Mythen rund um die “Erkältungszeit” – Folge 1: Aerosole sind der Hauptübertragungsweg, nicht Schmierinfektion.

Der Massenanteil des Virus im Verhältnis zum Wassertröpfchen ist sehr gering (Quelle).

Ich starte eine weitere Serie neben meiner unregelmäßigen Kolumne. Hier soll es sich um typische Mythen, Aberglauben und schlicht Desinformation zur Erkältungszeit gehen. In der ersten Folge widme ich mich einem fundamentalen Paradigmenwechsel zu respiratorischen Erregern, bei denen es sich großteils um Atemwegserreger handelt wie Rhinoviren, Influenza- und RS-Viren, aber auch um Krankheitserreger, die sich als Atemwegsinfekt tarnen, dann aber im gesamten Körper randalieren können, wie SARS-CoV2 oder Masern.

Jahrzehntelang galt Händewaschen als die gängigste Empfehlung gegen respiratorische Infekte, bis hinterfragt worden ist, wie aussagekräftig denn die Beweislage wirklich für Schmierinfektion (“fomites”) und große (sichtbare) Tröpfchen ist, die beim Husten, Niesen und feuchter Aussprache entstehen. In der traditionellen Vorstellung und bis heute verbreiteten Handlungsempfehlungen zur Vorbeugung von Ansteckungen kontaminieren diese Tröpfchen dann Oberflächen, die häufig berührt werden – beim Händeschütteln, auf Türschnallen, an Haltegriffen in öffentlichen Verkehrsmitteln, gemeinsames Besteck, die gemeinsame Trinkflasche. Die empfängliche Person greift dann die kontaminierte Oberfläche an und reibt sich mit den Fingern die Schleimhäute, z.B. ins Auge greifen oder in der Nase bohren. So wird dann die Virusübertragung erklärt.

In diesem Beitrag werde ich dank zahlreicher Studien, die vor und seit der weltweiten Zirkulation von SARS-CoV2 erschienen sind, das Gegenteil belegen können – nämlich, dass Oberflächen berühren, Schleimhäute anfassen und große Spucktropfen nur im Ausnahmefall der Übertragungsweg sind, sondern ein Spektrum an Atemwegströpfchen, von denen die kleinsten Tröpfchen (Aerosole) am bedeutesten für die Infektion sind.

Mythos: Schmierinfektion sei wahrscheinlicher als angenommen.

In einem ORF-Beitrag vom 7.4.23 wurde behauptet, dass die Ansteckung über Oberflächen doch wahrscheinlich sein würde. Von zentraler Bedeutung ist hier die Einschränkung der Studienautoren selbst: Zwar zeigt ihre Studie eine Korrelation (!) zwischen nachgewiesenem Virus auf den Händen und Infektionsrisiko, aber ihre Ergebnisse beweisen keinen kausalen (!) Zusammenhang!

In zahlreichen Situationen müsse – so die Autoren – Aerosol-Übertragung die einzige Route sein, einschließlich über weite Distanzen. Die Übertragung, die die Autoren beobachtet haben, könnte daher ausschließlich über die Luft stattgefunden haben, und vorhandene Virus-RNA auf den Händen und Oberflächen im Haushalt lediglich ein Nebenprodukt der Kontamination durch infektiöse Aerosole sein, die von den infizierten Personen ausgeatmet wurden. Die Autoren haben die Luft nicht systematisch nach virusbeladenen Aerosolen überprüft (Derqui et al. 2023).

Viel plausibler ist also die Annahme, dass die infektiösen Kontaktpersonen so viel Virus ausgeschieden haben, dass es auf Oberflächen nachgewiesen werden konnte. Infektionen fanden aber mehrheitlich darüber statt, dass man im gemeinsamen Haushalt jene Luft eingeatmet hat, die andere ausgeatmet haben.

Das Risiko über Schmierinfektion wurde am Anfang der Pandemie übertrieben (Goldman 2020) und spielt von zahlreichen Studien bestätigt nur eine geringe Rolle (Mondelli et al. 2020, Port et al. 2020, Zhang et al. 2021, Rocha et al. 2021, Butot et al. 2022, Zhang et al. 2022, Pan et al. 2023, Sammartino et al. 2023, Matsui et al. 2024, Lin et al. 2024).

