Kein Freifahrtschein für unsolidarisches Verhalten (K 16/04)

Menschenleerer Michaelerplatz, Innere Stadt vor der Hofburg, im ersten Lockdown im April 2020

Seit die Pandemie von der Politik mit Jahresbeginn 2023 für beendet erklärt wurde und das Ende des Internationalen Gesundheitsnotstands durch die WHO im Mai 2023 fälschlicherweise mit dem offiziellen Pandemieende gleichgesetzt wurde, läuft die sogenannte Aufarbeitung der Pandemie durchwegs in die falsche Richtung, nämlich fast ausschließlich als Versöhnung mit Pandemieleugnern konzipiert, um mittelfristig Protestwählerstimmen zurückzuholen. Im Vordergrund stehen ausschließlich die überschießenden Maßnahmen, die angeblich nicht notwendig gewesen wären, und dass man in künftigen Pandemien Grundrechte nie mehr so beschneiden dürfe wie zu Beginn der SARS-CoV2-Pandemie.

Egal ob man es Pandemie oder Endemie nennt, Corona ist weiterhin da und erfordert Anpassungen, um sich dauerhaft vor Reinfektionen und Erstinfektionen vor allem bei Kindern zu schützen.

Die Aufarbeitungsdebatte läuft in den Medien mit den erwartbaren Vereinfachungen ab, auf deren Grundlage keine sinnvollen Lehren gezogen werden können. Da ist etwa von den “jahrelangen Lockdowns” die Rede, aber tatsächlich gab es zumindest im deutschsprachigen Raum keine echten Ausgangssperren, sondern überwiegend Ausgangsbeschränkungen (nächtliche Ausgangssperren kurzzeitig in Deutschland). Spazieren gehen war nicht verboten. Im Gegenteil. Vom ersten Tag an und an jedem weiteren Tag diverser Lockdowntage bis Ende 2021 habe ich in Wien noch nie so viele Menschen draußen gesehen. Es wurde wahrscheinlich mehr Sport gemacht als vor der Pandemie. Von “monatelang eingesperrt sein” konnte keine Rede sein. Autofahrer waren überhaupt priviligiert und jeder am Land, wo weniger scharf kontrolliert wurde. Ich selbst fühlte mich eingesperrt, weil die Bundesgärten in der Nähe geschlossen wurden, während die entfernteren Stadtparks offen waren. Ich durfte öffentliche Verkehrsmittel nur für die Arbeit benutzen, nicht in der Freizeit. Trotzdem war meine Empörung über die Verharmlosung von Corona bald größer als über die ersten Wochen, die mich in ihrer Plötzlichkeit und Zäsur-Artigkeit traumatisiert hatten. Ich fand nach anfänglicher Handlungsstarre schließlich einen modus vivendi, um mit der Krise umzugehen.

Es wird über “Schulschließungen” gesprochen, doch auch da gibt es Unterschiede, denn in Österreich waren die Schulen für die Notbetreuung immer offen. Es gab Distance Learning und das Hauptproblem war vor allem der Mangel an technischer Ausrüstung wie Computer oder Tablets. Es gab Leistungsdruck und trotz der Schulbeschränkungen steht Österreich laut Pisa-Studie besser als Schweden da, wo die Schulen immer offen waren. Es wird über “psychische Langzeitfolgen der Lockdowns” gesprochen, doch sanken die Suizidversuche und Suizide in den ersten Pandemiejahren ab. Mit der vermeintlich bewältigten Krise stiegen die psychischen Probleme aber weiter an statt mit Ende sämtlicher Beschränkungen, einschließlich in den Schulen, wieder zurückzugehen.

Gerade jene Journalistinnen und Journalisten, aber auch führende Politikerinnen und Politiker der Opposition und Regierung in Österreich wie in Deutschland, die seit Beginn durch ihre maßnahmenfeindliche Haltung aufgefallen sind, und vielleicht auch bei anderen Themen vom Mehrheitskonsens abweichen (z.B. russlandfreundlich, Klimaschutzgegner), scheinen mir in ihren Beiträgen und Wortspenden, “dass zu wenig gegen die Maßnahmen protestiert wurde”, eher ihr privates Trauma zu verarbeiten, um im Nachhinein das eigene Verhalten schönzureden, mit dem man sich außerhalb der gesellschaftlichen Solidarität gestellt hat.

