Kolumne 06/12: Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorne?

Regelmäßige Wandertouren in der Natur geben mir Kraft.

Das vierte Pandemiejahr geht zu Ende. Die Zukunft war auch schon mal besser. Die kollektive Verleugnung der neuen Realität mit SARS-CoV2 als ständigen Begleiter scheint irreversibel. Im Herbst 2024 stehen Nationalratswahlen in Österreich an – bis dahin geht beim Thema Prävention und bessere Versorgung für Langzeitbetroffene nichts weiter. Aber selbst danach sieht es bei den zu erwartenden Mehrheitsverhältnissen nicht danach aus, als ob man große Sprünge in Richtung generelle Schutzmaßnahmen erwarten darf.

Ich hab noch nicht aufgegeben, auch wenn es durch die Standhaftigkeit, weiterhin FFP3-Maske zu tragen und Indoor-Veranstaltungen zu vermeiden zu ständigen Reibungsverlusten kommt – unbedingt förderlich ist es für den Job auch nicht. Mittlerweile beschäftige ich mich aber seit 3 Jahren und 9 Monaten intensiv mit der Pandemie und seinen multiplen Folgen. Jene, die einen jetzt belächeln, ignorieren oder gar mobben, weil man immer noch Maske trägt, werden nicht dieselben sein, die später zur Stelle sind, wenn man von der Infektion Spätschäden davonträgt. Ich kenne die sozialen, finanziellen und gesundheitlichen Langzeitfolgen und weiß, dass der Sozialstaat auf diesem Auge blind ist. Darum versuche ich weiter, die Infektion zu vermeiden und meinen Impfstatus aktuell zu halten. Gleichzeitig verliere ich all jene nicht aus den Augen, die nicht auf der Straße stehen können und laut für ihre Rechte kämpfen, weil sie durch SARS-CoV2 oder einen anderen viralen Infekt zu schwach oder bettlägerig geworden sind. Sie sind darauf angewiesen, dass die noch Gesunden oder “leichter” Betroffenen laut werden. Statt wegzuschauen.

Virusevolution 2023 und Ausblick

Mehr Infektionen führen zu mehr Virusvarianten, die durch Immun Escape und ACE2-Bindung für weitere Infektionswellen sorgen. Wir spielen Russisch Roulette damit, eine weitere Variante wie Delta zu kreieren (Credits Abbildung: T. Ryan Gregory, Evolutionsbiologie)

Nach einer schweren Influenzawelle im Dezember 2022 sind wir mit einer XBB.1.5-Welle in den Winterausklang gestartet. XBB breitete sich zu Jahresbeginn von Singapur und den USA her nach Europa aus. Österreich reagierte mit einer Testpflicht für chinesische Touristen, nachdem dort zuvor alle Schutzmaßnahmen aufgehoben worden waren. “Das Chinavirus” wurde verantwortlich gemacht, denn in Österreich sei die Lage ja völlig stabil, wurde behauptet.

Meine Befürchtung vom 19. März 2023, dass danach eine große XBB.1.16-Welle über uns hinwegfegen könnte, ging leider viral, die angekündigte Variante zum Glück nicht. Die aufgebaute Kreuzimmunität gegen XBB* durch vorhergehende Infektionen mit BA.5 und anderen XBB-Varianten sorgte für ein kontinuierliches Abflachen der Welle zum Sommer hin. Den Wiederanstieg im Juli 2023 hatte ich hingegen korrekt prognostiziert. Verantwortlich dafür war eine neue XBB-Variante (EG.5.1.), die durch zwei Mutationen (F456L und Q52H) mehr Immunflucht generierte.

