Darf man Drosten widersprechen? Kolumne 17/07 – Update, 22.08.

Für mehrere Jahre ein fester Begleiter im Alltag interessierter Bürgerinnen und Bürger war der NDR-Podcast zur Pandemie mit Korinna Hennig und Christian Drosten (später auch Sandra Ciesek)

Ich habe meine Geschichte schon öfter erzählt: Ende Jänner 2020 kehrte ich von einer Kur zurück, absichtlich mit Twitterfasten. Im Februar war mein Kopf noch woanders und im März kam die Pandemie wie eine Wand und erwischte mich kalt. Bei anderen Twitter-Nutzern begann die Pandemie viel früher, weil sie sich bereits über Twitter informierten, als ich lediglich die Öffentliche Berichterstattung verfolgte. Erst holte ich mir die Infos von Dr. John Campbell, einem Lehrer für Krankenschwester, der über Youtube aktuelle Daten und erste Fachartikel erläuterte. Er bewegte sich leider früh außerhalb der Evidenz (vor allem zur angeblichen Wirkung von Vitamin D) und wechselte 2021 endgültig ins Schwurbeleck (“Audience capture is a worse disease than covid.”). Damit blieb der Podcast mit Drosten über viele Monate meine wichtigste Quelle. Ich habe nicht alle Folgen gehört oder im Transkript gelesen, insbesondere im Verlauf der Pandemie wurden die Folgen immer länger und mir fehlten Zeit und Muße, alles nachzulesen.

Wie kennzeichne ich das hier? Ich werd das durchstreichen, was ich heute anders sehe.

Die wichtigsten Meilensteine habe ich wohl mitbekommen: Er entwickelte den ersten PCR-Test, um SARS-CoV2 nachzuweisen. Es gab eine klare Warnung vor einer Pandemie von Beginn an, ebenso im April 2020 die Warnung vor einer schweren Winterwelle vor hunderttausenden Zuschauern in der ZiB2. Drosten sprach bereits im April 2020 davon, dass auch Aerosol-Übertragung eine Rolle spielen könnte und revidierte seine anfängliche Skepsis gegenüber universeller Maskenpflicht. Drosten ließ keine Unklarheiten aufkommen, was die Rolle der Kinder betraf. In epischer Länge besprach er Studien, wonach Kinder ähnlich hohe Viruslasten wie Erwachsene hatten und demzufolge ähnlich ansteckend sein konnten. Es ließ nie Zweifel daran, dass Kinder eine Rolle im Infektionsgeschehen spielen würden. In späteren Beiträgen sprach er erstmals die breite Desinformation in den Medien an, unter dem Begriff PLURV bekannt. Ohne den NDR-Podcast hätte ich nie von PLURV gehört und die Methoden in meine Faktencheck-Routine aufgenommen! Drosten nahm kein Blatt vor dem Mund, was er von focused protection der rechtslibertären Great-Barrington-Declaration-Vertreter hielt: Nichts. Alle diese Punkte sind in seinen NDR-Podcasts nachzulesen.

In Ungnade bei einem Teil der Anhänger seiner Erklärungen fiel Drosten, als es zunehmend um das Thema Long COVID und das Ende der Pandemie ging. Zu Long COVID äußerte sich Drosten oft sehr vorsichtig oder gar nicht, während er das Pandemieende mehrmals über die Medien ankündigte, dabei aber missverstanden wurde. Heute versammelt Drosten eine sehr heterogene Gruppe an Followerschaft unter sich: Pandemieleugner, die ihm alles Schlechte und noch Schlimmeres wünschen, weil sie ihn als Sündenbock für die “Einschränkung der Grundrechte” Schutzmaßnahmen der deutschen Bundesregierung ansehen, dann sind da die treuen Gefolgsleute, die unkritisch jede Aussage übernehmen, weil der renommierte Virologe habe schließlich immer Recht, und dann enttäuschte Podcasthörer, die über seine Aussagen, dass man sich jetzt endlich infizieren müsse, um langlebige Schleimhautimmunität zu erhalten, nachhaltig verstört wurden. Schließlich gibt es noch Menschen wie mich, die sich an die Schlussfolgerungen der Wissenschaftskommunikatorin Mai Thi Nguyen-Kims halten, die sie in ihrem bedeutenden YouTube-Beitrag zum Thema Experten und wie man diese erkennt, getroffen hatte: Evidenz vor Eminenz und Achtung vor dem Nobelpreisträger-Syndrom.

