
In Wien finden in zwei Tagen Gemeinderats- und Bezirkswahlen statt, rotgrün wird danach fortgesetzt. Wenn ich eine Prioritätenliste für die Bürger aufstellen müsste, stünde an erster Stelle genug zu Essen und zu trinken für sich und Familie, um zu überleben, dann Dach über den Kopf, Gesundheit, ein Job, Mobilität und weit abgeschlagen der Klimaschutz. Kann man diese Priorisierung verurteilen? Österreich befindet sich in der schwersten Rezession mit der höchsten Arbeitslosigkeit seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Das wird die meisten Länder der Erde betreffen.
Das Thema Job ist derzeit beinahe zweitrangig, weil in der Dauer der Pandemie bis auf die Grundversorgung ohne wirksamen Impfstoff keine Besserung in Sicht ist. Neue Jobs schaffen wird schwer, die jetzigen Jobs erhalten, wäre wichtiger. Wesentliche Stütze für Arbeitslose und Armutsbetroffene wäre jetzt eine Notstandshilfe, die ihren Namen verdient hat, besser noch ein bedingungsloses Grundeinkommen, zumindest zeitlich befristet, bis mit Erreichen einer Herdenimmunität wieder einigermaßen Normalität in der Welt eingekehrt ist und wieder neue (alt) Jobs geschaffen werden können. Wenn die Krise jetzt von vielen Firmen dazu genutzt wird, dauerhaft Arbeitsplätze einzusparen, gibt es auch nach Ende der Pandemie keine nachhaltige Erholung am Arbeitsmarkt. Die Privatisierung des Gesundheitssystems schreitet voran, dabei hätte die Pandemie ein Weckruf sein müssen, die gesundheitliche Versorgung wieder stärker dem Staat zu übertragen, statt private Testlabore, die sich eine goldene Nase an der Verunsicherung und Desinformation verdienen (ein negativer Test ist nur eine Momentaufnahme, erst zwei Tests in Folge zeigen eine Infektion an). Die Kassenfusion reißt ein Milliardenloch zusätzlich zu den steigenden Ausgaben und fehlenden Einnahmen. Wer in Kurzarbeit, Niedrigverdiener oder arbeitslos ist , kann sich eine private Krankenversicherung nicht leisten oder bekommt wegen einer Behinderung erst gar keine. Der freie Wohnungsmarkt ist in der Hand von Lobbyisten, die ihre Wünsche eins zu eins im Regierungsprogramm der schwarzblauen Vorgängerregierung fanden. Die wichtigsten Punkte mit Familie ernähren, leistbares Wohnen und eigener Gesundheit befinden sich also gänzlich in den Händen der türkisen Ministerien: Finanzen und Arbeit, denn sie legen die Höhe des Arbeitslosengelds fest, sie entscheiden darüber, welche Firmen pleite gehen werden, weil dringend benötige Zuschüsse gar nicht, verspätet oder zu wenig ausbezahlt werden. Sie werten Kleinstunternehmer geringer als Großunternehmen, schreiten aber nicht einmal ein, wenn MAN, Svarowski oder FACC hunderte Stellen abbauen. Sie zahlen von 8 Mrd. Staatshilfe bisher erst ca. 200 Mio aus. Wie viele Unternehmer hätten jetzt nicht Teil der ersten großen Pleitewelle im Herbst sein müssen? Die Grünen können bei der Mobilität punkten, das 1-2-3 Ticket für Österreich bringt deutlich vergünstigte Jahrestickets, statt für 1800 Euro nur die Bahn in ganz Österreich nutzen zu können, wird man künftig für ca. 1000 Euro alle öffentlichen Verkehrsmittel nutzen können. Eine spürbare Erleichterung für den Geldbeutel, allerdings hinkt der Ausbau der Infrastruktur deutlich hinterher und übervolle Verkehrsmittel sind zu Pandemiezeiten eher kontraproduktiv. Ob 1000 Euro oder 1800 Euro wird für zehntausende Arbeitslose aber auch egal sein, die nicht wissen, wie sie ihre Rechnungen zahlen sollen. In Summe haben die Grünen also einen Nachteil, da sie in der Bundesregierung nicht an jenen Stellschrauben drehen können, die die leidende Bevölkerung finanziell sichert, und das ist für die meisten Menschen erstmal wichtiger als langfristig zu denken, denen egal ist oder nicht verstehen, dass die Kipppunkte für eine beschleunigte Klimaerwärmung bereits jetzt erreicht sind. Arktis, Permafrost in Sibirien und Regenwald sind bereits verloren. Schadensbegrenzung wäre dringend notwendig, erfordert aber radikales Umdenken. Die Wien-Wahl wird kein Umdenken bringen, höchstens Ergebniskosmetik. Langfristig mehr Sicherheit für Fußgänger und Radfahrer wird man in der Stadt nur den Wegfall von Parkplatzstreifen bringen, um zusätzliche Radwege errichten zu können.
Nach der Wahl dürften die Maßnahmen für Wien dann deutlich verschärft werden. Seit Anfang September beträgt die Aufklärungsquote beim Contact Tracing nur magere 50%. Die Intensivbettenkapazität ist bereits zu 20% von Covid-Patienten belegt. In der Bevölkerung ist davon nichts zu merken. Die Zahl der Virusspuckscheiben nimmt zu, Handel und Gastronomie sind voll davon. Mich persönlich schreckt das ab. Ich kann nicht mehr in meinen Lieblingsgastgarten gehen, weil der Kellner ein Face Shield trägt und seinen Atemstrom direkt auf den Teller lenkt, auf dem Essen ist. Ich verkniff mir gestern in Wien-Mitte einen Einkauf beim Stand für italienische Spezialitäten, weil der Verkäufer ein Face Shield trug. Der steht da den ganzen Tag im Einkaufszentrum mit hunderten Besuchern und mehr oder weniger konsequent getragenen Masken.
Ich bin froh, wenn die Wahl endlich vorbei ist. Aber das Wien-Bashing der Regierung wird bleiben. Sie hätte schon vor Wochen Maßnahmen ergreifen können, dass die Pandemie nicht außer Kontrolle gerät. Wien selbst hat weder Einfluss auf offene Grenzen, Tourismus noch Pendler. Das kann nur in Koordinierung mit den (ÖVP- geführten) Bundesländern und der Bundesregierung passieren. Jetzt die Schuld den geringen Testkapazitäten in die Schuhe zu schieben, ist mir zu einfach gedacht. Wenn sich die Zahl der nachzuverfolgenden Sozialkontakte über den Sommer fast verzehnfacht, dann wird klar, dass weder Test- noch Tracing-Kapazitäten mithalten können. Da liegt es dann eben an jedem Einzelnen, Cluster-Situationen zu meiden und so die Zahl potentieller Kontakte zu verringern, wo es möglich ist.