Die Sommerwelle nahm aber nur langsam an Fahrt auf und bescherte eine trügerische Sicherheit für das Gesundheitsministerium und seine Regierungsberater, die seit dem Ende des Internationalen Gesundheitsnotstands durch die WHO am 5. Mai 2023 nurmehr vom Pandemieende redeten. Mitte August wurde die Variante BA.2.86 (“Pirola”) erstmals sequenziert, eine Woche später tauchte sie bereits auf drei Kontinenten auf. Sie unterschied sich durch 24 Spike-Mutationen von EG.5.1, verbreitete sich aber dennoch nur langsam. Molekularbiologe Elling erklärte das so, dass Pirola entstand, um die BA.2-Immunität zu umgehen, nicht die vorherrschende XBB-Immunität. Die Anpassung geschah jetzt erst mit weiteren Fluchtmutationen. JN.1 erfüllte diese Prophezeiung mit der Fluchtmutation L455S und wurde innerhalb von zweieinhalb Monaten weltweit dominant – die schnellste Dominanz seit BA.5. Mit Stand Dezember sorgte JN.1 in vielen Ländern, darunter Österreich, Deutschland, Niederlande, Kanada für die höchsten Abwasserwerte seit Pandemiebeginn – wenn auch nicht als einzige Variante, sondern in Anwesenheit mehrerer potenter XBB-Nachfahren.

Am 30. Dezember konstatierte die WHO eine 35%ige Zunahme an Hospitalisierungen im Dezember. Unklar blieb, ob der relative Anteil gestiegen war, was auf eine pathogenere Variante hinweisen würde, oder ob es die schiere Menge an Neuinfektionen war. In Berlin mussten 10% der Intensivpatienten an die Lungenmaschine (ECMO), in Straßburg wurden mobile Krankenstationen aufgebaut, in Italien kollabieren die Notfallabteilungen. Die altersstandardisierte Sterblichkeit blieb in Österreich bisher (Stand Ende Dezember 2023) aber noch deutlich unter den Vorjahren.

Wie geht es weiter? Viele Infektionen begünstigten viele weitere Varianten. Besonders immungeschwächte Personen können über viele Monate oder Jahre neue Varianten ausbrüten, etwa durch das HI-Virus geschwächte Patienten in Afrika. Das betont einmal mehr, wie wichtig Impfgerechtigkeit weltweit gewesen wäre, um besonders vulnerable Personen zu schützen, und damit auch uns. Stattdessen gehen wir den umgekehrten Weg: Gar kein Schutz und besonders viel Gelegenheit für das Virus weiterzumutieren. Es sind bereits weitere Nachfahren von BA.2.86 entstanden und auch eine Rekombination aus EG.5.1 und BA.2.86. Weitere Infektionswellen werden von nachlassender Immunität und neuen Varianten getrieben. Saisonale Faktoren können helfen, müssen aber nicht, wie die Infektionswellen auf der Südhalbkugel derzeit zeigen. Die unterirdische Impfquote in Österreich mit weniger als 10%, die den XBB-Booster erhalten haben, lässt keine Verbesserung der Bevölkerungsimmunität in Österreich erwarten. Auffrischimpfungen verbessern nämlich auch nach einer Infektion den Schutz, indem sie die CD8+-T-Zellen vermehren – das gilt auch für Kinder.

Im neuen Jahr wird die SARS-CoV2 bis Ferienende und darüber hinaus erst einmal weiter abflachen, während Influenza deutlich zunimmt und auch RSV. Auch Doppelinfektionen sind möglich. Die Kombination aus kürzlicher Covid-Infektion und Influenza sorgt derzeit auch bei jüngeren Menschen ohne Risikofaktoren für tendenziell mehr schwere Verläufe. Ob sich dann erneut eine JN.*-Welle aufbauen kann, ist noch ungewiss. Hope for the best, prepare for the worst!

Das Jahr des Pandemierevisionismus

Das Motto der österreichischen Regierung: Prepare for the hope, ignore the worst!

Als ich um den letzten Jahreswechsel mit zwei prominenten GesundheitsvertreterInnen Gespräche führte, wollte ich nicht glauben, als sie mir sagten, dass es im kommenden Jahr noch viel schlimmer kommen sollte. Zwei Wochen später trat bereits der Alptraum ein: Am 14. Jänner kündigten Bundeskanzler Rauch und Gesundheitsminister Nehammer an, alle Corona-Verordnungen bis spätestens Sommer 2023 auslaufen zu lassen. Mit Verweis auf einen ECDC-Report vom Jänner 2023, der XBB.1.5 als harmlos betrachtete, sollte die Meldepflicht ab Juli abgeschafft werden. Die Maskenpflicht sollte auch im Gesundheitswesen fallen und Gratistests nurmehr bei Symptomen durch den Hausarzt veranlasst werden.

