
Auch darum braucht es Social-Media-Plattformen wie Twitter: Ohne sie wüssten wir kaum, wie es in anderen Erdteilen aussieht – nicht nur bei Kriegen, in Diktaturen, bei Naturkatastrophen oder den Midterms in den USA. Wir kämen auch nur schwer an Infos wie, dass derzeit in Ländern mit (ehemals) hohem Covid19-Infektionsgeschehen weltweit die Spitäler unter Druck sind, nicht nur wegen Ärzte- und PflegerInnenmangel, sondern auch in Kinderspitälern durch eine außergewöhnlich hohe Belastung mit Infektionskrankheiten – neben Covid19 vor allem RSV und Influenza. In den USA spricht man daher inzwischen von einer “Tripledemie”.
In diesem Beitrag soll es um mögliche Ursachen für die starken Anstiege gehen und außerdem wird die häufig zitierte Immune-Debt-Theorie genauer beleuchtet. Kurze Antwort: Ein untrainiertes Immunsystem durch ausgebliebene Infektionen während der Lockdowns ist nicht verantwortlich für die beobachtete Zunahme an schweren Verläufen bei (Klein-) Kindern.
RSV-Steckbrief
RSV, das Respiratorische Synzytial-Virus, tritt weltweit auf und betrifft den gesamten Atemwegstrakt. Betroffen sind vor allem Säuglinge (Frühgeborene, Kleinkinder). Vom saisonalen Verlauf und Symptomatik her ähnelt es Influenza. Die Sterblichkeit liegt bei 0,2% bei Kindern ohne Vorerkrankungen, 1,2% bei Frühgeborenen, 4,1% bei Kindern mit Lungenfehlbildung und 5,2% bei Kindern mit angeborenem Herzfehler. In Mitteleuropa wird der Höhepunkt der RSV-Saison zwischen November und April etwa im Jänner und Feber erreicht.
“Neugeborene und junge Säuglinge können jedoch in den ersten 4–6 Lebenswochen durch diaplazentar übertragene Antikörper vor einer RSV-bedingten Erkrankung geschützt sein, während Frühgeborene durch eine geringere Versorgung mit maternalen Antikörpern auch in den ersten Lebenswochen bereits schwer an einer RSV-Infektion erkranken können. Bei älteren Säuglingen und Kleinkindern ist eine RSV-Infektion die häufigste Ursache von Erkrankungen des unteren Respirationstraktes und von damit verbundenen Krankenhauseinweisungen. Innerhalb des 1. Lebensjahres haben 50–70% und bis zum Ende des 2. Lebensjahres nahezu alle Kinder mindestens eine Infektion mit RSV durchgemacht. Eine langfristige Immunität besteht nicht. Reinfektionen sind häufig, insbesondere bei Erwachsenen mit regelmäßigem Kontakt zu Kleinkindern.” (Quelle: Robert-Koch-Institut)
Nach Hall et al. (1991) treten Reinfektionen bei RSV häufig auf, bereits nach zwei Monaten und die Mehrzahl der Studienteilnehmer nach spätestens acht Monaten. Tenziell häufiger sind schwere Verläufe bei den 0-5 Monate alten Säuglingen und bei Kindern, deren Eltern prekäre Lebensverhältnisse aufweisen (Langley et al. 2022)
Gefährdet sind neben Kindern auch Erwachsene mit Herz- oder Lungenvorerkrankungen sowie immunsupprimierte Personen, aber auch alte Menschen können schwere Verläufe haben.
Asymptomatische Übertragungen werden angenommen, die Übertragung findet wie bei Influenza und SARS-CoV2 über Aerosole statt (Kulkarni et al. 2016) die Ansteckungsgefahr hält 3-8 Tage an. Bei 60-80% der Kinder mit akuter Bronchiolitis kann RSV nachgewiesen werden.
RSV-Wellen vor und in der Pandemie



In den USA spricht man inzwischen von einer “Tripledemie”, nachdem sich die Fälle von Covid19, RSV und Influenza gleichzeitig häufen. Dadurch gibt es mit 104000 eine Rekordzahl an fehlenden Mitarbeitern, die auf ihre kranken Kinder aufpassen müssen. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, wieder Maske zu tragen, und außerdem sein Kind gegen Influenza und Covid impfen zu lassen. (Quelle)


Aus den dargelegten Daten lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen:
- Schutzmaßnahmen funktionierten hervorragend und dämmten alle Infektionskrankheiten ein, die über die Atemwege übertragen werden. Es gab eine ganze Saison ohne RSV, Influenza und andere Erkältungsviren
- Der Winter 2021/2022 war in vielen Ländern eine Rekordsaison für RSV. Sobald die Maßnahmen gelockert wurden, gab es wieder Fälle.