Kein Wissenschaftler ist sakrosankt

Was mir damals noch nicht so klar war: Der Umstand, dass Drosten als Experte für Coronaviren galt und auf Deutsch referierte, machte ihn noch nicht sakrosankt. Es gab andere Experten auch – weltweit – und auch Expertinnen, die wesentliche Eckpfeiler der Pandemie wie Aerosol-Übertragung, ansteckende Kinder oder LongCovid schon deutlich früher artikulierten. Natürlich gab es von Beginn an Zweifler und Verharmloser wie Streeck und zumindest anfangs auch Kekulé, die das Ausmaß und den weiteren Verlauf der Pandemie herunterspielten. Früh trennten sich die Lager in Team NoCovid und “Schwedischer Weg”, ab Herbst 2020 “Great Barrington”. Die einen wollten die Inzidenz drücken, bis die Bevölkerung durchgeimpft war, anfangs noch mit der Hoffnung, Herdenimmunität zu erreichen. Die anderen gaben vor, Risikogruppen aus dem Infektionsgeschehen herausnehmen zu können (“focused protection”), während die “gesunde” Mehrheit so weiterleben konnte wie vor der Pandemie. Völliger Schwachsinn, dessen Umsetzung der Strategie hunderttausende Menschen in Großbritannien, Schweden, Brasilien und Indien zum Opfer fielen – orchestriert durch den schwedischen Epidemiologen Anders Tegnell, der den “Schwedischen Weg” in diese Länder verkaufte. Auch Trump übernahm diese Strategie. Später übernahmen alle Länder bis wenige Ausnahmen, vor allem im pandemieerfahrenen Asien, diese Strategie und ließen das Virus durchrauschen – in der Hoffnung, Geimpfte und Infizierte würden am Ende mit der breiten Immunität die Pandemie beenden. Omicron beendete jedes Wunschdenken auf ein frühes Pandemieende: Mit BA.1/BA.2, BA.5, BQ, XBB, EG.5 und JN.1 kamen weitere Wellen im Abstand von wenigen Monaten, saisonal unabhängig und in der Höhe unterschiedlich. Heute ist die Frage, ob wir das Pandemieende schon hinter uns haben, mehr eine akademische, aber keine soziale mehr.

Öffentliche Risikokommunikation ausbaufähig

Folgende Aufzählung ist nicht vollständig. Follower aus Deutschland werden möglicherweise empört aufschreien, dass ich nicht jedes Interview wiedergebe. Meine Zeit ist allerdings auch begrenzt, daher beschränke ich mich auf die wesentlichen Interviews, so ich ihre Tragweite korrekt in Erinnerung habe.

05. September 2021 (Delta-Welle)

“Ich will eine Impfimmunität haben und darauf aufsattelnd will ich dann aber durchaus irgendwann meine erste allgemeine Infektion und die zweite und die dritte haben. Damit habe ich mich schon lange abgefunden.” (NDR-Podcast)

09. November 2021 (Delta-Welle)

Drosten stellt klar, dass die Schulen auch nach “vorheriger Einbindung von Wissenschaftlern aus anderen Bereichen” und nicht nur aus der Virologie und Epidemiologie geschlossen worden wären. Zudem hätten sie gar nicht gesagt, dass Schulen geschlossen werden müssten. Es wurde auf die Erfahrung in der Spanischen Grippe 1918 in Philadelphia verwiesen, wo man die Schulen später als in St. Louis geschlossen hate und es zu deutlich mehr Todesopfern kam. Ihre Empfehlung damals war, lokale Schulschließungen umzusetzen und nicht bundesweit. Die PCR-Diagnostik war in Deutschland schon frühzeitig flächendeckend vorhanden und es wäre möglich gewesen, lokal zu reagieren. Es gab dann aber eine Dynamik über alle Bundesländer hinweg.

