Was ist zeitgemäß? In Österreich herrschen da teilweise recht verquere Ansichten. Immer noch wird auf Großraumbüros gesetzt, obwohl längst bewiesen wurde, dass dies die Konzentrationsfähigkeit behindert und die Kreativität stört. Es werden flexible Arbeitszeiten verlangt, Freizeit und Arbeit verschwimmen durch die ständige Erreichbarkeit via Smartphone und Tablet. Der klassische Feierabend ist auch ausgestorben. Früher ist man im Anschluss auf ein Bier gegangen, heute will jeder schnellstmöglich nach Hause. Ich bevorzuge es dabei immer, die lästigen Einkäufe gleich am Nachhauseweg zu erledigen. Bei 12-Stunden-Diensten geht es nicht anders. Mit Feierabend um 19.00 und Rückfahrtzeit von 30-40min geht es sich mit den regulären Öffnungszeiten vieler Supermärkte bei mir aber nicht mehr aus, ich bin dann notgedrungen beim überdimensionierten Interspar, auf den jeden Abend ein regelrechter Run stattfindet. Als Mensch mit Reizfilterschwäche (Geräusche, Bewegungen) ist das Einkaufen oft eine erhöhte Belastung. Da schaue ich schon mit Wehmut nach Deutschland, wo in vergleichbaren Großstädten wie Wien Supermärkte bis 22.00 Uhr, manchmal sogar bis Mitternacht offen haben. Da ist das Einkaufen zu später Stunde deutlich entspannter. Mitternacht fände ich persönlich jetzt auch übertrieben, 22.00 wäre schon leiwand.
Die ersten sechs Jahre hab ich in Innsbruck verbracht, da wunderte ich mich über die Öffnungszeiten, es störte mich als Student aber nicht weiter. Ich freute mich auf Wien, weil ich dachte, in einer Großstadt würde es wohl anders sein. Falsch gedacht. Und die 19.15 Ladenschluss galten nicht mal am Papier, denn um 19.00 wurde oft schon keiner mehr hereingelassen. Die nächste Enttäuschung war die UNO-City mit den vielen Bürogebäuden. Am Wochenende waren die Kantinen geschlossen und auch nicht mehr alle Bäckereien offen. Sonntags hatte überhaupt alles zu. Für Wochenend- und Feiertagsarbeiter gibt es dann nichts mehr. Außer den Praterstern, bei dem an Sonn- und Feiertagen regelmäßig riesige Schlangen an den Kassen entstehen. Durch einen solchen Ansturm kam ich einmal gute zehn Minuten zu spät in den Spätdienst, als ich mir nur eine Jause kaufen wollte und schlicht unterschätzte, dass viele Kunden ihren normalen Wocheneinkauf am Sonntag erledigen wollten.
Die Regelungen für Sonntagsöffnung sind nicht immer nachvollziehbar. An den großen Knotenpunkten – Franz-Josef-Bahnhof und Praterstern – ist das vollständige Sortiment vom BILLA zugänglich. An den anderen Bahnhöfen, wie Wien-Mitte, ausgerechnet auch am Hauptbahnhof, dagegen nur der Interspar Pronto, eine ohnehin schon verkleinerte, verschachtelte Variante eines SPAR-Marktes, die sonntags einen Teil ihres Sortiments auch noch absperren muss. Dort einzukaufen ist eine Zumutung, ohne Körperkontakt geht es sich nicht aus. Am Hbf kommt hinzu, dass es getrennte Kassen für Getränke und Lebensmittel gibt, d.h., man muss zwei Mal anstehen, wenn man beides benötigt. Einen größeren Schwachsinn hab ich noch nirgends gesehen. Zum Glück gibt es auch ein paar türkische Bäcker und 24-Stunden-Bäckereien in Wien, sodass man für Grundnahrungsmittel ausweichen kann.
Vor 10 Jahren hat die Öffnung bis Mitternacht in Deutschland begonnen, sie wurde gut angenommen, sonst würde sie nicht noch heute bestehen.
Wer arbeitet sonn- und feiertags eigentlich? Ein signifikanter Anteil in der Bevölkerung, vor allem im Dienstleistungssektor sowie in der Medizin, Pflege und Rettung.