Letztes Jahr gab es viele RSV-Fälle in Kanada, aber die Krankenhäuser waren nicht so sehr überlastet wie jetzt. Heuer begann die RSV-Saison früher, aber die Fallzahlen sind nicht außergewöhnlich hoch. Trotzdem gibt es bereits viele hospitalisierte Kinder.
Auch in Dänemark gab es 2021 eine große RSV-Welle. Dieses Jahr eine höhere Hospitalisierungsrate.
CNN meldet zudem zehn Mal höhere RSV-Hospitalisierungsraten bei Senioren (15.11.22), was ungewöhnlich im Vergleich zu den Vorjahren ist. Sie vermuten nachlassende Vorsicht und aufgehobene Schutzmaßnahmen als Hauptgrund.
Hypothesen (aus Laiensicht)
Ich schreib das explizit dazu, dass ich Laie bin, weil es gibt vielleicht mehr oder weniger Hypothesen. Bitte im Hinterkopf immer behalten, dass ich Unrecht haben kann. Der Umstand, dass ich hier darüber schreiben muss, erklärt sich aus dem Fehlversagen der österreichischen Medien, das Thema zu behandeln.
Man muss hier zwei Beobachtungen trennen: Anstieg der RSV-Infektionen und/oder Anstieg der RSV-Hospitalisierungen.
- Nachholeffekte aus dem ersten Jahr mit niedriger Exposition: Warum ist die Welle dann erneut so hoch, wenn es bereits im vergangenen Winter Nachholeffekte vom Vorjahr gegeben hat?
- Mütter weniger exponiert, dadurch weniger Antikörpertransfer durch Muttermilch: Wie ist die Altersstruktur der RSV-Infektionen/Hospitalisierungen? Müsste es dann nicht einfach mehr Fälle geben und nicht zwingend schwerere Verläufe? Limitierender Faktor: Nestschutz dauert nur ca. 3 Monate
- Schwächung des Immunsystems durch kürzliche Covid19-Infektion wie nach Masernerkrankung: Mehr schwere Verläufe, Antikörper gegen C19 nur kurzzeitig nachweisbar (Dunkelziffer!), für (vorübergehende) Immunschwäche gibt es mehrere Studien, u.a. Winheim et al. (2021), Chang et al. (2022), Jing et al. (2021), Phetsouphanh et al. (2022), Govender et al. (2022) und Shen et al. (2022)
- Beeinträchtigung der Lunge des Fötus durch Covid19-Erkrankung der Mutter, u.a. Plazentagewebezerstörung (Schwartz et al. 2022) und beeinträchtigtes Lungenwachstum (Stoecklein et al. 2022): mehr schwere Verläufe – aber: wie viele der jetzt betroffenen Säuglinge hatten eine Covid-positive Mutter?
- Gestörte Lungenfunktion auch nach symptomfreien Verläufen bei Kindern (Heiss et al. 2022): mehr schwere Verläufe, ist bei den betroffenen Kindern mit schwerem RSV-Verlauf eine Vorgeschichte mit gestörter Lungenfunktion nach Covid19-Infektion bekannt?
- Mangel an fiebersenkenden und schmerzstillenden Medikamenten: Kinder früher ins Spital?
Ein Experte, Evolutionsbiologe T. Ryan Gregory, sieht die “Immunschuld”-Hypothese damit widerlegt. Interessant ist jedoch auch der Umstand, dass im vergangenen Jahr RSV zurück war, aber nicht Influenza. Gibt es mehr Ko-Infektionen? Die Zusammenhänge erscheinen noch unklar. Siehe auch seinen Thread vom 24.11.22

Was man ausschließen kann: Immune Debt – “mangelndes Training des Immunsystem”, ich hab darüber schon mehrfach geschrieben. Auf Bevölkerungsebene trifft offensichtlich Folgendes zu: Wenn eine Menge Leute die Infektion in einer Saison vermeiden, dann gibt es weniger Bevölkerungsimmunität und eine große Anzahl an empfänglichen Wirten in der nächsten Saison. Das erklärt aber nicht die starken Anstiege auch bei Hospitalisierungen, die wir derzeit sehen.