In der zweiten Welle war die Situation eine ganz andere. Wir hatten eine hohe Infektionsdichte, viele Menschen waren bereits gestorben. Die Schulschließungen haben die zweite Welle gestoppt. Die Schulen waren das Zünglein an der Waage.

“Die Inzidenz niedrig zu halten ist eine gute Idee, das war die “No Covid”-Strategie.”

Dieses Virus wird endemisch werden. Wir können es auf keinen Fall wegimpfen, weil wir nicht die ganze Weltbevölkerung impfen können. Und bald kommen auch Immun-Escape-Varianten, gegen die die Impfung nicht mehr wirkt. Darum müssen wir bewusst in die endemische Phase eintreten. […] England ist nun in einer Nachdurchseuchungsphase, die seit dem Spätsommer anhält. Diese natürlichen Infektionen bauen den Gemeinschaftsschutz auf. […]

Drosten verglich es mit saisonalen Coronaviren, wo man sich auch alle eineinhalb Jahre eines von vier Coronaviren holen würde. Auf Basis einer Impfimmunität müsse man bei SARS-CoV2 auch in diesen Modus kommen.

“Und dann erleben wir später wahrscheinlich noch eine zweite oder dritte natürliche Infektion. Irgendwann ist auch unser Schleimhautschutz so belastbar, dass wir als Gesellschaft ganz gut immunisiert sind.”

(Die Zeit)

26. Juni 2022 (BA.5-Welle)

“Auf gar keinen Fall sollte man sich absichtlich infizieren! Man sollte das weiterhin so gut es geht vermeiden, auch wegen des Risikos von Long Covid.”

Bis der endemische Zustand erreicht sei, könne es schlimmstenfalls “noch einige Winter” dauern. Es stimme nicht, dass ein Virus im Laufe der Evolution automatisch immer harmloser werde. Im Interview bereute Drosten seinen Ausstieg aus dem Sachverständigenausschuss des Bundestags. Langfristig sei es unvermeidbar sich anzustecken. Nach und nach bilde sich dann ein schleimhautspezifischer Schutz, der die Bevölkerungsimmunität insgesamt belastbarer mache.

Im Jänner (2022) habe Drosten noch dem Spiegel gesagt, dass der endemische Zustand mit Jahresende erreicht sei. Er habe das an einer konsequenten politischen Linie festgemacht, an Pandemiebekämpfung, wirksamen Booster-Impfstoff und dass sich das Virus nicht mehr groß verändern würde. Der endemische Zustand sei erreicht, “wenn immer weniger Menschen die Pandemie im Alltag spüren.” Durch das Auftreten von Omicron wolle er sich korrigieren, er rechne nicht mehr damit, dass die Pandemie bis Jahresende vorbei sein würde.

Die Schleimhautimmunität sei ausgeprägter, wenn das Virus tiefer in die Lunge komme. Da die ersten Omicron-Varianten aber vermehrt die oberen Atemwege befielen, war auch die Immunität gegen Ansteckung weniger ausgeprägt und Reinfektionen nahmen zu.

Ich begebe mich zwar nur selten in riskante Situationen, aber ich bin auch nicht übermäßig vorsichtig. Ich gehe wieder auf Dienstreisen und ins Restaurant, und wenn ich in einer größeren Gruppe stehe, in der keiner eine Maske trägt, dann ziehe ich auch keine an. Ich will ja nicht Dr. Strange sein. Aber ich versuche immer, Rücksicht zu nehmen: Wenn in einer Bäckerei zum Beispiel eine Kundin eine Maske trägt, dann setze ich auch eine auf, sie könnte ja Risikopatientin sein.”