Das kam dann auch genauso. Ironischerweise fand zwei Tage später das Weltwirtschaftsforum Davos unter strengsten Covid-Sicherheitsvorkehrungen statt, mit Tests, Masken, Luftreinigern, Far-UVC-Luftdesinfektion.

Der sogenannte “DavosStandard” war fortan ein geflügeltes Wort für engagierte Vertreter sauberer Indoorluft. Die Berichterstattung zum DavosStandard hielt sich sehr in Grenzen, man könnte auch Zensur dazu sagen.

Im September zeichnete sich bereits ab, dass es im Laufe des Winters zu einem Mangel des antiviralen Medikaments Paxlovid kommen würde. Die Impfaktion mit dem angepassten XBB-Booster lief nur schleppend an, es gab zu wenig Impfstoff und keine Impfkampagne mehr. Aufklärung sollte durch Hausärzte erfolgen, die dafür aber nicht mehr bezahlt wurden. Schutzmaßnahmen: Fehlanzeige. Dafür bereits Ansteckungen in Spitälern und Rehaeinrichtungen am laufenden Band. Ein Desaster mit Ankündigung.

Der im Frühsommer aktualisierte Pandemieplan für respiratorische Viren erwies sich als klarer Rückschritt und basiere auf falschen Schlussfolgerungen, teils faktisch falschen Aussagen. Im November stiegen die Hospitalisierungszahlen an und es wurde deutlich, dass viele ältere/vulnerable Personen weder den Booster noch Paxlovid erhalten hatten. In den Altenheimen starben viele leise, da nicht mehr getestet wurde. Mit Dezember zeichnete sich dann ein akuter Paxlovidmangel ab. Das Gesundheitsministerium hatte die Höhe der Winterwelle unterschätzt und zu wenig bestellt, gab aber Ärzten und Apothekern die Schuld, sie hätten Medikamente zu leichtfertig hergegeben und zudem verschlampt. Tatsächlich war schon seit dem Frühjahr geplant, dass ab Februar 2024 die Österreichische Gesundheitskasse die Beschaffung bezahlen sollte. Der Bund hat bis dahin nichts mehr nachbestellt. Die ÖGK geht von jährlich 30 Millionen Euro Kosten für Paxlovid aus, das entspricht mickrigen 42800 Packungen. Es wurde bereits angekündigt, dass sie nurmehr nach positivem Test abgegeben würden dürften. Ein positiver Heimtest zählte dann nichts mehr.

Wie mehrfach auf diesem Blog und auf coronafakten.com erwähnt, wurde die Versorgung der LongCOVID-Patienten weitgehend eingestellt, alias Anlaufstellen wie entsprechende Ambulanzen nacheinander geschlossen, obwohl es sehr wohl noch Bedarf gab. Ein Rundmail in Österreich an entsprechende Einrichtungen ergab, dass manche Ambulanzen von der Behandlung von Lungenschäden nach schweren Verläufen ausgingen, die glücklicherweise abnahmen, womit aber nicht das “klassische” LongCOVID gemeint war, also Fatigue, Belastungsintoleranz und Verschlechterung von Grunderkrankungen. Die verbleibenden Spezialisten sind weiterhin heillos überlastet, angekündigt wurde von Rauch lediglich ein Referenzzentrum für Betroffene, was aber nicht gleichbedeutend mit einem Kompetenz- und Behandlungszentrum ist. MECFS-Betroffene wurden ebenso im Regen stehen gelassen.