Auf individueller Ebene wird angenommen, dass das Immunsystem wie ein Muskel sein würde, und wenn man ihn nicht Pathogenen aussetzt, würde verkümmern und Individuen anfälliger für schwere Verläufe machen. Pathogene im Sinn von “Kinder im Dreck spielen lassen” ja, aber nicht in einem Biolabor. Zufälligerweise sind dieselben Wissenschaftler (und Politiker), die die Immun Debt-Annahme vertreten, dieselben, die auch gegen Schutzmaßnahmen in Schulen waren. Sie führen nun Lockdowns und Maskentragen als Begründung für andere Infektionswellen wie bei RSV und Influenza an. Sie sind immer noch gegen Masken.

Bermúdaez Baerrezueta et al. (2022) untersuchten die Saisonalität von RSV vor (01.10.2014-14.03.20) und während der Pandemie (15.03.20-30.09.21) in Spanien. Die RSV-Welle Ende Juni 2021 zeigte sich mit einem höheren Anteil an Kinderintensivpatienten.
Auch in Frankreich werden mehr Fälle von akuter Bronchiolitis als in den Vorjahren beobachtet. In diesem interessanten Artikel in “L’Express” (19.11.22) wird die “Immune Debt”-Hypothese kritisch beleuchtet. Sie betonen, dass der Begriff erstmals in einem Meinungsartikel 2021 auftauchte und von den Medien rasch aufgegriffen und verbreitet wurde – als handle sich um eine seriöse Hypothese (-> False Balance). Tatsächlich konnte bisher noch niemand nachweisen, dass die Bevölkerungsimmunität gegen RSV tatsächlich abgenommen habe, zumal es im vergangenen Jahr zwei Bronchiolitis-Wellen gab. 2021 war bereits ein Rekordjahr mit mehr Notaufnahmen als in den vorherigen zehn Jahren. In Holland gibt es eine laufende Studie mit einer repräsentativen Kohorte, deren Antikörperspiegel gegen RSV wiederholt gemessen wird, Ergebnisse liegen aber noch nicht vor. Zudem gebe es zwei Virentypen (Serotyp A und B), die in der Regel nicht gleichzeitig zirkulieren. Bisher gibt es aber nur wenige Daten zur Kreuzimmunität gegen die jeweils andere Variante.
Neben RSV zirkuliert zudem das Rhinovirus in Südfrankreich mit einer höheren Intensität als in den Vorjahren, in Nordfrankreich Metapneumovirus – welche bei Kleinkindern ebenfalls akute Bronchiolitis auslösen können. Ob Covid19 dazu seinen Beitrag leistet, ist unbekannt – die covidbedingten Notaufnahmen scheinen derzeit aber in der Minderheit.
Mit dem verbreiteten Irrglauben, unser Immunsystem sei aufgrund der Schutzmaßnahmen der letzten Jahre gestört, räumt auch Epidemiologin Mircea Sofonea auf:
“C’est un non-sens, car celui-ci ne fonctionne pas comme un muscle qu’il faudrait entraîner. Et par ailleurs, personne n’a vécu dans un environnement aseptique en avril 2020 : les virus et les bactéries nous entourent en permanence et notre immunité est restée active.”
(„Das ist Unsinn, weil es nicht wie ein Muskel funktioniert, der trainiert werden muss. Außerdem lebte im April 2020 niemand in einer aseptischen Umgebung: Viren und Bakterien umgeben uns permanent und unsere Immunität blieb aktiv“)
Dass SARS-CoV2 das Immunsystem schwächt und anfälliger für Virusinfektionen und RSV im Speziellen macht, ist den Autoren zur Folge aber noch ungewiss. Für Masern sei das dokumuntiert, für Covid würden solide Beweise fehlen, sagt Immunologe Alain Fischer.