(Die Zeit, DerSpiegel)

23. November 2022 (BA.5 und konvergente Varianten)

Anzahl der Aminosäure-Mutationen der wichtigsten Varianten: Deutlicher Sprung mit Omicron-Varianten (BA.1-5), Rekombinanten (XBB) und BA.2.86 (JN.1), aus Subissi et al. (2024)

“Kurzfristig glaube ich nicht, dass eine wirklich böse Überraschung kommt. Das Virus kann an vielen Stellen in seiner Evolution nicht mehr ohne Weiteres zurück. Es ist ein wenig festgefahren und optimiert gegenwärtig nur nach – wobei es, das traue ich mich jetzt zu sagen, in unmittelbarer Zukunft wahrscheinlich auch etwas von seiner Virulenz opfern muss.”

Wahrscheinlich wird das Virus erst mal beim jetzigen Serotyp bleiben – und wir werden einen lang anhaltenden Schutz haben. Erwachsene stecken sich dann viel seltener an.”

(Die Zeit)

27. Dezember 2022 (Welle konvergenter Varianten)

Nach meiner Einschätzung ist die Pandemie vorbei.”

“Derzeit bekommen Immunologen Befunde, die suggerieren, dass diese Alterung des Immunsystems bei Kindern nach Coronainfektion viel fortgeschrittener ist, als man es erwarten würde. Man kann sich nun zugespitzt fragen, ob ein ungeimpftes Kind nach Infektion vielleicht mit 30 das Immunsystem eines 80-Jährigen haben wird. Die Durchseuchung der Kinder wäre dann ein riesiger Fehler gewesen. Das wäre ein extremes Szenario, das man aber mit erwägen muss. Allerdings haben wir keine Infektionskrankheit so gut erforscht wie Sars-Cov-2. Gut möglich, dass es sich bei anderen Infektionen auch so verhält und das Phänomen nach zwei, drei Jahren verschwindet, weil gerade junge Kinder noch naive Immunzellen nachproduzieren können. Wir wissen all dies noch nicht. Ich hatte aus Vorsicht immer für die Impfung und den Infektionsschutz von Kindern plädiert.”

(Der Tagesspiegel)

21. April 2023 (nach der XBB.1.5-Welle)

Nach Ansicht von Drosten gebe es eine bevölkerungsweite Immunität und daher sei die Pandemie vorbei. Omicron sei aber nicht mild.

Was uns in die bessere Situation bringt, ist die Impfung insbesondere und dann die Möglichkeit, auf dem Boden der Impfung uns endlich infizieren zu können, ohne zu sterben.”

Die Hybrid-Immunität aus Impfung und Infektionen würde perfekt vor schweren Verläufen schützen. Das Pandemie-Ende lasse sich nicht vorab ankündigen, man könne dies nur im Nachhinein – also nach dieser Welle – betrachten. (ÄrzteZeitung)

04. Oktober 2023 (beginnende JN.1-Welle)

Ich bin dreimal geimpft und habe mich zweimal infiziert. Und ich bin nicht in dem Alter, in dem ich schon an ein erhöhtes Risiko denken müsste. Zum Selbstschutz würde ich keine Maske mehr tragen.”

(Die Zeit)

14. Dezember 2023 (JN.1-Welle)

„Ich trage im Moment keine Maske, weil ich auch nicht suggerieren möchte, dass jemand, der das nicht tut, was falsch macht. Gesunde Menschen müssen sich mal infizieren, „um in diesen Modus zu kommen, dass wir uns alle paar Jahre infizieren, wie mit anderen Erkältungsviren auch“, sagt er. Das Coronavirus muss ein normales Erkältungsvirus werden.”

(NOZ)

18. Dezember 2023 (JN.1.-Welle)

Drosten vertraut auf sein Bauchgefühl, dass die Krankheitsschwere von SARS-CoV2 über einen Zeitraum von etwa 10 Jahren weiter abnimmt, er sieht aber Parallelen zu den saisonalen Coronaviren.

