


Der Abend des 21. Juli 2022 markierte einen denkwürdigen Einblick in das wissenschaftliche Verständnis des amtierenden Gesundheitsministers Johannes Rauch. Er behauptete, dass es bei Kindern und Jugendlichen eine Zunahme von 25% bei psychischen Erkrankungen und Suizidalität geben würde und führte diese “verheerenden Kollateralschäden” als Grund dafür an, “warum ich bei Corona-Maßnahmen ans untere Ende gehe, was epidemiologisch noch vertretbar ist.”
Auf Nachfrage, wie er dazu komme, dass die Ursache für diese Zunahme die Maßnahmen sein würden, antwortete Rauch mit einem Link zur Google Scholar-Suche (“Ausschnitt!!”). Ö1-Journalistin Tanja Malle hat sich die Mühe gemacht, die ersten zehn Treffer der Suche anzuschauen: Keine einzige der verlinkten Studien empfahl die Aufgabe der Schutzmaßnahmen, um psychischen Stress zu reduzieren!
Zur Untermauerung legte Rauch nach:
“Führe seit Wochen Gespräche mit Menschen, die im Feld tätig sind. Berichten unisono das Gegenteil. Zuletzt gestern m den sozial- u Beratungseinrichtungen in Vbg. Schilderungen zT dramatisch.”
Tyler Black, ein international ausgewiesener Suizidforscher, Notfallpsychologe und Pharmakologe entgegnete so:
“I would suggest that that the Austrian minister that makes this claim supplies the evidence for the claim, because it is counter to pretty much all of the evidence we have. Regional variations in suicidal numbers are normal. Sir, i’ve been battling this particular moral panic for 2 years now. It is full of “people sharing stories” and “talking about it,” and then when the data is published, a decrease/no change. Please please please let the data speak to you. no matter how many people have told you, we have been looking at suicides in youth in a variety of jurisdictions across the globe. of course there is some variation, but whenever there is a deviation from previous trends, typically, it is LOWER not higher.”
Thomas Finch, Psychiater, bedankte sich für die Unterstützung:
“I so appreciate your work here because you’re doing the near impossible task of disproving what has become mythology There is zero evidence of these claims They are essentially conspiratorial So thank you for trying here.”