Denn wenn der Grund für die Maßnahmen gar nicht so vorliegen würde, wie völlig berechtigt gesagt wird, Corona nicht so schlimm gewesen sei, wie es von Beginn an aber war, die Maßnahmen sogar schlimmer gewesen wären als die Krankheit selbst, wo alleine die Impfung das Gegenteil beweist, dann hätte man sich nicht so falsch verhalten, wie man das vielleicht im Freundes. oder Verwandtenkreis zu hören bekam. Mit einer Pandemierevisionismus-Agenda, die ständig millionenfache Opfer kleinredet und Schutzmaßnahmen als übertrieben darstellt, soll der Schluss gezogen werden, nie wieder (sinnvolle) Maßnahmen zu treffen, die über der individuellen Freiheit einer vermeintlich nicht-vulnerablen Mehrheit stehen. Diese Menschen wollen einen Persilschein für asoziales, unsolidarisches Verhalten ausgestellt bekommen. Sie wollen gesellschaftlich rehabiliert werden aufgrund des vermeintlichen Unrechts, das sie durch Zuschreibungen wie “Schwurbler” und “Leugner” erlitten haben. Sie haben diese Zuschreibungen aber nicht erhalten, weil sie “selbst denken” oder “schon immer alles hinterfragt haben”, sondern weil sie Fakten in Frage stellten, weil sie wortwörtlich die Dramatik der Lage erst geglaubt hätten, wenn sie ein Spital während der höchsten Wellen von innen gesehen hätten, weil sie Ärzten und Pflegern und Virologen nicht glauben wollten, dass SARS-CoV2 ein hochansteckendes, pathogenes Virus ist, das weltweit bis heute rund 7 Millionen Menschen direkt tötete, mit Übersterblichkeit geht man von über 20 Millionen Toten aus, dazu kommen hunderte Millionen Betroffene von LongCOVID. Wer die Dramatik von SARS-CoV2 in Frage stellt, genauso wie die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen, die zwar seltener erkranken, aber auch dort sind es Millionen Betroffene, den wird man auch in Zukunft “Schwurbler” und “Leugner” nennen dürfen.

Leider leben wir in einer Gesellschaft, in der Selbstreflexion und Fehlerkultur absolut verpönt sind. Politiker tun das nicht, es wird von oben nicht vorgelebt und als Charakterschwäche betrachtet, als Ausschlussgrund für beruflichen Aufstieg. In so einem Umfeld darf nicht zugegeben werden, sich geirrt zu haben, ohne dass Sanktionen folgen, und dann kann es auch niemals eine ehrliche und faktengetreue Aufarbeitung geben. Lieber werden die Fakten manipuliert, um sich nicht unangenehmen Fragen stellen zu müssen. Hinzu kommt außerdem die Arroganz, alles richtig gemacht zu haben. Über 20000 direkte Covid19-Tote werden als schicksalshafter Kollateralschaden betrachtet, “aber andere Länder haben noch viel mehr Tote als wir.” Es ist die Arroganz, den Ärzten und Pflegern der ersten Welle, die mit mangelnder Schutzausrüstung auf einen neuen Erreger losgelassen wurden, zu sagen, dass die Maßnahmen überzogen gewesen wären. Das zeugt von großer Unkenntnis und Verdrängung der damaligen Situation, von einer regelrechten Bildungsschuld.