- Pflegepersonal
- Ärzte und Krankenschwestern
- Polizei, Rettung und Feuerwehr
- Meteorologen
- Journalisten
- Viele Industriebetriebe mit durchgehender Produktion
- Bahn, Öffentliche Verkehrsbetriebe, Flughafen
- Selbstständige
- Bäckereien (zumindest vormittags)
- Gastgewerbe
- Hotelbetreiber und Angestellte
- Tankstellen, Autobahnraststätten
- Tourismusbetriebe und Berghütten
Wer sind also die Kunden, die sonn- und feiertags sogar lange Schlangen an den Kassen in Kauf nehmen?
- Wer ganztägig oder im Schichtbetrieb arbeitet, kann sich nicht beliebig Zeitausgleich nehmen oder Gleitzeit. Entsprechend kann man sich seine Einkäufe nicht immer so legen, dass es unter der Woche passt.
- Dazu kommen noch Touristen, die sonntags anreisen und gerne etwas einkaufen wollen, speziell Hygieneartikel, Proviant oder Frühstück.
- Oder sie haben die ganze Woche gehackelt und kamen einfach nicht dazu.
- Sicher sind darunter auch ein gewisser Prozentsatz an verpeilten Genossen, die den Feiertag übersehen, oder für ihre Party noch entsprechende Lebensmittel brauchen.
Fakt ist jedenfalls, dass der Bedarf vorhanden ist. Viele Menschen mit 9/17-Tagesrhythmus und Mo-Fr-mittag-Arbeitswoche können sich das leider nicht vorstellen, wie das mit ungeregelten Arbeitszeiten ist.
Dann ist das Totschlagargument oft, dass der Sonntag ein (kirchlicher) Ruhetag sein soll. Dabei spielt die Kirche ohnehin kaum noch eine Rolle, die Kirchen sind spärlich besucht. Am Ruhetag wollen trotzdem viele Menschen von A nach B kommen, brauchen also öffentliche Verkehrsmittel, sie wollen sonntags Essen gehen, auf Veranstaltungen, und frische Semmeln in der Früh haben. No na müssen andere dafür arbeiten gehen. Am Ruhetag.
Wann man seinen persönlichen Ruhetag hat, sollte eigentlich egal sein dürfen. Ich arbeite seit 9 Jahren im Schichtdienst. Ich genieße es durchaus, wenn unter der Woche weniger los ist draußen (oder am Berg). Die Kehrseite ist, dass ich nur wenige Bekannte und Freunde habe, die unter der Woche mit mir gemeinsam etwas unternehmen können. Zufällig mit anderen Schichtkollegen freizuhaben, ohne familiäre Verpflichtungen oder Termine, das ist wie ein 6er im Lotto. Das Wetter muss dann auch noch passen. Die von der SPÖ geforderte 4-Tages-Woche bei 12-Stunden-Schichten hätte es ermöglicht, dass man sich seine Ruhetage unter der Woche aussuchen kann. Mit All-in und unbezahlten Überstunden geht das natürlich nicht.
Das ist auch das einzige Argument, was ich gelten lasse und weswegen ich nach der derzeitigen Gesetzesregelung GEGEN längere Öffnungszeiten unter der Woche und einer Ausweitung auf Wochenend- und Feiertage bin. In einer eutopischen Parallelwelt bekommen die Mitarbeiter dann Zuschläge (oder Zeitausgleich), es wird länger gearbeitet oder mehr Personal eingestellt, aber die Mitarbeiter profitieren davon! In der Realität wird einfach nur länger und häufiger gearbeitet. Im status quo ist das Personal schon knapp bemessen. Wir erleben alle, wie die Supermarktmitarbeiter gleichzeitig kassieren, einräumen und die Wurst-Theke bedienen sollen, und gleichzeitig darauf achten, dass das Obst nicht schimmelig wird. Die Schlange an der Kassa wird rasch zu lang, der Stress nimmt zu, dann ist das Preisschild nicht einzuscannen und muss händisch eingetippt werden, die Kunden werden ungeduldig und ungehalten. Das wäre meine persönliche Hölle als Kassierer, ich bin dann oft besonders geduldig und verständnisvoll.
Solange eine Verbesserung für einen kleinen, aber signifikanten Teil der Bevölkerung nur auf dem Rücken der betroffenen Angestellten durchgesetzt würde, bin ich dafür, den status quo zu lassen, auch wenn ich damit schon nicht glücklich bin, da die Bezahlung schlecht ist. Aber wer setzt sich für sie ein? Die VP und FP-Wähler sind es nicht.
You must be logged in to post a comment.