Ein Lichtblick war die Pressekonferenz der Initiative Gesundes Österreich (IGÖ), die am 15. Dezember auf die Missstände in Schulen aufmerksam machten und welchen volkswirtschaftlichen Schaden das ungebremste Durchlaufen von Infektionswellen auf Dauer machen würde. Darauf meldete sich Andreas Babler erstmals seit seiner Wahl zum SPÖ-Vorsitzenden zu Wort und forderte Luftreiniger für alle Kindergärten und Schulen. Ein Armutszeugnis, dass es dafür einen ehrenamtlichen Verein als Auslöser gebraucht hat. Viel Rückhalt hat Babler dafür leider nicht, am wenigsten in vielen Gewerkschaften, obwohl der ÖGB in seinem 5-Jahres-Programm explizit Luftreiniger in Bildungseinrichtungen fordert und weitere Schutzmaßnahmen.

Abschließende Worte ….

Es geht nur mühsam voran. Um ein paar wenige Personen davon zu überzeugen, dass es sinnvoll ist, sich und andere zu schützen, braucht es viele Monate. Die Unterstützung hält sich dabei sehr in Grenzen. Persönlich enttäuscht haben mich am meisten die direkten Vertreter wie Gewerkschaften und Betriebsräte, aber auch Behindertenvertreter und NGOs bleiben stumm. Es ist letztendlich klar, dass nur gesetzliche Regeln, an die sich alle zu halten haben, für den entscheidenden Fortschritt sorgen. Eigenverantwortung wird mit eigener Freiheit gleichgesetzt. Hinzu kommen diverse Verdrängungsmechanismen, worüber ich kürzlich gebloggt habe.

Zwei Freunde im engeren Umfeld waren (und sind teilweise) dieses Jahr von Langzeitfolgen betroffen. Das hat mich zum Jahresbeginn ziemlich niedergeschlagen. Die Ankündigung der Regierung, alle Schutzmaßnahmen aufzuheben, hat mir dann den Rest gegeben. Gleichzeitig war das Verständnis dafür, dass ich mich immer noch schützen wollte, am Tiefpunkt angelangt. Bis dato blieb ich recht resilient gegen alle Rückschläge, aber jeder Mensch hat einen Punkt, an dem er zerbricht.

Meine beste Waffe gegen durch Aussichtslosigkeit hervorgerufene Depressionen ist bis heute die Ansammlung von Wissen und dessen Einsatz in der Praxis. Ich messe regelmäßig CO2 mit meinem Aranet4 in Innenräumen und kann daher auch bisher zutreffend entscheiden, wann das Risiko gering genug ist, um fallweise die Maske abzusetzen. Mobile Luftreiniger stehen zuhause und in der Arbeit, da war die mühsame Aufklärungsarbeit letztendlich erfolgreich, aber das ist nur die erste Etappe – denn mein früheres Leben hab ich verloren. Das bestand nicht nur aus Arbeiten und in der Freizeit Fachliteratur lesen und verbloggen. Ich vermisse die sozialen Anlässe sehr, werde aber nie gefragt, warum ich so oft ablehne. Auch die zunehmende Gleichgültigkeit in den letzten Jahren gibt sehr zu denken, die Wurschtigkeit, bei Symptomen nicht zu testen, nicht zuhause zu bleiben, keine verdammte Maske zu tragen, was das Mindeste wäre. Zugleich weiß ich, dass es zu meinem Weg keine Alternative gibt. Das Risiko von Spätfolgen steigt mit der Anzahl der Infektionen. Eine ausgelassene Hausparty ist es nicht wert, deswegen chronische Gesundheitsfolgen zu entwickeln – schon gar nicht bei gewissen Vorerkrankungen und in Anbetracht eines maroden Gesundheitssystems, das nicht mehr in der Lage ist, zeitnahe und sichere Versorgung zu bieten.

Also bleibt für mich nur der Weg, weiterzumachen. Alleine oder mit Gleichgesinnten.

One thought on “Kolumne 06/12: Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorne?

  1. Für mich unschätzbar wertvolle Informationen! Herzlichen Dank dafür und für die Offenheit über die persönliche Betroffenheit. Das spricht mich sehr an! Ich bin gesund, aber 70 Jahre alt und finde: Die meisten Kontakten sind nicht das Risiko wert, den Rest eines guten Lebens zu verspielen. Aber es isoliert und damit klarzukommen, ist wirklich nicht leicht.

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