“Das Problem ist nicht die naive Grundimmunität, sondern die immune Grundnaivität.” (ich im April 2020)

Da gibt es auch keine “goldene” oder “gemäßigte” Mitte. Das Virus verhandelt nicht. Es gibt nur Infektionszahlen, Hospitalisierungszahlen, Todesopfer, Übersterblichkeit und LongCOVID, im weitesten Sinne auch die Halb- und Vollwaisen der Kinder, deren Eltern durch sie und andere angesteckt an Covid verstorben sind. Die schwerwiegendsten Folgen sieht man bei den Gesundheitsmitarbeitern an vorderster Front und im Bildungs- und Kinderbetreuungswesen, bei denen, die am exponiertesten waren und sind. Sie werden aber in der Regel nicht gefragt, nicht ins Fernsehen geholt, ebenso wenig wie die Kinder und Jugendlichen selbst, die ständig instrumentalisiert werden, aber selbst nicht zu Wort kommen, wie SIE die Krise erlebt haben, und wie sie den status quo ständiger krankheitsbedingter Unterrichtsausfälle empfinden.

Ich habe meine Kämpfe in den letzten Jahren schon ausgefochten, als kinderloser Mensch, der viel über Kinder, Schulen und die Pandemie geschrieben hat. Habe ich zu wenig berücksichtigt, dass vieles von dem, was notwendig gewesen wäre, in der Praxis kaum funktioniert in unserer Leistungsgesellschaft, mit den finanziellen und sozialen Zwängen, mit prekären Wohnverhältnissen und schlechtem Kündigungsschutz für endlose Pflegefreistellungen? Möglich. Allerdings habe ich mich immer auf den aktuellen Stand der Wissenschaft berufen, darauf, dass Kinder ähnliche Viruslasten wie Erwachsene aufweisen, dass sie selbstverständlich Teil der Pandemie sind wie andere Coronaviren oder Atemwegsinfekte auch. Sie konnte man nie aus der Gleichung nehmen und doch wurde das getan, aus den unterschiedlichsten Gründen.

Ich erinnere mich an ein ZiB2-Interview von Lou Lorenz mit Mikrobiologe Michael Wagner. Es war Anfang Dezember 2020, mitten im zweiten Lockdown, und er beklagte, dass Erwachsene zu bequem wären, sich stärker einzuschränken, um die Kinder und Jugendlichen zu schützen. Dieser Ansatz wurde nicht weiterverfolgt. Es blieb dabei, dass Schulen immer an letzter Stelle der Schutzmaßnahmenkette standen, nicht an der ersten. Wir erinnern uns an die Hauspartys der Jugendlichen im ersten und zweiten Lockdown, an die Garagen- und Wirtshaushinterzimmerpartys der Erwachsenen am Land, an den Bundespräsidenten, der sich nicht an die Sperrstunde hielt. Erwachsene, die nicht fähig waren, für zehn Minute Maske während eines Einkaufs zu tragen, oder sie korrekt über Mund und Nase aufzusetzen. Erwachsene waren denkbar schlechte Vorbilder in der Pandemie, jedenfalls dort, wo Entscheidungs- und Verantwortungsträger saßen und Interviews mit Beratern gegeben wurden. Noch heute teasern zahlreiche Redakteure ihre Beiträge mit Bildern von Masken an, die am Boden liegen, am Weg zum Mistkübel sind oder am Ohr hängen. Der ehemalige Gesundheitsminister verwendete so ein Bild sogar für sein Buch.

