Subvarianten aufbauen können. Erstmals hatte man das bei BA.1 festgestellt:

We found a significantly smaller rise of neutralization titers associated with milder Omicron breakthrough infection in vaccinated individuals, to only approximately one-third of the rise associated with boosting.“

aus Servellita et al. (2022)

Mit den aktuellen XBB-Varianten scheint das “waning” aber noch schneller zu gehen und die Immunität noch kurzlebiger anzuhalten. Was in der öffentlichen Debatte aber so gar keine Rolle spielt, obwohl es entscheidend für den Pandemieverlauf ist, sind die Kinder:

Nach einer OMICRON-Infektion entwickeln nur etwa ein Fünftel Antikörper, deutlich weniger als bei den vorherigen Varianten (Heinzel et al. 2023). Sie sind nicht in der Lage, ein adaptives Gedächtnis zu entwickeln, um sich gegen eine weitere Infektion zu schützen. (Khoo et al. 2022) . Wiederholte Infektionen schwächen jedoch das Immunsystem und sorgen für ein anhaltendes LongCOVID-Risiko. Wir wissen, dass Kinder OMICRON besser übertragen verglichen mit früheren Varianten (Zhu et al. 2022), und dass sie bei OMICRON die treibende Kraft waren, vor allem bei offenen Schulen (Goldstein 2022). Zahlreiche weitere Haushaltsstudien, aber auch Studien in Kindergärten und Schulen haben gezeigt, dass Kinder und Jugendliche selbstverständlich Teil des Infektionsgeschehens sind (Manica et al. 2022, Van Iersel et al. 2022, Park et al. 2023, Tseng et al. 2023, Kremer et al. 2023). Es gibt also keinen Grund zu glauben, dass im Herbst keine Cluster in Kindergärten und Schulen mehr entstehen.

Wie gut schützt die Impfung noch?

Da hängt es stark davon ab, ob man nur schwere Verläufe und Todesfälle berücksichtigt, oder auch akkumulierte Schäden durch LongCOVID.

Bei den Antikörpermessungen unterscheidet man zwischen neutralisierenden Antikörpern (nAbs) und binding antibody units (BAU). Letztere sind bei den üblichen Titermessungen für die Allgemeinbevölkerung am Befund angegeben. Neutralisierende Antikörper sind variantenspezifisch und fallen mit neuen Varianten oft stark ab. Die Binding Antibodies bleiben hingegen stabil und sind ein zuverlässiger Indikator für das Sterberisiko. Je höher, desto geringer die Sterblichkeit. Immunsupprimierte Menschen (Immundefekte und Krebserkrankungen) können oft keinen effektiven Immunschutz nach der Impfung aufbauen und haben nach wie vor das höchste Sterberisiko neben älteren Menschen. Da die BAU mit jeder Impfung wieder erhöht werden, spricht das auf alle Fälle für eine Auffrischimpfung (Vikström et al. 2023).

Wenn man hingegen LongCOVID berücksichtigt, dann zeigt sich wiederholt, dass wir eine “Vaccine plus strategy” brauchen, denn von 3fach geimpften Personen entwickeln rund ein Fünftel LongCOVID, wobei Frauen, ältere Menschen, Vorerkrankte häufiger betroffen sind (Woldegiorgis et al. 2023, preprint).

Von den neuen angepassten Impfstoffen erwartet man sich einen effektiveren Immunschutz, weil erstmals der Wildtyp nicht mehr enthalten ist, sondern nur noch die XBB.1.5-Variante, von der sich EG.5.1 nur wenig unterscheidet. Zweifelstimmen gibt es aber auch: Wenn XBB-Infektionen kurzlebigere Immunität erzeugen, warum sollte das mit der Impfung anders sein?

Reale Entwicklung:

Der allgemeine Trend geht auf der Nordhalbkugel nach oben. Verlassen kann man im Grunde nur auf Abwassermonitoring. In den USA gibt es starke Anstiege im Mittleren Westen, bei Hospitalisierungen auch im Süden (Bericht). In Italien steigen die Todesfälle erneut an, 2,5fache Zunahme in 2 Wochen. In New York haben sich die Einweisungen auf der Intensivstation verdoppelt.

Spitalseinweisungen wegen Covid19 nach Altersgruppen in New York City – Stadtgebiet (Quelle)

In New York nehmen die Hospitalisierungen dramatisch zu, leider auch bei Kindern. Bei Japan zeigen sich diese Anstiege schon länger. Auch dort herrscht nicht unbedingt Winterwetter.

Steigende Hospitalisierungen bzw. Todesfälle kann man zurückrechnen auf eine (hohe) Dunkelziffer. Und von den Gesamtzahlen kann man die Zahl der LongCOVID-Fälle abschätzen, die hinzukommen werden. DAS sollte uns beunruhigen, aber nach wie vor spielt Prävention keine Rolle.

“Ich hab gerade mit meiner Freundin telefoniert, die wegen Covid seit drei Wochen krank ist und ihr Entwarnung gegeben. EG.5.1. sorgt nur für verhältnismäßig wenig schwere Fälle und eine flachere Welle als frühere Varianten. Sie ist gegen Tod weiterhin sehr gut geschützt und soll sich nicht weiter beunruhigen. Eine weitere Impfung wäre ihr sowieso nicht empfohlen worden ohne Risiko.”

Ein fiktiver Text, der die Absurdität von Pauschalaussagen zu den Auswirkungen weiterer Covid19-Erkrankungen aufzeigt. Für den/die Einzelnen und deren Angehörige bleibt LongCOVID und in der chronifizierten Form MECFS das Damoklesschwert über einem lebenswerten Leben. Es gibt keine Impfempfehlungen mehr für “gesunde” Menschen, wobei sich angesichts der vielfachen Durchseuchung die Frage stellt, wie viele Menschen heutzutage mit noch unentdeckten Folgeschäden herumlaufen, und man überhaupt noch von “gesund” sprechen kann. Wie das hervorragende ZiB2-Interview mit Prof. Hoffmann am 09. August gezeigt hat, kann man LongCOVID nicht ignorieren.

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