(Deutschlandfunkradio, 06:33 Min)

25. Juni 2024 (KP.3 und andere-Welle)

Anzahl der stationären Aufnahmen wegen SARS-CoV2, Influenza und RSV in der Wintersaison 2023/2024, Quelle: SARI-Dashboard, visualisiert von @zeitferne, 25.06.24

Aber wir haben zum Beispiel immer noch viele neue Long-Covid-Fälle, dieses Risiko scheint auch bei wiederholten Infektionen bisher noch nicht deutlich weniger zu werden. Ich bin zuversichtlich, dass das noch besser wird, aber hier kann man aktuell noch nicht sagen, dass das Virus ganz harmlos geworden ist.

Dafür lässt er mit einer Aussage zu Long COVID aufhorchen. Das Risiko sei auch durch Reinfektionen noch nicht signifikant gesunken, sagt er.

(DerStandard)

07. Juli 2024 (weiterhin KP.3 und CO-Welle)

“Ja, es ist vorbei als Pandemie. Wir erwarten im Moment eine Sommerwelle in ganz Europa und auch in anderen Teilen der Welt. Noch gelingt es bestimmten Varianten besonders gut, der Immunität zu entkommen. Daher sind wie zurzeit eben Sommerwellen noch möglich. Später wird das für das Virus wohl nur noch im Winter funktionieren. Dennoch: Die Krankheit ist in ihrer Spitze begrenzt durch die breite Immunität in der Bevölkerung. Wir wissen nicht ganz genau, wie häufig ein Erwachsener eine Infektion haben muss, um diese dann gar nicht mehr zu bemerken. Im Moment scheint das noch nicht zu reichen. Viele Leute haben jetzt so zwei, drei oder sogar vier Infektionen hinter sich. Und trotzdem werden sie immer noch krank, wenn sie so eine Variante bekommen. Viele haben noch ein bisschen Fieber und fühlen sich allgemein sehr krank. […] Wir sind jetzt da, wo viele das Virus am Anfang der Pandemie gerne gehabt hätten: bei einer normalen Influenza ungefähr. […]”

(NTV)

Interpretation

Virologe Drosten ist im deutschsprachigen Raum einer der bekanntesten Experten zur Pandemie, aber nicht der einzige. Isabelle Eckerle, Florian Krammer, Judith Aberle, Björn Meyer, Michael Mina, Raina MacIntyre, Michael Osterholm, Aris Katzourakis, Eric Topol, Christina Pagel, Kathryn Hoffmann, u.v.a. sind weitere Ärzte und Wissenschaftler, die sich in der Pandemie durch sachlich orientierte Analysen hervorgetan haben.

Zweifellos hat es Drosten mit Pandemiebeginn und in den ersten zwei Jahren geschafft, einen wissenschaftsorientierten Diskurs in die oftmals emotional aufgeheizte Debatte um Schutzmaßnahmen hineinzubringen. Umso bitterer, dass sein Nachfolger im Sachverständigenausschuss der Pandemieleugner Klaus Stöhr wurde, der durch despektierliche Aussagen wie hier auffiel:

Letztlich betrifft eine Atemwegspandemie wie Corona hauptsächlich die Vulnerablen – also diejenigen, die näher am Ende stehen als andere.” (NZZ, 13. Juli 2022)

Spekulativ hat Drosten mit der Erkenntnis, welches Ei sich die Bundesregierung damit gelegt hatte, seinen Ausstieg bald wieder bereut. Naturgemäß hat ein weiterer Pandemieverharmloser, der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, den Nachfolger Stöhr ausdrücklich befürwortet.