Plausibilität und Nachweisbarkeit

Zahlreiche Situationen, die auf Schmierinfektionen zurückgeführt werden, sind mit Aerosolen erklärbar:

“Their only encounter was a canteen visit, sitting back to back, when patient 5 turned to patient 4 to borrow the salt shaker from their table.”

erste nachgewiesene, präsymptomatische SARS-CoV2-Übertragungen am Beginn der Pandemie in Deutschland, zitiert aus Böhmer et al. 2020

Für anzüchtbares Virus am Salzstreuer müsste der (präsymptomatische!) Mitarbeiter erst in die Hand gehustet oder geniest haben (er hatte aber keine Symptome!), und dann unmittelbar zum Salzstreuer gegriffen haben. Viel plausibler ist aber, dass der infektiöse Mensch den empfänglichen Mensch relativ nah ins Gesicht geatmet/gesprochen hat, wodurch es zur Übertragung kam,

“Von 9. auf den 10. Oktober weilte eine 27-köpfige Sani-Gruppe auf einer Berghütte in Wagrain. Laut Augenzeugenberichten soll sich die ausgelassen feiernde Blaulicht-Mannschaft gemeinsam an einer Schnapsflasche gelabt haben.”

Corona-Cluster beim Roten Kreuz, Bericht im STANDARD, 22.10.21 (Delta-Welle)

Die Medien machten schnell die gemeinsame Schnapsflasche als Ursache für den Cluster aus. Eine ausgelassen feiernde Mannschaft wird sich aber über Stunden hinweg in entsprechender Lautstärke unterhalten haben. Meine privaten Messungen auf Berghütten haben bereits gezeigt, wie schlecht die Frischluftzufuhr dort funktioniert. Übertragung über die Luft ist daher viel plausibler.

In anderen Fällen war es die gemeinsame Wasserflasche oder das gemeinsame Geschirr. Was haben alle Fälle miteinander gemeinsam? Menschen sitzen längere Zeit zusammen, atmen die Luft ein, die infektiöse Menschen ausgeatmet haben. Bei einem Restaurant-Cluster in China konnten Tröpfchen- und Schmierinfektion sogar völlig ausgeschlossen werden (Zhang et al. 2021)

Mythos: “Aber ich habe mich nicht angesteckt, obwohl ich auch anwesend war. Es können daher keine Aerosole sein!”

SARS-CoV2 sind nicht die Masern, sie sind zwar hochansteckend, aber immer noch etwas weniger ansteckend. Das heißt, dass sich bei Infektionen im eigenen Haushalt, aber auch bei einem größeren Ausbruch auf einer gemeinsamen Feier nicht alle Kontaktpersonen anstecken müssen. Die “Attack Rate” ist meist geringer als 100%.

Das hängt von mehreren Faktoren ab, darunter Umweltfaktoren (Virusstabilität, Luftströmungen), aber auch dem eigenen Immunstatus (geschwächt von einem kürzlichen Infekt, Impfung schon länger her, chronische Grunderkrankung oder Medikamente mit Immunsuppression) oder genetischen Faktoren, die dazu beitragen, dass man generell besser vor Ansteckungen geschützt ist als andere Menschen. Es kann auch eine Kreuzimmunität bestehen durch gewöhnliche Coronaviren.

Umweltfaktoren:

Häufig hängt es von der Luftströmung ab, etwa durch Klimaanlagen, Luftzug, Gebläse im Auto, wodurch sich Viren bei einer Person akkumulieren können, während die andere unbehelligt bleibt. In kalten Räumen ist die Stabilität des Virus höher als in wärmeren Räumen, auch die Luftfeuchte sowie der UV-Anteil der Strahlung spielen eine Rolle.

Dauer der Exposition und Konzentration des Erregers in Aerosolen

Ein Pathogen einzuatmen ist zudem nicht gleichzusetzen mit einer Infektion. „Die Dosis macht das Gift“. Daher kann es zu wenig sein, wenn man ohne Maske einen schnellen Einkauf macht oder in einer Kantine mit guter Belüftung sitzt und nur sehr wenig Virus einatmet (Ferretti and Fraser 2023)

Immunstatus

Wer geimpft und/oder kürzlich infiziert ist, und nur eine kleine Virusdosis abbekommt, kann eine Infektion eher verhindern als mit einer hohen Virusdosis (Lind et al. 2023).