Schlussfolgerungen
Und das ist eben auch Wissenschaft. Dass man den klaren Verursacher nicht sofort benennen kann, sondern warten muss, bis genug Forschungsergebnisse einander stützen. Ich kann aus der bisher geliesenen Literatur weder klar sagen, dass es auf Covid19 zurückzuführen ist, noch andere Hypothesen ausschließen. Nur bei “Immune Debt”, kein wissenschaftlich anerkannter Begriff, sind sich alle seriösen Wissenschaftler einig: Das kann man ausschließen, jedenfalls auf individueller Ebene. Und was würde das bringen, sich wissentlich mit einem Erreger zu infizieren, der schwere Verläufe verursachen kann, um bei erneutem Kontakt vor schweren Verläufen geschützt zu sein? Das trifft zwangsläufig vorerkrankte Menschen schwerer als gesunde Menschen (Ausnahme LongCOVID bei Covid und andere Long-Symptome bei anderen Viruserkrankungen), das ist eugenisches Denken, wenn man das einfach zulassen würde. Nichts daran wäre mehr Public Health.
Unabhängig davon, welche Mechanismen die starken Anstiege verursachen, wissen wir, was zweifelsohne gegen die Ausbreitung der Infektionserreger Influenza, RSV und SARS-CoV2 hilft:
- Impfungen gegen Influenza und Covid19 existieren, auch Kleinkinder ab 6 Monaten können geimpft werden.
- (Klinische Tests von Pfizer für eine RSV-Impfung sind in Phase 3, mehr Infos zu verschiedenen RSV-Impfungen)
- Maske tragen (FFP2, für kleine Kinder auch OP-Masken), in der Gesamtgesellschaft, aber auch Erzieher und Pädagogen
- saubere Luft in Kindergärten und Schulen durch Frischluftzufuhr, Luftfilter, Luftreiniger, Kontrolle über CO2-Messungen (mehr unter http://igoe.at)
Das reduziert die Infektionszahlen, die Krankheitslast, die Pflegefreistellungen der Eltern und die Überlastung der Spitäler, und zwar nicht nur Kinderambulanzen, sondern auch das gesamte Gesundheitswesen. Jede vermiedene Infektion ist ein Gewinn an Lebensqualität – auch für die Eltern. Jeder Kontakt mit Virusbestandteilen durch Impfung reduziert die Gefahr schwerer Verläufe durch die Infektion. Warum Infektionen zulassen, wenn man sie vermeiden kann?
Kindergärten (und Schulen) kann man auch bei starkem Infektionsgeschehen offen halten, solange es Schutzmaßnahmen gibt. Das zeigte die von den Medien und leider auch dem deutschen Gesundheitsminister, der es als Epidemiologe besser wissen müsste, falsch interpretierte KITA-Studie. Ein wichtiger Radiobeitrag von Infektiologin Jana Schroeder (17.11.22)
Es ist auch in Kindergärten nicht unvermeidbar, sich den Atemwegserregern auszusetzen. Erwachsene Betreuer können bei hohem Infektionsgeschehen, egal ob Influenza, RSV oder SARS-CoV2, Maske tragen. Kinder können in Kleingruppen mit fixen Betreuern eingeteilt werden. Schutz gibt es natürlich auch durch die Impfung, sowohl bei Erwachsenen als auch – inzwischen – bei Kleinkindern mit zugelassener Impfung gegen SARS-CoV2. Kinder mit Symptomen sollen zuhause bleiben. Die betroffenen Familien müssen aber auch entlastet werden.
Schroeder betont, aus der KITA-Studie gehe hervor, dass Schutzmaßnahmen eigentlich Freiheiten schaffen, wie eben offene Schulen und Kindergärten. Infektionsschutz und soziale Teilhabe dürfen nicht ständig polarisierend gegeneinander ausgespielt werden. Eine Lehre aus dieser Pandemie ist, dass in die Krisenfestigkeit der Systeme für Kinder investiert werden muss. Die Rolle der Kinder wurde leider lange Zeit ignoriert, man hat sich darauf eingestellt, dass es nur kurze Lockdownphasen geben würde. In einer Pandemie funktioniert politischer Kompromiss nicht so gut, weil man zu lange mit Maßnahmen wartet – das sah man in dem zähen Lockdown ab Herbst 2020, wo es trotzdem zu vielen Todesfällen kam (in Deutschland und Österreich).
“Es braucht eine gewisse Demut vor dem Unbekannten und eine Offenheit für den Erkenntnisfortschritt.”