Es gab trotzige Petitionen, die Schulen inmitten der zweiten Welle offenzulassen, obwohl die Infektionszahlen so hoch waren, dass Lufthygiene alleine nicht mehr ausgereicht hätte. Diese waren bereits im Sommer 2020 gefordert worden, blieben aber zu Schulbeginn unbeachtet. Stattdessen setzte sich Great-Barrington-Advokatin Petra Apfalter mit der Empfehlung durch, Kinder unter 10 Jahren erst gar nicht zu testen. So konnte man später behaupten, dass Volksschul- und Kleinkinder keine Rolle spielen würden. Statt Laptops und Tablets gratis für Schüler und Schülerinnen zur Verfügung zu stellen, zögerte man Schulschließungen mit Distance Learning so lange hinaus wie nur möglich. Kinder dienten ab 2021 nurmehr als Infektionsradar für die Gesamtbevölkerung durch die Testaktion (“Alles gurgelt” und Schnelltests), als Virendrehscheibe für schnellere Herdenimmunität in den Kindergärten und Schulen und als Garant dafür, dass die Wirtschaft nicht zu viele Arbeitskräfte verlieren sollte wegen Pflegefreistellungen. Statt entsprechende Regelungen zu treffen, den Kündigungsschutz wenigstens für die Dauer der Krise zu erhöhen und Homeoffice stärker zu forcieren. Ebenso hätte man den Leistungsdruck in den Schulen verringern sollen. Kinder sind nicht deswegen dümmer, wenn Schwerpunkte anders gesetzt werden. Es hätte Eltern weniger Überwindung gekostet, die Kinder auch bei leichten Krankheitszeichen zuhause zu lassen – und dann online zu unterrichten, sofern die Infektion weitgehend beschwerdefrei verläuft. In den ersten Pandemiejahren zirkulierte überwiegend SARS-CoV2 und kaum andere Viren, die für einen Infekt infrage kamen.

Schulschließungen waren die effektivste Maßnahme. Ihre Verwässerung samt Verwässerung der Lockdown-Maßnahmen ab der zweiten Welle trugen wesentlich zu den hohen Sterblichkeits- und Spätfolgenzahlen bei. Schulschließungen hätten nie gänzlich verhindert werden können noch sollten sie künftig ausgeschlossen werden.

Die Gesundheit hat stets oberste Priorität. Deshalb haben wir uns zu dieser Maßnahme entschlossen.”

“Da Kinder seltener gegen Influenza geimpft sind, können sich die Viren rascher verbreiten und vor allem in Gemeinschaftseinrichtungen und innerhalb der Familie – bei nicht-geimpften Personen – zu weiteren Ansteckungen führen.”

Vorbeugung besser als Nachsorge.”

Grippewelle legt Schule in Igls lahm, 12. Dezember 2019

Ich möchte bei allen Unzulänglichkeiten der Vergangenheit, sei es das mangelnde Bewusstsein für postvirale Erkrankungen wie MECFS, die niedrigen Impfraten für Influenza als auch das generell mangelnde Verantwortungsbewusstsein für die Schwächsten der Gesellschaft – und da zähle ich mich vor der Pandemie auch dazu – daran erinnern, dass wir schon weiter waren – dass wir entschieden haben, Gesundheit an die oberste Stelle zu setzen, dass Prävention vor (unzureichender) Therapie kam.

Es sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass die Impfstoffzulassung für Kinder erst im November 2021 inmitten der schweren Delta-Welle erfolgte, und die für Kleinkinder erst in der BA.5-Welle im Oktober 2022. Kinder waren und sind angesichts der weiterhin niedrigen Impfraten und vielfach ohne Empfehlung durch die Gesundheitsbehörden die längste Zeit gegen das Virus ungeschützt. Selbst wenn man jetzt sagt, dass die Mehrheit die Infektion gut wegsteckt, das trifft auch auf Erwachsene zu, aber um die Mehrheit geht es hier nicht, sondern um die Minderheit, die wir als demokratische Gesellschaft schützen sollten. Das Frühgeborene, das Kind mit Herzfehler, das Kind mit Down-Syndrom, das Kind, dessen Mutter gerade eine Chemotherapie macht, oder dessen Geschwisterchen Leukämie hat. Diese gehören auch zu unserer Gesellschaft und wollen am Leben teilhaben.

Die Opfer der Pandemie können nicht mehr ungeschehen gemacht werden, aber für die Vermeidung künftiger Betroffene von Langzeitfolgen, trauernder Mütter um verstorbene oder schwerkranke Kinder lohnt es sich weiterhin, sich für Lufthygiene einzusetzen. Damit schützt man sich nicht nur vor Corona, sondern vor allen respiratorischen Erregern und Allergieauslösern in der Luft. So sollte Aufarbeitung aussehen und nicht all jene Schutzmaßnahmen zu hinterfragen, die großteils verhindert haben, noch mehr Tote und Langzeitkranke zu erzeugen.

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