Mythos: “Große Tröpfchen müssen mehr Virus enthalten als kleine Tröpfchen – eine Übertragung ist dann wahrscheinlicher.”

Virusbeladene Aerosole werden bei infizierten Personen durch die Atmung erzeugt, dann ausgeatmet und in die Umgebung transportiert. Sofern sie noch infektiös sind, können sie von einem potentiellen Wirt eingeatmet werden. Im Gegensatz zu großen Tropfen können Aersole für Stunden in der Luft schweben und über 1-2m hinaus Personen infizieren. CREDIT: N. CARY/SCIENCE (Wang et al. 2021)

Von den inhalierten Aerosolen werden jene in der Größenordnung von 0,3μm (typische Größe für Rauchaerosole) am wenigsten inhaliert, sie werden teilweise wieder ausgeatmet. Größere Aerosole kolldieren teilweise mit den Nasen- und Rachenwänden, Aerosole nahe 100μm folgen dem Luftstrom um Nasen und Mund noch weniger und sinken schneller zu Boden. Sehr kleine Aerosole verhalten sich sehr diffusiv (hohe Brown’sche Molekularbewegung) und verlieren sich daher recht schnell in der Kopfregion. Aerosole, die kleiner 10μm sind, können bis tief in den Atemwegstrakt gelangen, aber sich bereits am Weg dorthin überall absetzen und Rezeptoren erreichen.

Merke: Die Grenze zwischen Tröpfchen und Aerosole liegt nicht bei 5μm wie vielfach behauptet (Randall et al 2021), sondern bei etwa 100μm. Alles darunter kann als Aerosol inhaliert werden. Die einzigen ballistischen Tropfen, die durch ihre Trägheit andere beim Sprechen in 0,5-1m Abstand erreichen können, sind Partikel über 300μm Größe. In einem breiten Bereich von 100-300μm können weder Aerosole noch ballistische Tröpfchen andere infizieren.

Große Tröpfchen spielen nur dann eine Rolle, wenn man sich während eines Gesprächs 20cm von der infizierten Person entfernt befindet oder 50cm, während gehustet wird. Große Tröpfchen tragen zu weniger als 10% Exposition bei, wenn die Tröpfchen kleiner als 50μm sind und der Abstand 30cm beträgt. In Summe sind große Tröpfchen als Infektionsroute also rein statistisch vernachlässigbar (Chen et al. 2020).

Weitere Studien haben ergeben, dass die kleinsten Aerosole (≤5 µm) generell mehr virale Partikel als größere Aerosole enthalten, und zwar unabhängig der Virusvarianten. Dies spiegelt Ergebnisse von früheren Studien mit Influenza wieder. Der dominante Mechanismus für die Entstehung von respiratorischen Aerosolen, dass Luftblasen beim Ein- und Ausatmen platzen. Diese Luftblasen (bubble film) enthalten um ein Vielfaches konzentriertere Mikroorganismen als im Flüssigkeitsstrom (Lai et al. 2023, Tan et al. 2023).

Die von allen Gesundheitsbehörden bis heute empfohlene Husten-Nies-Etiquette („Hand vor den Mund“, „in die Armbeuge niesen“) hat keine nachgewiesene Wirksamkeit, weil kleinste Tröpfchen in der Gesamtheit überwiegen und nicht blockiert werden (Zayas et al. 2013). Es ist daher allenfalls eine Sache Höflichkeit, jemandem nicht direkt ins Gesicht zu niesen, besser wäre aber als Lehre aus 4 Jahren Pandemie, eine Maske zu tragen.

Mythos: “Im Nahbereich sind es Tröpfchen, nur über weite Distanzen Aerosole.”