Die mutmaßliche WHO-Meldung, auf die sich Rauch bezieht, zeigt aber 25% Anstieg über alle Altersgruppen, nicht nur bei Kindern und Jugendlichen. Als Ursachen werden multiple Gründe angeführt, Maßnahmen sind nur ein Baustein:
“Loneliness, fear of infection, suffering and death for oneself and for loved ones, grief after bereavement and financial worries have also all been cited as stressors leading to anxiety and depression. Among health workers, exhaustion has been a major trigger for suicidal thinking.”
Besonders betroffen sind Menschen, die schon vorher psychische Grunderkrankungen hatten. Auch dort steht nichts davon, dass die Aufhebung der Absonderung empfohlen würde, um Stressfaktoren auszuschalten. Experten fordern vielmehr einen massiven Ausbau an Therapieplätzen für Betroffene, wie in diesem gut gemachten Puls24-Bericht.
Eine exzellente Zusammenfassung der Twitterdebatte hat der STANDARD geliefert. Es sind aber nicht nur die offenkundigen Falschmeldungen, die hier erschüttern, sondern auch, dass Rauch davon ausging, dass die Suchbegriffe “psychische Erkrankungen Kinder COVID” klar zeigen würden, dass die Maßnahmen zu den psychischen Folgen geführt hätten. Rauch ging offenbar davon aus, dass beliebige Treffer seiner Googlesuche seine falsche Behauptung zu 100% stützen würden. Er weiß also nichts über die Vielschichtigkeit der Faktoren, die zum Anstieg psychischer Erkrankungen bei Kindern führen. Seine Berater haben ihm entweder aus Inkompetenz oder ideologischen Hintergründen (Interessenskonflikte, Schwurbler) falsche Informationen zukommen lassen. Citizen Journalist-Kollegin Shirley hat das in einem Thread messerscharf zusammengefasst und bringt es auf den Punkt:
“Diese “Episode” zeigt, dass die festen Überzeugungen von Rauch nicht durch seriöse Evidenz entstehen, sondern durch anekdotische Eindrücke und Einflüsterer, die ihm aus eigener Desinformiertheit oder vorsätzlich ein falsches Bild vermitteln. Brandgefährlich.”
Für mich war die Argumentation natürlich nicht neu. Ich kannte seinen persönlichen Blog und insbesondere den Eintrag vom 31. Jänner 2022, 10 Tage vor Amtsantritt, in dem er bereits exakt jene Ansichten vertrat, die er seitdem immer wieder unverhohlen durchblicken ließ: Eine absurde Abneigung gegen Masken, die Unterstellung, dass die Maßnahmen für die psychische Belastung bei Kindern und Jugendlichen verantwortlich wäre, die Ablehnung der Impfpflicht (nicht einmal für Gesundheitspersonal) und die Forderung, entstandene Gräben zuzuschütten, womit wohl am ehesten die Gräben in der eigenen Partei mit den “Grünen gegen Impfpflicht” und der MFG gemeint waren – also das Rückholen verlorener Wählerstimmen.
Rauch hat seitdem mehrfach geäußert, dass er (vermeintliche) Kollateralschäden wesentlich höher gewichtet als andere Faktoren, wie die Durchseuchung der Kinder, LongCOVID-Fälle, Tod eines oder beider Elternteile wegen Covid, unzählige Krankheitstage und Schulfehlzeiten, etc. Über den “Fall der Maske – auch bei den Grünen” habe ich schon am 25. Mai 2022 (Tag 805) berichtet. Ausführlicher zu Rauch auch am 21. Juni 2022 (Tag 833), wo ich seinen Sinneswandel in der Pandemiepolitik nachvollzogen habe – von vorsichtigen wissenschaftsbasierten Äußerungen zum Schwurbel.
Im zuletzt zitierten Eintrag erwähnte ich auch mein Gespräch mit einem Kabinettsmitarbeiter von Kogler, der die identische Haltung wie Rauch vertrat, was die vermeintliche “Verhältnismäßigkeit” von Maßnahmen betraf. Aus meinem Gedächtnisprotokoll vom 8. Juni 2022:
Bei der Zuständigkeit von Maßnahmen für Schulen schieben Polaschek und Rauch sich öffentlich gegenseitig die Verantwortung zu. Offenbar ist es so, dass sie sich im beiderseitigen Einvernehmen ausmachen, was in den Schulen gilt. Da es kaum Maßnahmen gibt und auch laut den Aussagen Rauchs und aus dem Kabinett Koglers, gewichten sie die psychische Belastung durch Lockdowns offenbar höher als das Erkrankungsrisiko der Kinder selbst (bzw. deren Geschwister und Eltern). Durchseuchung habe es nie gegeben, den Begriff wies er entschieden zurück.“
Angesprochen auf das Thema NPIs in Schulen, insbesondere Luftreiniger und Lüftungsanlagen, sagte er sinngemäß:
„Und irgendwo auf der Welt gibts immer einen Wissenschaftler, der irgendwas sagt und glaubt, so ist das.“
Daraus sprach die ganze Verachtung der Wissenschaft und False Balance, die die Grünen (und ÖVP) in der Regierung betreiben. Zu glauben, Wissenschaft bestünde nur aus Meinungen, für die man seine gewünschten Experten finden müsse. Evidenz besteht aber aus tausenden Erfahrungen, die zu einem Geflecht von Fakten führen und einen wissenschaftlichen Mehrheitskonsens ergeben, und nicht aus Einzelmeinungen, die auf einer einzelnen Studie, auf Anekdoten oder purem Glauben beruhen.
Rauch am 19.04.22 auf Twitter: „Fakt ist: Ich bewege mich auf dem Fundament von Expertise (Wissenschaftlichkeit) und Verhältnismäßigkeit (Verfassungskonformität).“
Fakt ist, mit dem 21. Juli 2022 hat dieses Fundament gehörige Risse bekommen.
Fakt ist, Rauch hat die gut gemachte Informationsveranstaltung “Science for Resilience” in Wien nicht besucht, am gleichen Tag fiel der Beschluss, die Maskenpflicht ab Juni aufzuheben. Anfang Juni 2022 fand dafür der 12. Österreichische Gesundheitswirtschaftskongress statt. Eröffnungsrede von Rauch. Der allerallererste Themenblock: „Unser Gesundheitssystem: Analyse nach der Pandemie. Was nehmen wir mit?“ — u.a. mit Public Health Graz alias Martin Sprenger. Sprenger wurde damals im Februar 2021 von den NEOS für den Gesundheitsausschuss nominiert, wirkte in zahlreichen Covidleugnerfilmen mit und verbreitet schwurbeligen Unsinn.
Ich hab mich bei meiner Recherche gefragt, was zwischen dem 29.11.21, wo er noch eine Abschrift von Wissenschaftlern zu LongCOVID auf seinem Blog veröffentlichte, und dem 31.01.22, als er fast prophetisch die Eckpunkte seiner Coronaverharmloserpolitik aufzählte, passiert ist.
Eine mögliche Erklärung liefert diese Präsentation vom 17.11.21, mit der die Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) “Gemeinsam zurück in die Normalität” wollte:

Vortragsrednerin war Rosemarie Felder-Puig von der Donau-Uni Krems, die auch schon gemeinsam mit Epidemiologe Gartlehner publiziert hat (z.B. 2008, 2009). Felder-Puig ist nationale Leiterin der Health
Behaviour in School-aged Children (HBSC) Studie und Koordinatorin der Kompetenzgruppe Kinder- und Jugendgesundheit der Österreichischen Gesellschaft für Public Health.
Eine parlamentarische Anfrage an das Bildungsministerium wurde am 9.4.2021 folgendermaßen beantwortet:

Zwischen “keinerlei Maßnahmen mehr” und “Schulschließungen” passt jedenfalls weder im Bildungsministerium noch im Gesundheitsministerium ein Blatt Papier. Grautöne wie Maske tragen, Luftfilter, Tests, Impfkampagne kommen nicht vor. Es gibt nur die völlige Verleugnung, dass Kinder und Jugendliche wiederholt (!) durchseucht werden und keine Herdenimmunität existiert.
Klarer Fall von Logorhö der Mann. Wenn ich nicht weiter weiß, mülle ich mein Gegenüber mit Halbgarem zu und warte bis er mir den Sinn im Chaos meiner eigenen Ausführungen nachweist.
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