Drosten hat bereits in früheren Interviews genauso argumentiert wie jetzt beim NTV-Interview von 2024, dass es nur darum gegangen wäre, die Infektionszahlen gesamtgesellschaftlich zu drücken, entweder über geschlossene Schulen oder über stärkere Beschränkungen am Arbeitsplatz. Eine entweder-oder-Frage, die sich in meinen Augen so nicht gestellt hat, denn Schulen sind nun mal DIE Superspreader-Orte für das, was Drosten in einem Podcast von 2020 als Perkulationseffekt beschrieb. Das Virus verteilte sich über die 25-30 fremde Haushalte pro Klasse in die Gesamtbevölkerung und rauschte durch – wie bei anderen Infektionskrankheiten, die über Aerosole übertragen werden. Der Schlüssel der Infektionsbekämpfung konnte daher nur sein, die Schulen (und Kindergärten*) sicherer zu machen – nicht über Tests, sondern über echte Präventivmaßnahmen.

* Kindergärten: Der beste Schutz ist, die Hintergrundinzidenz niedrig zu halten (Hoehl et al. 2020), dann gibt es weniger Übertragungen. Das Ergebnis der deutschen KITA-Studie 2022 war, dass Kindergartenkinder Kontaktpersonen anstecken können. Kleinkinder ohne Symptome tragen wesentlich zu Ansteckungen im Haushalt bei (Funk et al. 2024, bis BA.2-Welle). Übertragungen im Kindergarten verhindern ist aufgrund des oftmals engen Kontakts beim Spielen ungleich schwieriger. Am effektivsten wären wahrscheinlich Luftreiniger mit Ultravioletter Strahlung (Far-UVC 222nm), die Pathogene in der Luft noch effektiver als klassische HEPA-Luftfilter entfernen können).

Er argumentiert hier wie viele, die den Schutz der Gesamtheit über den Schutz des Einzelnen stellten. Hätte man die Schulen nicht geschlossen, sondern nur Arbeitsstätten stärker geschützt oder geschlossen oder Homeoffice-Pflicht verhängt, hätten die Kinder das Virus von der Schule kommend trotzdem in sämtliche Haushalte verteilt. Über Gesundheitspersonal und pflegende Angehörige wäre es zu den älteren Jahrgängen durchgereicht worden und trotzdem viele Tote und Schwerkranke verursacht. Es hätte auch viele vulnerable Angehörige, die mitten im Leben stehen, und vulnerable Kinder infiziert, die bis Delta noch häufiger an MISC erkrankt sind.

Das ist nicht der Weg von Public Health, der sozial gerechte Schutzmaßnahmen vorsieht – worauf in der Pandemie leider großteils geschissen wurde. In Anlehnung an die Flussparabel, wo die Medizin damit beschäftigt ist, Menschen vor dem Ertrinken zu retten, fahndet Public Health nach den Ursachen, errichtet Sicherheitsvorkehrungen, fördert die Selbstkompetenz der Menschen, indem sie ihnen das Schwimmen beibringt, sodass sie sich auch ohne fremde Hilfe aus den Fluten befreien kann (Danke an Kathryn Hoffmann für den Hinweis)

Drosten wurde wie viele Wissenschaftler, die eine beratende Funktion für führende Minister eingenommen haben, zur Projektionsfläche für den ganzen Hass und Frust von Pandemieleugnern und all jenen, die mit der Pandemiepolitik der Bundesregierung unzufrieden waren. In Österreich war es vor allem die Virologin Dorothee von Laer, die während der Alpha-Welle in Tirol, wo zudem die Escape-Variante Beta (mit E484K) aus Südafrika eingebracht wurde, einen tirolweiten Lockdown forderte. Bei der patriotischen Bevölkerung (“bisch a Tiroler, bisch a Mensch, bisch ka Tiroler, bisch a Oaschloch”) fiel die gebürtige Deutsche sofort in Ungnade, erhielt ständig Drohungen, musste Perücke im Alltag tragen und wanderte zeitweise ins Burgenland aus. Diesen Herbst wird sie in den Ruhestand treten.