Das ist ein Irrtum. Es sind *immer* Aerosole. Kein Vergleich eignet sich dafür besser als Rauch oder Zigarettenrauch. Hier ein Bild von einem meiner letzten Wanderungen. Im Nahbereich der Rauchquelle (Kamin) ist die Rauchwolke so konzentriert, dass man nicht hindurchsehen kann (Hintergrund verdeckt). Wer hier ganz nah zum Kamin steht, atmet also eine ganze Ladung verbranntes Holz ein und löst damit wahrscheinlich einen schweren Hustenanfall aus und womöglich noch schwerwiegendere Lungenschäden. Aber ein paar Meter entfernt vom Kamin dünnt die Rauchwolke deutlich aus und wird durchsichtig. Wer etwa zehn Meter vom Kamin entfernt im Wind steht, wird den Rauch wahrscheinlich noch riechen und verspürt vielleicht einen leichten Reiz in den Atemwegen, aber kann noch normal atmen. Wenn er jedoch längere Zeit dort verweilt, wo der Rauch hinzieht, dann wird er nach einigen Minuten, vielleicht auch erst nach einer Stunde, einen immer stärkeren Hustenreiz verspüren.

So verhält es sich auch mit Aerosol-Übertragung: Im Nahbereich zur Quelle (= infizierte Person) ist die Ansteckungsgefahr immer am größten, weil die Dichte virusbeladener Aerosole am höchsten ist. Je weiter von der Person entfernt, desto geringer die Ansteckungsgefahr. Wenn man sich längere Zeit draußen im Luftzug stehend aufhält (Mingyu et al. 2023) oder in einem unbelüfteten Raum, wo sich virusbeladene Aerosole ansammeln können, dann kann man sich auch weiter entfernt von der Quelle anstecken (Duval et al. 2022).

Eine der gefährlichsten Keimschleudern sind öffentliche Toiletten – unbedingt Deckel runterklappen vor dem Spülen (Crimaldi et al. 2022), da das Virus sonst aerolisiert wird („fecal shedding“).

Mythos: “Corona beiseite gelassen: Bei grippalen Infekten spielen hauptsächlich Tröpfchen- und Schmierinfektion eine Rolle”

Der Vergleich verschiedener respiratorischer Erreger wie Influenza, Coxsackievirus (Hand-Fuß-Mund-Krankheit, Enteroviren), Tuberkulose (behandelt und unbehandelt), Rhinoviren, Adenoviren, SARS-CoV2 und Masern zeigt, dass 2-3 Luftwechsel pro Stunde für die meisten Viren ausreichend sind. Am leichtesten einzudämmen wäre demnach sogar Influenza. Achtung: Die Y-Achse ist logarithmisch!(Mikszewski et al. 2022)

Auch das ist ein Irrtum: Aerosole dominieren bei allen respiratorischen Infekten, nicht nur bei SARS-CoV2, darunter Influenza, Rhinoviren, RSV, Adenoviren, Enteroviren, Masern (Wang et al. 2021). Die höchste Viruskonzentration fand man wie bei SARS-CoV2 in den kleinsten Aerosolen (Gralton et al. 2013).

Daher helfen dieselben Schutzmaßnahmen. Händewaschen und Desinfektion von Oberflächen spielen eine größere Rolle bei Magendarmerkrankungen und generell in Gesundheitseinrichtungen.

Schlussfolgerung: FFP2-Masken schützen vor zahlreichen Erregern

Filter-Effizienz bei verschiedenen Aerosol-Größen von FFP2-Masken (N95), einfachen OP-Masken (Prodecure mask), Stoffmasken, Halstuch 1- und 2-lagig (gaiter), Gesichtsvisier (Face Shield), Quelle: Lindsley et al. 2020

Im Zweifelsfall schützt eine FFP2- oder FFP3-Maske am besten, und zwar nochmal deutlich besser als eine OP-Maske. Das heißt nicht, das Stoff- oder OP-Masken sinnlos sind, aber darauf verlassen würde ich mich nicht, wenn ich mich in eine potentiell risikoreiche Situation begebe.

Es heißt aber auch, dass Luftreiniger und häufiges Lüften ebenfalls effektiv vor Infektionen schützen, weil die Viruspartikel aus der Luft entfernt bzw. deren -konzentration verringert wird. Damit ist auch klar, dass die berühmte “Zugluft” nicht krankmacht, sondern im Gegenteil dafür sorgt, dass die Viruskonzentration ausgedünnt wird – außer, es stünde eine infektiöse Person im Luftstrom. Mehr zum Thema “Macht Zugluft krank?” dann im nächsten Beitrag.

Leave a comment

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.