Tag 23: Zuckerbrot und Peitsche

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Stadt im Dornröschenschlaf, Mittwoch, 01.04.2020

Heute hab ich gelernt, dass es mindestens eine große Verlierergruppe durch die Maskenpflicht gibt, die man nicht berücksichtigt hat, und zwar jene mit einer Hörbehinderung, die vorwiegend durch das Lippen lesen kommunizieren können. Die Lippen bzw. das Mundbild sieht man künftig praktisch nicht mehr.

Die Ansage von Gesundheitsminister Anschober im Nationalrat klang positiv: Zuwachsrate der Neuinfektionen heute (bisher) nur 4%, die Maßnahmen haben also gewirkt. Außerdem seien die Intensivkapazitäten nur zu 50% belegt, es besteht also noch viel Luft nach oben. Die aussagekräftigeren Statistiken vom ORF zeigen, dass die Zahl der Hospitalisierungen und Belegung der Intensivbetten nur noch langsam ansteigt. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Genesenen deutlich zu. Laut Anschober stehen in 1-2 Wochen flächendeckende Antikörpertests zur Verfügung.

Kogler spricht bereits davon, dass man ab kommender Woche allmählich einen Plan zur Lockerung der Maßnahmen ausrollen könne, beginnend mit dem Handel. Tourismusbetriebe bleiben hingegen noch länger gesperrt – die Luftfahrtbranche bleibt stark betroffen, selbst wenn im Inland wieder Reisefreiheit herrscht, nicht zuletzt auch wegen unterschiedlicher Entwicklungsstadien der Pandemie in anderen Ländern.

Immer wenn gute Nachrichten verkündet werden, die Hoffnung machen, dass die Bewegungsfreiheit irgendwann gelockert werden kann, muss die Law-and-Order-Partei ÖVP einen gegenteiligen Eindruck erzeugen. Am Montag suggerierte Kurz noch, dass das Gesundheitssystem kurz vor einem Kollaps stünde und deswegen alle Masken tragen müssen, erst in Supermärkten, dann im gesamten öffentlichen Raum. Diese Kritik an der Kommunikation äußert auch Florian Aigner, seinem Twitterprofil nach Physiker, Autor, Wissenschaftserklärer. Kolumnist (futurezone & Kurier), Skeptiker (GWUP, Gesellschaft für kritisches Denken), Wissenschaftsredakteur (TU Wien).

Vor wenigen Tagen kündete Kurz noch die Rückkehr zur “neuen Normalität” an, ein vielsagender Begriff, der vor allem Unsicherheit und Angst ausdrückt.

Heute schreibt er diesen Tweet:

Die Rückkehr zur Normalität wird verbunden sein mit Begleitmaßnahmen. Zum Ersten mit dem Schutz der Risikogruppen & besonders gefährdeten Menschen. Zum Zweiten durch einen Kulturwandel: Abstand halten & Masken tragen! Und zum Dritten: Containment durch Tracking & Testungen.

Weder gibt es bisher eindeutige (!) Vorschriften, wie das Masken tragen vonstatten gehen soll, also keine offiziellen, für jenen einsehbaren Regelungen, welche Masken mehrfach getragen werden dürfen, wie man sie reinigen soll, wie lange sie getragen werden dürfen, bis man sie wechseln muss und was Brillenträger tun können, um zu verhindern, dass sie durch die Mund-Nase-Schutzmaske schasaugert werden. Es gibt auch keine wissenschaftlich nachvollziehbare Informationen darüber, wie sinnvoll es ist, Masken – unter Wahrung des Abstands bzw. alleine – in der Öffentlichkeit zu tragen, also beim Spazieren, Joggen, Radfahren, insbesondere in Parks und vielleicht irgendwann in Gärten. Das mag bei den winterlichen Wetterverhältnissen der letzten 3 Wochen kaum eine Rolle gespielt haben, aber ab kommenden Sonntag zeichnet sich eine längere frühlingshafte Wärmephase ab, mit Temperaturen zum Teil deutlich über 20 Grad. Viel Spaß mit den Masken im Freien!

Noch ist klar, wie das Tracking umgesetzt werden soll. Im Mittagsjournal von OE1 gab es dazu heute einen interessanten Beitrag über eine durch europäische Zusammenarbeit entwickelte Trackingapp, die ohne Bewegungsprofile funktioniert, vollständig anonymisiert, ohne Zuweisung einer ID wie die App des Roten Kreuzes. Sie funktioniert ebenfalls über Bluetooth und warnt, sobald eine infizierte Person den Sicherheitsabstand von zwei Meter unterschritten hat. Sie basiert auf Freiwilligkeit.

Sehr empfehlenswert die FALTER-Podcast-Folge vom 02. April von Raimund Löw, zu hören sind die Juristin und Nationalratsabgeordnete Agnes Sirkka Prammer (Grüne), die ehemalige Präsidentin des obersten Gerichtshofes Irmgard Griss (Neos), Bundesheer-Sprecher Michael Bauer sowie FALTER-Chefredakteur Florian Klenk. Zu Klenk kann man stehen ,wie man will, seine Argumente klangen dort jedenfalls schlüssiger vorgetragen als in seinen Tweets oder selbst in den Kommentaren im FALTER selbst.

Zurück zu meinem privaten Mikrokosmos: Heute wird der Balkon frühlingsfit gemacht und einiges an Müll ist rauszutragen. Mein Ro ist weiterhin kleiner eins, denn meine letzte Begegnung mit einem Abstand unter zwei Meter und mehr als zehn Minuten Gespräch war am 15. März im Büro. So ich mich nicht durch Zufallsbegegnungen im Freien oder während dem Einkaufen infiziert habe, dürfte ich negativ sein – oder immun, aber ohne Antikörpertest werde ich das nie erfahren.