Drosten hielt früh daran fest, dass wir nach genügend “natürlicher” Infektionen so eine stabile Immunität aufgebaut hätten, dass Corona zur Erkältung werden würde. In vielen Interviews wurde er zu Long COVID nicht befragt oder wollte keine Antwort geben. Das erscheint etwas billig angesichts dessen, was zu den Spätfolgen bereits bekannt ist. Das ist nun wirklich keine Raketenwissenschaft auf ein, zwei Übersichtsstudien zu verweisen und dass selbst bei konservativer Einschätzung Spätfolgen ein signifikantes Problem für Öffentliche Gesundheit und Volkswirtschaft darstellen, und Reinfektionen, wie er neulich zugeben musste, dieses Problem weiter aufrechterhalten.

Drosten hält nun weiterhin daran fest, dass wir unbedingt diese wiederholten Infektionen brauchen, bis das Virus zur Erkältung wird. Das steht in direktem Widerspruch zu seiner Aussage vom 26. Juni 2022, wonach kein Automatismus existiere, wonach das Virus immer harmloser werden würde. Er selbst ist mindestens zwei Mal infiziert (ich glaube, bereits drei Mal, finde aber die entsprechende Interviewpassage nicht mehr) und könnte am Normalcy Bias leiden – eine kognitive Verzerrung, die zur Verharmlosung von Gefahren führt – eine Katastrophe und deren Folgen, die einen selbst betreffen könnte, wird unterschätzt. Emotional ist es viel einfacher, die Fakten einfach auszublenden, um sich besser zu fühlen und weniger Angriffsfläche zu bieten. (Danke für CollapseMax auf X für diesen Gedankenanstoß)

Um die Frage im Titel aufzugreifen: Darf man Drosten widersprechen? Man muss es sogar, würde ich sagen, aber ich würde dabei an alle Kritiker appellieren, sachlich zu bleiben, keine ad hominem Angriffe. Die bekommt er schon genug. Damit erreicht man gar nichts. Aber der Umstand, dass er sich hier verrannt zu haben scheint, macht seine restlichen Verdienste in der Pandemie deswegen nicht obsolet, diskreditiert ihn deswegen nicht als Experten.

Infektiologe Franz Allerberger, Ex-Leiter der Öffentlichen Gesundheit der AGES in Österreich am 12. Februar 2020 bei einem Vortrag auf der Uni Salzburg, versus Drosten im NDR-Podcast vom 08. Juni 2021: Kein Rassismus von Drosten, sondern Austausch mit chinesischen Wissenschaftlern auf Augenhöhe. Das betont er auch gleich zu Beginn seines mit Georg Mascolos geschriebenen Buchs “Alles überstanden?”

Wissenschaftlicher Dissenz ist völlig normal, nur wird er selten in der Öffentlichkeit zwischen den unterschiedlichen Positionen selbst ausgetragen. Viel ist Medieninszenierung, Suggestivfragen und Weglassen unbequemer Wahrheiten – wie Spätfolgen (LongCOVID und MECFS) von Corona-Infektionen, die im Jahr 2024, über vier Jahre nach Ausbruch der Pandemie, weiterhin nicht den Stellenwert in den Medien einnehmen, den sie angesichts der Prävalenz in der Bevölkerung verdienen.

Wir sollten nicht in präpandemische Denkmuster verfallen, die die Influenzagrippe über Jahrzehnte nach dem Ende der Spanischen Grippe heruntergespielt haben. Niedrige Impfraten mit jährlich mehr oder weniger gut funktionierenden Boostern, hingenommene tausende Tote jährlich durch die Influenza, obwohl es viele gelinde Maßnahmen wie Maske tragen in Infektionswellen und saubere Luft in Innenräumen geben würde, um hohe Opferzahlen zu verhindern. Wenn es jetzt also – selbst von Drosten – heißt, dass Corona am Stand einer “normalen Grippe” angekommen sein würde – dann bedeutet das schlichtweg, dass wir eine ganzjährig zirkulierende, weitere schwere Infektionskrankheit neben (sic!) der Grippe haben, die entsprechend mehr Opfer erzeugt als vor der Pandemie.

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